Mythos Kursk: Warum die ukrainische Offensive für Putin eine so große Blamage ist
Am 6. August überraschte die zuvor wochenlang in Rückzugsgefechte verwickelte ukrainische Armee die russischen Aggressoren und die Welt mit einer Offensive bis weit auf russisches Territorium. Ziel war die Oblast Kursk mit der gleichnamigen Stadt im Zentrum. Kursk, werden da viele Geschichtsinteressierte gedacht haben, war da nicht was?
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„Für die Sowjetunion und auch für das heutige Russland hat Kursk eine enorme symbolische Bedeutung und das hängt natürlich mit dem Zweiten Weltkrieg zusammen, der dort bis heute ‚Großer Vaterländischer Krieg‘ genannt wird“, sagt der Historiker Roman Töppel, der mit dem Buch „Kursk 1943: Die größte Schlacht des Zweiten Weltkriegs“, erschienen 2017 bei Brill Schöningh, das Standardwerk zum Thema geschrieben hat.
Kursk hat diese enorme symbolische Bedeutung auch deswegen, weil es als die größte Panzerschlacht des Zweiten Weltkrieges gilt.
Roman Töppel,
Historiker und Buchautor
„Laut der sowjetischen Geschichtsschreibung und auch der offiziellen russischen Geschichtsschreibung gab es drei entscheidende Schlachten des Zweiten Weltkriegs: Das waren die Schlacht bei Moskau 1941, die Schlacht bei Stalingrad an der Jahreswende 1942 und eben Kursk 1943″, so der Historiker zum RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Kursk hat diese enorme symbolische Bedeutung auch deswegen, weil es als die größte Panzerschlacht des Zweiten Weltkrieges gilt“, so der Historiker.
Mehr als 10.000 Panzer an der Schlacht beteiligt
Hintergrund: Fast zwei Jahre nach dem Überfall des Deutschen Reiches auf die Sowjetunion versuchte die Wehrmacht in einem gewaltigen, auf überlegenen Waffen basierenden Kraftakt, im Krieg die Initiative zurückzugewinnen. Ein weit in das von den Deutschen besetzte Gebiet hineinragender sowjetischer Frontbogen scheint dafür eine ideale Voraussetzung zu sein. Es folgt ein Gemetzel der Superlative: 50 Tage tobt die größte Schlacht des Zweiten Weltkriegs und bis heute die größte Panzerschlacht in der Geschichte. Mehr als 10.000 Panzer und Selbstfahrlafetten sowie 7000 Flugzeuge treffen aufeinander.
„Die Russen sind bis heute besonders stolz darauf, dass es ihnen bei Kursk erstmals gelang, die Wehrmacht bei einer Sommeroffensive zu stoppen und ihr eine schwere Niederlage beizubringen“, erläutert Roman Töppel, denn bis dahin hätte es stets geheißen, „die Russen seien im Winter überlegen, weil ihnen das Klima zugutekäme und die Deutschen die Überlegenheit ihrer Technik nicht ausspielen könnten“.
Mit enormen Verlusten erkauft
Der ganze Stolz der sowjetischen und russischen Geschichtsschreibung basiere daher auf dem Gefühl, „der Wehrmacht auch trotz ihrer überlegenen Waffen, der neuen Panzer vom Typ Tiger und Panther, eine schwere Niederlage zugefügt zu haben, die dann letztendlich auch in Deutschland zur Einsicht führte, der Zweite Weltkrieg sei militärisch an der Ostfront nicht mehr zu gewinnen“, so der Historiker Töppel.
Einerseits ist Kursk also als Symbol eine historische Tatsache, anderseits aber auch ein Mythos, der propagandistisch gebeugt und überhöht wurde. Töppel: „Was zu Zeiten des Kalten Krieges nicht erwähnt wurde, weil es nicht ins sowjetische Narrativ passte, waren die enormen Verluste, mit denen sich die Rote Armee diesen Sieg erkauft hat – ein Fakt, den viele Russen bis heute nicht wahrhaben wollen.“
So betrugen die Verluste bei den sowjetischen Panzern, die Töppel auch in seinem Buch beziffert, „das Sechs- bis Achtfache der deutschen. Gleichzeitig ist bis heute nicht geklärt, wie hoch die tatsächlichen personellen Verluste der Roten Armee in der Schlacht von Kursk waren“.
So sprächen offizielle russische Stellen laut Töppel von 863.000 gefallenen, verwundeten oder vermissten sowjetischen Soldaten in der 50-tägigen Schlacht. „Ich bin in meinem Buch sehr vorsichtig, habe die offiziellen Zahlen einer kritischen Prüfung unterzogen und komme dabei auf personelle Verluste der sowjetischen Armee in Höhe von 1,2 Millionen Soldaten“, so Töppel, wobei kritische russische Historiker sogar von bis zu 1,6 Millionen Toten und Schwerverwundeten ausgehen. Die deutschen Verluste, die recht gut dokumentiert seien, beziffert der Historiker mit etwa 200.000 – was einem Verlustverhältnis von eins zu sechs entspricht.
Mehr als 70 russische Ortschaften stehen unter ukrainischer Kontrolle
Für die heutigen Menschen in Russland, aber auch in der Ukraine hat Kursk daher eine enorme Symbolkraft. „Für Russland ist der sogenannte Große Vaterländische Krieg eine der zentralen, identitätsstiftenden Mythen“, erklärt Roman Töppel. „Vorher war man Opfer Stalins, konnte darüber nicht sprechen, doch im Krieg galt für alle, dass sie zu Opfern der faschistischen Okkupanten wurden – und diese in einem gemeinsamen Kraftakt besiegten“, so der Historiker.
Und wer an diesem Mythos kratzt, indem er zum Beispiel sowjetische Opferzahlen untersucht und in die Debatte einbringt, „der wird von der russischen Seite mitunter als Geschichtsfälscher oder noch schlimmer als NS-Apologet denunziert“, so der Historiker Töppel aus eigener Erfahrung.
Blamage und Motivation gleichzeitig
Was kann, was muss das bei Russlands Präsidenten Wladimir Putin auslösen, der ja keine Gelegenheit auslässt, seine neoimperialistischen Gelüste mit vermeintlichen historischen Ansprüchen zu rechtfertigen? „Ich kann nur spekulieren, aber man kann davon ausgehen, dass Kursk als Symbol bei beiden Kriegsparteien eine Rolle spielt“, ist Töppel überzeugt.
„Aus russischer Perspektive ist es überhaupt das erste Mal seit dem ‚Großen Vaterländischen Krieg‘, dass feindliche Truppen das eigene Territorium betreten“, so der Historiker. Dass das nun ausgerechnet in der Oblast Kursk geschehe, ist laut Töppel „einerseits eine riesige Blamage, könnte andererseits motivierend wirken. Nach dem Motto: Wir haben die Feinde, damals Faschisten, heute ‚ukrainische Nazis‘, schon einmal in einer großen Sommeroffensive bei Kursk geschlagen, das wiederholen wir.“
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Zur vollständigen AnsichtWeniger aus historischer, dafür aber militärisch-strategischer Perspektive verbindet der Historiker in „Kursk“ für die ukrainische Seite die Hoffnung auf einen Paradigmenwechsel: „Ein Abnutzungskrieg, den die Ukraine nicht gewinnen kann, weil sie, sowohl was die Zahl der Soldaten betrifft, als auch aus materieller Sicht unterlegen ist, der wieder in einen Bewegungskrieg übergeht.“
Dass der ukrainische Vorstoß ausgerechnet auf Kursk zielt und jetzt weltweit über die historische Dimension dieser symbolträchtigen Weltkriegsschlacht berichtet wird – das kann Putin nicht gefallen.
Roman Töppel,
Historiker und Buchautor
Für Putin, Oberbefehlshaber der russischen Armee, „Erfinder“ dieses Angriffskrieges und selbsternannter Vollstrecker einer historischen Mission, ist die ukrainische Offensive auf Kursk eine riesige Demütigung. Entsprechend schmallippig und gereizt waren seine ersten Reaktionen. „Das ist für Putin eine riesige Blamage“, ist Roman Töppel überzeugt, „zumal er sich ja bis heute weigert, diesen Krieg einen Krieg zu nennen. Dass der ukrainische Vorstoß ausgerechnet auf Kursk zielt und jetzt weltweit über die historische Dimension dieser symbolträchtigen Weltkriegsschlacht berichtet wird – das kann Putin nicht gefallen.“
Falls Putin abergläubig ist, wird der Name Kursk in ihm auch andere Erinnerungen wachrufen: Am 12. August 2000 sank das Atom-U-Boot K-141, getauft auf den Namen „Kursk“, mit allen 118 Besatzungsmitgliedern. Doch der damals frisch ins Amt gewählte „Hoffnungsträger“ Putin reagierte in sowjetischer Tradition: zuerst gar nicht, dann mit einer sinnlosen Geschäftigkeit. Hilfsangebote des Westens wurden abgelehnt, Putins Image war ramponiert.
„Es war der symbolische Beginn seiner Herrschaft. Kursk ist Putins Ende, die Katastrophe seines Krieges“, schrieb pünktlich zum 24. Jahrestag auf X jemand: der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj.