Ex-Terroristin Silke Maier-Witt im Interview

„Die RAF war für mich wie ein Familienersatz“

Silke Maier-Witt, Ex-RAF-Terroristin

Silke Maier-Witt ist eine schmale Frau, gesundheitlich angeschlagen, aber sie neigt nicht dazu, sich zu schonen. Ein zweieinhalbstündiges Interview hat sie gerade hinter sich, aber eine Pause, nein, nicht nötig, versichert sie. Einen Tee, ein Stück Mandelkuchen bitte, dann kann es weitergehen. Die 75-Jährige wird manchmal innehalten, nach Antworten suchen, ganz so, als hätte sie sich die zentralen Fragen nicht selbst unzählige Male gestellt: Wie konnte aus ihr die RAF-Terroristin Silke Maier-Witt werden? Wie radikalisieren sich junge Menschen? Maier-Witt lebt in Nordmazedonien, das Gespräch findet in einem Café im Hamburger Stadtteil St. Georg statt, in der Stadt, in der sie aufwuchs.

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Frau Maier-Witt, wie häufig sind Sie noch in Deutschland?

Nicht oft, aber ich verfolge schon genau, was hier läuft. Ich höre morgens Deutschlandfunk und lese dann noch Diverses. Inzwischen würde ich auch lieber wieder in Deutschland leben wollen. Weil ich glaube, dass selbst wir Alten uns noch mal für Demokratie stark machen müssen. Das ist schon bitter, was hier läuft.

Wo würden Sie sich heute engagieren?

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Die Omas gegen rechts finde ich interessant, aber auch Vorlesen oder Deutschunterricht für Kinder von Migranten könnte ich mir vorstellen. Eine Freundin begleitet mit Ärzte ohne Grenzen einen Konvoi, der von Jordanien aus Hilfe nach Gaza bringt. Aber das ist gesundheitlich für mich eine Illusion.

Es gab zuletzt, nach der Abstimmung mit der AfD im Bundestag, teils gewaltsame Proteste gegen CDU-Zentralen. Können Sie das heute nachvollziehen?

Ich war da hin- und hergerissen. Aber die CDU ist eine demokratische Partei. Jetzt Plakate zu zerstören oder Farbbeutel zu werfen, finde ich unangemessen.

Wie soll man heute auf die 20 Prozent reagieren, die die AfD wählen?

Ich habe auch keine Idee. Die Atmosphäre ist sehr vergiftet, auch durch die sozialen Netzwerke. Man kann das Problem nicht nur der CDU anlasten, auch die SPD hat einen Rechtsschwenk gemacht. Wir müssen uns aber auch die Probleme ansehen, die die Migrantinnen und Migranten gleichsam mitgebracht haben: Das sind teils hochtraumatisierte Menschen, die auch mal ausrasten, wenn sie keine Möglichkeiten haben und nicht willkommen sind. Da ist schon viel schiefgelaufen.

Ich war überzeugt, dass ich bei einer Aktion sterben würde.

Silke Maier-Witt

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Haben Sie damals tatsächlich gedacht, Sie könnten mit den Morden und Aktionen der „Roten Armee Fraktion“ die Menschen in Deutschland von Ihrem Weg überzeugen?

Anfangs schon. Ich habe anfangs immer versucht, allen klarzumachen: Es gibt Folter mitten in Deutschland ...

... Sie meinen die Haftbedingungen der RAF-Mitglieder.

... und dass der Rechtsstaat schon auseinanderfallen würde. Das war natürlich in Wirklichkeit nicht so. Wir hatten auch gedacht, wir könnten die linksintellektuelle Szene auf unsere Seite bringen. Aber das Morden wurde dann einfach zu viel. Ich hatte mich vorher auch friedlich engagiert, habe mich um gewalttätige Jugendliche in Hamburg-Billstedt gekümmert. Aber dann kam ich zu den Komitees gegen Folter, den Unterstützerkreisen der RAF.

Fahndungsplakat nach RAF-Terroristen: Silke Maier-Witt steht in der vierten Reihe in der Mitte.

Sie schildern, wie Sie anfangs Nachrichten an untergetauchte RAF-Mitglieder überbrachten, dann Grenzübergänge auskundschafteten, gefälschte Pässe zukommen ließen. Sie erzählen das, als seien Sie da unbewusst, wie in einem Automatismus, hineingezogen worden. Spielen Sie damit Ihre Überzeugungen herunter?

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Aber es war tatsächlich so. Es kam alles Schritt für Schritt. Da war dann diese Aktion in Stockholm ...

... die Besetzung der deutschen Botschaft 1975, bei der sechs Terroristen schließlich zwei ihrer Geiseln töteten.

... das war derartig brutal, das hätte mich eigentlich abhalten müssen. Aber ich sah nur, dass da Leute wie ich waren, die den Mut hatten, das zu tun, und das überwog alles. Da war ich schon so weit in dem Denken drin, dass ich dachte, irgendwann bin ich auch dran.

Sie spielen auf den Titel Ihres Buches an: „Ich dachte, bis dahin bin ich tot“?

Genau, ich war überzeugt, dass ich bei einer Aktion sterben würde. Ich war irgendwann auch nur noch umgeben von Menschen, die so dachten wie ich. Ich hatte auch schon so viel aufgegeben, mein Psychologiestudium, meine Frauen-WG. Ich war im Grunde isoliert. Außer dem Kampf für die Gefangenen blieb da nicht mehr viel.

Versteck in der DDR

Silke Maier-Witt gehört zu den ganz wenigen früheren Mitgliedern der Rote Armee Fraktion, die sich heute kritisch über ihre Vergangenheit äußern. Die heute 75-Jährige schloss sich 1977 der RAF an und war unter anderem an der Entführung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer beteiligt. 1979 sagte sie sich von der RAF los, ein Jahr später tauchte sie mit Hilfe der Stasi in der DDR unter, wo sie bis zu ihrer Enttarnung 1990 lebte. Sie wurde 1991 zu zehn Jahren Haft verurteilt, kam aber 1995 vorzeitig frei. Anschließend beendete sie ihr Psychologie-Studium und arbeitete als Friedensfachkraft im früheren Jugoslawien.

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Wir sind hier in Hamburg, der Stadt, in der Sie aufgewachsen sind. Welchen Anteil hatte Ihr Vater an Ihrer Entwicklung?

Ich möchte das nicht überbewerten. Viele von uns, in unserer Generation, hatten vom Krieg hochtraumatisierte Väter. Dabei gab es noch nicht mal einen Begriff dafür. Die mussten sich ihre Existenz wieder aufbauen und konnten nicht darüber nachdenken, warum sie was durchgemacht hatten. Mein Vater war zu emotionalen Regungen überhaupt nicht fähig. Das hat ganz sicher auch etwas damit zu tun, dass ich am Ende selbst wieder einer Ideologie aufgesessen bin und SS-Methoden angewandt habe.

Sie schildern, wie Sie in Ihrer Familie nach dem frühen Tod Ihrer Mutter immer regelrecht herumgereicht wurden.

Das stimmt ...

... und dann versprach diese Terrorgruppe eine extrem enge Bindung und Zugehörigkeit.

Diejenigen, die wir rausholen wollten, waren tot. Was blieb da noch?

Silke Maier-Witt

über die Zeit nach dem Tod von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe 1977

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Meine Aufnahme in die RAF war wie die Ankunft in einem Familienersatz – und dann noch mit dem Gefühl, endlich auf der richtigen Seite zu sein. Es gab ja auch die Idee vom „neuen Menschen“, die mich da reingebracht hat – aber wie sollte der sich in der ständigen Bedrohung im Untergrund entwickeln? Die Realität war dann ganz anders. Die Auseinandersetzungen, die Sprachlosigkeit, und wie dann niemand wahrhaben wollte, dass die Aktion nach dem Tod der Gefangenen ...

... von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe durch Suizid 1977 in der JVA Stuttgart ...

... natürlich gescheitert war. Diejenigen, die wir rausholen wollten, waren tot. Was blieb da noch?

Sie lebten von 1977 an in der Illegalität. Sie schildern in Ihrem Buch aber auch die fast kuriosen Momente des konspirativen Lebens.

Ja, es gab auch sehr banale Momente. Zum Beispiel trafen wir uns immer im Wienerwald, einfach weil es damals in jeder Stadt einen gab und man sich nicht lange für einen Ort verabreden musste. Oder als ich zur RAF stieß und mir in Amsterdam erstmal eine neue Hose kaufen musste, damit die Waffe vorne in den Bund passte. Aber das ist ein nachträglicher Blick. Nur die Szene mit der Waffenübergabe mit dem vollgedröhnten Boock ...

... Peter-Jürgen Boock, einem anderen RAF-Mitglied ...

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... empfand ich schon damals als skurril. Aber der war damals mit der führenden Frau zusammen, mit Brigitte Mohnhaupt, also durfte er fast alles.

Haben Sie heute eine Erklärung, warum Sie sich radikalisiert haben?

Das Buch jetzt ist ein Versuch, sich einer Antwort darauf anzunähern. Es war eine Mischung aus frühkindlicher Erfahrung, der Nachkriegszeit mit ihrer Ignoranz gegenüber Emotionen und den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen, dann meine Unterwürfigkeit, meine Anpassungsfähigkeit, die ich in vielen Schulwechseln gelernt hatte. Ich habe ja erst nach dem Knast 1995 begonnen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Wir haben heute nach 43 Tagen Hanns Martin Schleyers klägliche und korrupte Existenz beendet.

Silke Maier-Witt,

in einem Telefonat mit der „Libération“ nach der Ermordung Schleyers

Sie gehörten zu der Gruppe, die am 5. September 1977 den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer entführte. In der Sondersendung abends wurden Sie als „besonders gefährlich“ beschrieben. Wie war es, Ihr Bild da zu sehen?

Ich habe mich nie sonderlich gefährlich gefühlt. In der Zeit nach der Entführung war die Gefahr, verhaftet zu werden, so groß und auch niemand da, mit dem man hätte kommunizieren können, dass ich das nicht als besonders empfunden habe.

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„Ich stand hinter dieser Entführung“: Hanns Martin Schleyer wurde im Oktober 1977 von der RAF ermordet.

Hätten Sie auch selbst töten können?

Das habe ich mich schon oft gefragt. Ich habe ja diese Waffe mit mir rumgeschleppt. Ich möchte gerne glauben, dass ich es nicht getan hätte. Aber hundertprozentig sicher kann ich mir nicht sein, auch weil ich in so einem Überanpassungsding steckte.

Sie hatten nach der Ermordung Schleyers am 18. Oktober 1977 den Auftrag, bei der Zeitung „Libération“ anzurufen und seinen Tod zu melden. Wissen Sie noch den Wortlaut?

„Wir haben heute nach 43 Tagen Hanns Martin Schleyers klägliche und korrupte Existenz beendet.“ Ich hatte das nicht verfasst. Aber das macht es nicht besser.

Sie haben sich 1979 von der RAF abgewandt, nach dem Schock über den Mord an einer Passantin bei einem Banküberfall in Zürich. Doch schon bei der Entführung Schleyers töteten Ihre Mitstreiter vier seiner Begleiter. Warum hat Sie das nicht schockiert?

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Die Wahrheit ist, dass ich Schleyer wollte. Ich stand hinter dieser Entführung, so habe ich damals gedacht. Und da konnte ich nicht sagen, das will ich nun aber nicht. Außerdem wurden wir überall gesucht, wir mussten weitermachen.

Ich will dazu beitragen, am Mythos der RAF zu rütteln.

Silke Maier-Witt

War es eine Option für Sie, sich zu stellen?

Nein. Ich hatte mich politisch von der RAF abgewendet, ich finde alles falsch, ich finde die Methoden falsch, ich habe niemanden getötet – so habe ich mich vor mir gerechtfertigt. Es war dann alles weit weg und kam erst mit der Verhaftung 1990 wieder. Die zehn Jahre habe ich wohl gebraucht.

Sie haben sich von 1980 bis 1990 mithilfe der Stasi in der DDR versteckt. Wie schauen Sie heute auf diese Zeit?

Ich habe eigentlich so nette, rechtschaffene Menschen kennengelernt. Da war sowas von: Jetzt habe ich ein Ziel und eine persönliche Herausforderung, die ich annehmen wollte.

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Haben Sie das Unrecht, das es dort auch gab, nicht gesehen?

Dass vieles falsch lief, habe ich wahrgenommen. Ich habe als Krankenschwester gearbeitet, und dass die DDR letztlich keine Chance hat, konnte man auch da sehr gut erkennen. Aber das Unrecht habe ich nicht sehen wollen. Anfangs habe ich auch geglaubt, das seien ja alles Widerstandskämpfer in der Regierung, das konnte ja nur gut sein. Aber dass da wahrlich nicht alles toll war, habe ich zur Gänze erst am Ende realisiert, durch Menschen in meiner Nähe. Die Wende habe ich dann aber auch als Befreiung erlebt.

Sie kamen 1995 vorzeitig aus der Haft frei. Wie war es, dann im bürgerlichen Leben Fuß zu fassen?

Es war schwieriger, als ich es mir vorgestellt habe. Ich habe mein Psychologiestudium beendet, eine Therapieausbildung gemacht. Ich war aber auch schon über 50 und musste feststellen, dass ich immer wieder an eine Grenze stieß, weil mein Name als schädigend angesehen wurde. Einmal wurde mir bei einem Praktikum vorgeworfen, ich hätte mich mit terroristischen Methoden eingeschlichen. Da habe ich gedacht, jetzt ist aber Schluss.

Sie bekamen dann Hilfe von überraschender Seite.

Ich habe dann die Anzeige gesehen, in der Friedensfachkräfte für das frühere Jugoslawien gesucht wurden. Da hatte ich das Gefühl, dass ich da genau richtig sein würde. Es hieß dann, das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit sei dagegen, dass ich da gleichsam in deutschem Auftrag hingeschickt würde. Das kannte ich ja schon. Aber dann habe ich beim damaligen Generalbundesanwalt Kay Nehm angerufen und um eine Art Unbedenklichkeitsbescheinigung gebeten.

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Und dann?

Der Mitarbeiter in seinem Büro fragte: Warum sollte er das tun? Und Ich dachte, ja, warum sollte er das tun, schließlich hatten wir als RAF seinen Vorgänger Siegfried Buback umgebracht? Aber er hat es dann doch getan, und das hat allen, die öffentlich dagegen waren, der „Bild“ vor allem, den Wind aus den Segeln genommen.

Warum haben Sie dieses Buch jetzt geschrieben?

Weil ich zeigen will, wie es passieren kann, dass man da hineingerät. Aber ich will auch aufzeigen, dass es Möglichkeiten gibt, wieder rauszukommen. Und ich will ein kleines Stück dazu beitragen, am Mythos der RAF zu rütteln. Weil ich das schon für gefährlich halte, für viele junge Menschen.

Die frühere RAF-Terroristin Daniela Klette steht ab Ende März in Verden vor Gericht.

Bald wird in Verden der Prozess gegen die frühere RAF-Terroristin Daniela Klette beginnen. Auch sie hat heute noch viele Unterstützer. Was ist Ihre Botschaft an sie?

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Diese Unterstützerszene muss sie schon lange hinter sich haben, sonst hätte sie gar nicht so lange im Untergrund aushalten können. Aber auch die Polizei hat mit ihrem martialischen Auftreten viel dafür getan, den Mythos der RAF zu nähren.

Martialisch? Immerhin wurden in Klettes Wohnung zahlreiche Waffen gefunden.

Sie haben an der Tür geklingelt, sie hat aufgemacht, ohne Waffe. Und jetzt wird auch noch ein Extragerichtsgebäude gebaut ... Das ist sehr viel Aufwand für eine Rentnerin, die sich ihre Rente ergaunert hat.

Das wäre eine Verharmlosung.

Es wäre einfach nötig, den Mythos RAF zu entzaubern, statt ihn immer weiterzutragen. Was die RAF gemacht hat, hat wirklich nichts zum Besseren verändert. Da sind viele Menschen umgebracht worden, weil sich eine Gruppe als Gruppe präsentieren wollte. Nichts von den Zielen, die die RAF mal hatte, hat sie auch nur ansatzweise erreicht. Es wird manchmal noch immer so getan, als wäre die RAF etwas ganz Tolles gewesen. Aber das war sie ganz und gar nicht. Im Gegenteil.

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Silke Maier-Witt: „Ich dachte, bis dahin bin ich tot. Meine Zeit als RAF-Terroristin und mein Leben danach“, unter Mitwirkung von André Groenewoud. Verlag Kiepenheuer&Witsch, 384 Seiten, 25 Euro.