„Es ist Zeit für mich zu gehen“: Wie mein Vater selbstbestimmt aus dem Leben geschieden ist

Kirchen/Eiserfeld. Der Tod der Kessler-Zwillinge hat mich berührt – obwohl sie in meinem kulturellen Kosmos nie eine Rolle gespielt haben. Aber die Nachricht, dass die beiden alten Damen gleichzeitig gestorben sind, hat in meinem Kopf sofort vier Buchstaben geformt: DGHS.
Das Kürzel steht für die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben. Und tatsächlich ist unmittelbar nach dem Tod der Kessler-Zwillinge bekannt geworden, dass die beiden Frauen mithilfe der DGHS selbstbestimmt aus dem Leben geschieden sind.
Eine mutige Entscheidung
Mit ihrem Abschiedsbrief haben sie die Öffentlichkeit posthum an ihrem Sterben teilhaben lassen – in meinen Augen ist das eine ebenso mutige wie richtige Entscheidung. Denn ich habe hautnah erlebt, wie wertvoll Sterbehilfeorganisationen wie die DGHS sein können. Und ich weiß aus unzähligen Gesprächen, dass viel zu wenigen Menschen bekannt ist, dass auch in Deutschland ein selbstbestimmter Abschied aus dem Leben möglich ist.
Das hier ist meine ganz persönliche Geschichte von Alter und Krankheit, vom Sterben und damit auch von der DGHS. Die Hauptfigur ist mein Vater, und wir haben vor seinem Tod auch darüber gesprochen, dass ich als Journalist irgendwann seine Geschichte erzählen werde. Dank der Kessler-Zwillinge ist irgendwann jetzt.
Ein Satz, den ich nie vergessen werde
„Ich habe einen Termin vereinbart“: Mein Vater hat im Laufe seines Lebens wahrscheinlich hunderttausende Sätze zu mir gesagt – diesen einen werde ich nie vergessen. Denn ich wusste nur zu gut, welchen Termin er gemeint hat: den seines Todes.
Mit einem Schlag ist die Endgültigkeit über uns hereingebrochen: Wir wussten, dass von jetzt an nur noch sechs Wochen bleiben.
Daniel Montanus
Redakteur
Mit einem einzigen Satz ist aus Gedankenspielen plötzlich die Wirklichkeit geworden – und zwar eine brutale Wirklichkeit. Mit einem Schlag ist die Endgültigkeit über uns hereingebrochen: Wir wussten, dass von jetzt an nur noch sechs Wochen bleiben.
Noch liegt der Tod in weiter Ferne
Natürlich haben wir im Vorfeld immer wieder über Sterbehilfe gesprochen. Die Entscheidung, selbstbestimmt zu gehen, hat mein Vater schon vor Jahren getroffen. Er hat damals mitansehen müssen, wie meine Mutter, vom Krebs überwältigt, im Krankenhaus nur noch auf die Erlösung gewartet hat. „So will ich nicht sterben“, hat er immer wieder gesagt.
Aber da lag sein Sterben noch in weiter Ferne: Mein Vater war noch richtig fit. Er ist nach dem Tod meiner Mutter sogar umgezogen, in ein kleines Häuschen näher bei uns und den Enkelkindern.
Krebsdiagnose ändert alles
Es ging ihm gut – bis zur Krebsdiagnose im Sommer 2024. Mit seinen 80 Jahren hat er eine Sieben-Stunden-Operation über sich ergehen lassen, trotzdem war anschließend nichts mehr wie vorher. Und geheilt war er nicht. „Wir müssen von Mikrometastasen im Blut ausgehen. Wenn Ihr Vater jetzt keine Chemotherapie macht, dann wird der Krebs in einem halben Jahr zurück sein“: Noch so ein Satz, der sich in meinen Kopf eingebrannt hat.
Eine Chemo war für meinen Vater keine Option: Er wollte das letzte Stück seines Lebenswegs ohne Krankenhaus, ohne Medikamente, ohne Nebenwirkungen gehen.
Daniel Montanus
Redakteur
Eine Chemo war für meinen Vater keine Option: Er wollte das letzte Stück seines Lebenswegs ohne Krankenhaus, ohne Medikamente, ohne Nebenwirkungen gehen. Also haben wir einen Pflegedienst aktiviert, uns noch häufiger gesehen als zuvor. Und zugleich haben wir gemeinsam recherchiert, ob es Alternativen zum Freitod in der Schweiz gibt.
Es gibt Hilfe auf dem letzten Stückchen Weg
Die gibt es: Seit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2020 dürfen Sterbehilfeorganisationen in Deutschland Menschen beim Suizid assistieren. Wer alle Alternativen geprüft hat und dann selbstbestimmt und dauerhaft entscheidet, dass er aus dem Leben scheiden will, darf dabei professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.

Deutschland ist ein buntes Land. Für diese Rubrik recherchieren wir für Sie bewegende Geschichten aus ganz Deutschland. Nicht Ost, nicht West, nicht links, nicht rechts, sondern das echte Leben in seiner ganzen inspirierenden Fülle – Echt Deutschland.
Also ist mein Vater Mitglied in der DGHS geworden. Und die Prognose des Klinikarztes hat sich bewahrheitet: Der Krebs ist zurückgekehrt. Noch ein Satz für die Ewigkeit, diesmal vom Hausarzt: „Ihr Vater ist ein Tumorpatient im Endstadium. Alles, was jetzt kommt, wird schlechter werden.“
Sechs Wochen Endgültigkeit
Das hat mein Vater gespürt, an guten Tagen weniger, an schlechten Tagen mehr. Im Sommer hat er seinen Antrag auf Suizidbegleitung gestellt, wenige Wochen später kam dann sein Satz: „Ich habe einen Termin vereinbart.“
Im Rückblick waren die sechs Wochen vor seinem Tod eine echte Belastungsprobe – weniger für meinen Vater, mehr für uns. Meinem Vater hat die Klarheit gutgetan, er hat nicht ein einziges Mal Zweifel an seiner Entscheidung geäußert.
Wie geht man als Angehöriger mit dieser unumstößlichen Endlichkeit um? Wann sagen wir den Kindern, dass ihr Opi bald stirbt? Und wenn wir meinen Vater treffen, reden wir dann darüber, oder blenden wir es aus?
Daniel Montanus
Redakteur
Auch wir haben nicht gezweifelt. Aber wie geht man als Angehöriger mit dieser unumstößlichen Endlichkeit um? Diese Frage haben meine Partnerin und ich uns hundertmal gestellt. Fahren wir nochmal mit ihm ans Meer? Wann sagen wir den Kindern, dass ihr Opi bald stirbt? Sollen wir jetzt schon mit der Bestatterin und der Trauerrednerin sprechen? Und wenn wir meinen Vater treffen, reden wir dann darüber, oder blenden wir es aus?
So viel Normalität wie möglich
Wir haben gemeinsam entschieden, der Normalität so viel Raum zu geben wie möglich. Manchmal haben wir mit ihm über den Tod gesprochen, manchmal auch nur darüber, ob er noch genug Milch im Kühlschrank hat. Wir haben seine Beerdigung vorbereitet, weil wir geahnt haben, dass das nach dem Tod nur noch schwerer sein würde. Wir haben den Kindern nichts gesagt, aber dafür gesorgt, dass sie noch genug Zeit mit ihrem Opi verbringen können.
Aber nicht immer hat die Normalität getragen, natürlich hat es Tage gegeben, die wehgetan haben, und Nächte, in denen die Gedanken gekreist sind. Und je näher der Termin gerückt ist, desto präsenter wurde er.
„Es ist Zeit für mich zu gehen“
Mein Vater hat weitergemacht wie immer, hat seine Wäsche gewaschen, ist zum Einkaufen gefahren, hat das Wohnzimmer gestaubsaugt. Wenn wir über den Termin gesprochen haben, hat er immer gesagt, dass es gut ist: „Es ist Zeit für mich zu gehen.“
An seinem letzten Tag sind wir morgens noch zusammen mit dem Hund spazieren gegangen. Wir haben geredet, wir haben gelacht, wir haben uns in den Arm genommen.
Daniel Montanus
Redakteur
An seinem letzten Tag sind wir morgens noch zusammen mit dem Hund spazieren gegangen. Wir haben geredet, wir haben gelacht, wir haben uns in den Arm genommen. Während ich den Hund zu Hause abgeliefert habe, ist er in sein Häuschen gefahren und hat sich Fischstäbchen gebraten. Und dann sind der Arzt und die Rechtsanwältin von der DGHS gekommen.
Ein Abschied voller Würde
Gestorben ist er im Wohnzimmer – nicht im Krankenhaus. Der Arzt hat ihm einen Zugang gelegt, das Narkosemedikament hat mein Vater sich selbst injiziert. Meine Partnerin und ich haben danebengesessen, ich habe seine Hand gehalten. „Jetzt spür ich was“, hat er nach ein, zwei Minuten gesagt. Dann sind seine Augen zugefallen, sein Pulsschlag ist immer schwächer geworden. Am Ende ist er ganz friedlich eingeschlafen. Ich habe noch eine halbe Stunde neben ihm gesessen.
Weil es sich nicht um einen natürlichen Todesfall gehandelt hat, musste die Polizei gerufen werden – das hat die DGHS übernommen: So konnte ich mir diese Eindrücke ersparen und das Bild im Kopf behalten, das mich auch durch die Zeit nach seinem Tod getragen hat. Das Bild eines alten Mannes am Ende seines Weges, der ganz sanft und würdevoll aus dem Leben geschieden ist. Genau so, wie er es sich gewünscht hat.
„Wir sehen uns wieder auf Wolke 7“: Das haben die Kessler-Zwillinge in ihrem Abschiedsbrief geschrieben. Vielleicht begegnet ihnen dort ja auch mein Vater.
Haben Sie Suizidgedanken? Dann wenden Sie sich bitte an folgende Rufnummern: Telefonhotline (kostenfrei, 24 h), auch Auskunft über lokale Hilfsdienste: (0800) 111 0 111 (ev.); (0800) 111 0 222 (rk.); (0800) 111 0 333 (für Kinder/Jugendliche); E‑Mail unter www.telefonseelsorge.de


