Tote Widersacher pflastern Putins Weg
Was unterscheidet die russische Autokratie von der Sowjetunion der Nach-Stalin-Ära? Die Sowjetunion ließ ihre Kritikerinnen und Kritiker, damals Dissidentinnen und Dissidenten genannt, überwiegend leben, schob sie in psychiatrische Einrichtungen, Gefängnisse oder die Verbannung ab, von wo aus sie dann auf eine Ausreise in den Westen hoffen konnten, wie vor fast genau 50 Jahren der Schriftsteller Alexander Solschenizyn („Der Archipel Gulag“).
Im Russland des 21. Jahrhunderts müssen Kritikerinnen und Kritiker von Präsident Wladimir Putin mit ihrer physischen Vernichtung rechnen – und die Liste ist lang, hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit und jetzt mit Alexej Nawalny einen weiteren prominenten Namen.
Prigoschins dreitägiger Aufstand
Ein echter „Kremlkritiker“ oder gar Oppositioneller war Jewgeni Prigoschin, Chef der privaten Söldnerarmee Gruppe Wagner nicht, als er am 23. August 2023 auf dem Flug von Moskau nach St. Petersburg mit zehn Personen an Bord unter ungeklärten Umständen in einem Geschäftsflugzeug abstürzte. Doch Prigoschin hatte auf geradezu ungeheuerliche Weise Putin herausgefordert – indem er, mit bis zu 50.000 Wagner-Kämpfern aus dem ukrainischen Frontgebiet kommend, mit einer gepanzerten Kolonne in Richtung Moskau aufgebrochen war. Erklärtes Ziel war nicht Putins Sturz, sondern ein Wechsel an der Spitze der Armeeführung, so Prigoschin damals. Nach kurzen Gefechten seiner Truppen mit russischen Hubschraubern, sechs davon wurden abgeschossen, erreichten Prigoschins Aufständische Woronesch.
Kurz vor Moskau ließ sich der ehemalige Putin-Vertraute vom belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko jedoch aus bis heute unerklärlichen Gründen zur Aufgabe bewegen – angeblich unter gesichtswahrenden Bedingungen für die ehemalige Privatarmee. Ihre Demilitarisierung und Eingliederung in die russischen Streitkräfte – diese Forderung Moskaus bildete den eigentlich Auslöser des Aufstands – erfolgte dennoch. Das tragische Ende des 62-Jährigen genau zwei Monate nach dem Aufstand überraschte daher kaum, zumal er Putin auch öffentlich des „Verrats“ bezichtigte.
Todesschüsse auf Nemzow
Boris Nemzow war Demokrat, saß über Jahre als Abgeordneter der liberalen Partei in der Duma, er hatte wirtschaftlichen Sachverstand und kritisierte Putin massiv – hatte aber nur noch begrenzten politischen Einfluss. 2012 hatte seine Partei den Einzug in die Duma knapp verpasst, sodass er als Provinzpolitiker in der Region Jaroslawl wirkte. Und dennoch stellte er offenbar für die Mächtigen ein Problem dar, das es zu beseitigen galt. Am 27. Februar 2015 starb er auf der Großen Moskwa-Brücke im Zentrum Moskaus. Die allgegenwärtigen Überwachungskameras wurden an jener Stelle just im Moment der Todesschüsse von einem Fahrzeug der Stadtreinigung gestört. Wer bei Nemzows Mord die Fäden zog, wurde nie aufgeklärt.
Anna Politkowskajas Tod an Putins Geburtstag
Zu einer Zeit, als Wladimir Putins Russland noch ein im Westen geschätzter Partner war, deckte eine Journalistin, die lange Zeit im Westen gelebt hatte, schwerste Menschenrechtsverletzungen der russischen Armee in Tschetschenien auf. Das war ein schwerer Schlag gegen das System Putin, weil für den ehemaligen KGB-Agenten und damaligen Ministerpräsidenten 1999 die „Lösung“ des „Tschetschenien-Problems“ zum Gesellenstück seines Anspruchs auf das Präsidentenamt wurde. Der von Putin entfachte Zweite Tschetschenienkrieg, der im Westen kaum wahrgenommen wurde, kostete 50.000 bis 80.000 Menschenleben. Politkowskajas Enthüllungen störten das Bild von der neuen Großmacht Russland, die sich als globaler Partner anbot. Am 7. Oktober 2006 wurde die 48-jährige Journalistin in ihrer Wohnung in Moskau erschossen. Zufall? Es war Putins 54. Geburtstag.
Überläufer Litwinenko wurde mit Polonium vergiftet
Als ehemaliger Agent des ehemaligen sowjetischen Geheimdienstes (KGB), dem auch Putin entstammt, fühlte sich Alexander Litwinenko in London sicher. Sechs Jahre lebte er bereits in der britischen Hauptstadt, galt als auskunftsfreudiger und gut informierter Insider. Das wurde ihm zum Verhängnis: Am 23. November 2006 starb er 44-jährig in einem Londoner Hotel, genau sechs Jahre nach seiner Flucht. Er hatte einen mit hochradioaktivem Polonium-210 vergifteten Tee getrunken. Britische Behörden gehen davon aus, dass der Kreml hinter der Tat steht.
Skripal wurde mit Nowitschok vergiftet - und überlebte
Ein ähnliches Schicksal widerfuhr dem ehemaligen KGB-Oberst Sergej Skripal, der auch für den russischen Militärnachrichtendienstes GRU tätig war. Am 4. März 2018 fanden Passantinnen und Passanten den 72-Jährigen zusammen mit seiner Tochter bewusstlos auf einer Parkbank. Im Krankenhaus stellte sich heraus, beide waren vergiftet worden – mit Nowitschok, einem chemischen Kampfstoff, der einst vom sowjetischen Militär entwickelt wurde. Beide überlebten den Angriff. Ein Fall zu viel – zwischen London und Moskau herrscht seitdem Eiszeit.
Mysteriöse Fensterstürze seit Beginn des Ukraine-Krieges
Seit Beginn des Ukraine-Kriegs, aber auch schon in den Jahren davor, häufen sich in Russland mysteriöse Todesfälle, denen vor allem Journalistinnen, Journalisten, Bloggerinnen, Blogger, Wirtschaftsbosse, aber auch besonders häufig Ärztinnen und Ärzte zum Opfer fallen. Viele stürzen aus unerklärlichen Ursachen aus Fenstern, englisch wird das Phänomen Defenestration genannt.
Der russische Politiker Pawel Antow kritisierte den Krieg gegen die Ukraine, bezeichnete die Bombardierungen des Nachbarlandes gar als Terrorismus. Am 24. Dezember 2022 starb der 65-jährige Antow nach einem Sturz aus seinem Hotelzimmer im indischen Rayagada.
Rawil Maganow, Vorstandschef des zweitgrößten russischen Ölkonzerns Lukoil, fiel Anfang September 2022 aus dem Fenster im sechsten Stockwerk des Moskauer Zentralkrankenhauses, in dem normalerweise die Elite aus Politik und Wirtschaft behandelt wird. Der 67-Jährige war nach einem Herzinfarkt eingeliefert worden, wurde zudem mit Antidepressiva behandelt, wodurch als Todesursache schnell Suizid festzustehen schien, so zumindest behauptet es die staatliche Agentur Interfax unter Berufung auf die Polizei.
Maganow war ein enger Mitarbeiter von Vagit Alekperow, einem der Lukoil-Gründer und der ehemalige sowjetische Vizeölminister. Der war nach Beginn des Ukraine-Krieges zurückgetreten. Im Mai war schon ein Lukoil-Manager gestorben – Alexander Subbotin. Offizielle Todesursache: Eine öffentlich nicht näher beschriebene „okkulte Behandlung“, auf die er sich angeblich wegen seiner Alkoholsucht eingelassen hatte, geriet wohl irgendwie aus dem Ruder.
Laut CNN starben zwischen Ende Januar und Mitte September 2022 mindestens acht prominente russische Geschäftsleute durch Suizid oder bei noch ungeklärten Unfällen, allein sechs von ihnen entstammen dem Dunstkreis der beiden größten Energieunternehmen Russlands. Vier dieser sechs standen mit dem staatlichen Energieriesen Gazprom oder einer seiner Tochtergesellschaften in Verbindung, die anderen zwei mit Lukoil. Vor allem in der Konzernspitze von Lukoil gab es zu Beginn des Krieges deutlichen Unmut über Putins Kurs.
Europäische Atomwaffen: „Das sind absurde Gedankenspiele“
Angesichts jüngster Drohungen Donald Trumps, die USA könnten sich künftig im Nato-Bündnisfall zurückhalten, schmieden EU-Politikerinnen und -Politiker in Gedanken bereits europäische Atomwaffen. Der frühere Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik hält ihnen Ahnungslosigkeit vor. Aber wer könnte überhaupt in der EU über den Einsatz von Atomwaffen entscheiden?
Igor Wolobujew, langjähriger Vizechef der Gazprombank, bezweifelte in einem Interview auf Youtube Ende April 2022, dass es sich bei diesen dubiosen Todesfällen um Suizide gehandelt habe. Diesen Mut brachte er nur auf, weil er kurz zuvor in die Ukraine geflohen war und sich dort sicher fühlte.
Am 24. April 2020 fiel Natalya Lebedeva, die Leiterin des Rettungsdienstes einer Trainingsbasis für russische Kosmonauten, aus einem Fenster des Krankenhauses, in dem sie ebenfalls wegen einer Covid-19-Infektion behandelt wurde, und starb. Jelena Nepomnyaschtschaja, Spitzenärztin eines Krankenhauses in Sibirien, fiel während einer Telefonkonferenz aus einem Fenster und starb am 1. Mai 2020 nach einer Woche auf der Intensivstation.
Mysteriöse Fälle von „Fallsucht“ auch im Ausland
Die mysteriöse Fallsucht befällt Russinnen und Russen jedoch auch im Ausland: Am 14. August 2022 war der lettisch-amerikanische Nawalny-Vertraute und Kremlkritiker Dan Rapoport (52, geboren in der Sowjetunion) in Washingtons West-End-Viertel tot aufgefunden worden.
Er soll sich aus seiner Wohnung gestürzt haben. Zuvor hatte er seinen Hund im nahe gelegenen Park freigelassen, auch ein Abschiedsbrief soll sich in seiner Tasche befunden haben – behauptet laut „Bild“ die russische Journalistin Yuniya Pugachewa. Weiterhin behauptet diese, den Kremlkritiker im Mai in einer Londoner Bar in Begleitung „junger Mädchen“ gesehen zu haben. Der Verdacht: Moskau inszeniert nicht nur den Tod, sondern liefert gleich noch das Narrativ dazu.
Erstes Video von Nawalny aus neuem Straflager
Im März 2017 stürzte Nikolai Gorokhow, der Anwalt von Sergej Magnitsky, der die Quelle für die Berichterstattung über Russlands größten Steuerbetrug war, aus einem Fenster im vierten Stock. Er habe bei Arbeiten im eigenen Bad versucht, die Badewanne zu verschieben, mühten sich die russischen Behörden, den „Unfall“ zu präzisieren.
Im November 2015 wurde Michail Lesin, der zuvor als staatlicher Medienzar von Präsident Wladimir Putin bezeichnet wurde, aber bei ihm in Ungnade gefallen war, nach einem Sturz in seinem Hotelzimmer in Washington, D. C., tot aufgefunden. Das FBI sagt, er sei durch extremen Alkoholkonsum gestürzt, hatte zudem Spuren von Gewaltanwendung am Kopf und Verletzungen an Hals, Armen, Beinen und Oberkörper.
Im Februar 2012 starb Victor Aphanasenko, Herausgeber einer Zeitung, die paramilitärische Überfälle in Südrussland untersucht hatte. Offizielle Erklärung: Er war in seinem Haus ausgerutscht.