Wie Sport dem Immunsystem schaden und nützen kann
Während der Pandemie trainieren immer mehr Menschen im heimischen Wohnzimmer. Das ist auch gut fürs Immunsystem.
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Dass Sport gut für das Immunsystem ist, gilt als Allgemeinwissen – aber stimmt es wirklich? Eine Metaanalyse des Expertennetzwerks „Cochrane-Collaboration“ kam 2020 zu dem ernüchternden Ergebnis, dass bei sporttreibenden Menschen weder die Zahl der Atemwegserkrankungen noch die Symptomdauer reduziert waren. Allerdings bedeutet das noch nicht, dass Bewegung dem Immunsystem nicht nützt.
„Die Zusammenhänge sind nicht ganz einfach – das Immunsystem hat viele unterschiedliche Komponenten, und manche Funktionen verbessern sich durch physische Aktivität und andere verschlechtern sich“, sagt Philipp Zimmer, Professor am Institut für Sport und Sportwissenschaft an der Technischen Universität Dortmund.
Sport kann nämlich auch Atemwegsinfekte fördern. Diese treten bei Leistungsportlerinnen und -sportlern während und nach Phasen größerer Belastung häufiger auf – älteren Studien zufolge sogar zwei- bis sechsmal öfter. „Durch große Anstrengung wie einen Marathonlauf gibt es eine kurzfristige Immunsuppression“, konstatiert Karsten Krüger, Professor für Sportphysiologie an der Uni Gießen und Chefredakteur des Fachjournals „Exercise Immunology Review“. „Wenn man etwa einen Erreger in sich hat, ist es möglich, dass er sich dann vermehrt.“
Lokale Entzündungsreaktionen durch Anstrengung
Allerdings ziehen neuere Publikationen in Zweifel, ob es sich bei den Symptomen, von denen Berufs- und ambitionierte Hobbysportler berichten, tatsächlich immer um neue Infekte handelt. Denn verschiedene Arbeitsgruppen konnten bei Leistungssportlerinnen und Leistungssportlern, die über Atemwegssymptome klagten, nur in 30 beziehungsweise 57 Prozent der Fälle wirklich Erreger nachweisen. Einige Untersuchungen legten nahe, dass es auch zu lokalen Entzündungsreaktionen durch die Anstrengung kommt.
Eine andere Theorie ist, dass Erreger, die immer im Körper vorhanden sind, wie etwa das Epstein-Barr-Virus, kurzfristige Phasen der Überanstrengung zur Vermehrung nutzen. „Wahrscheinlich kommt es häufig zu einer Verwechselung mit einem akuten Infekt“, sagt Krüger.
„Untersucht wurden vor allem Leistungssportler nach hoher körperlicher Belastung – dagegen gibt es keine Nachweise von Immunsuppression durch Alltagssport.“
Vor dem Sport genügend essen
Trotzdem können etwa Hobbyjoggerinnen und -jogger die Gefahr für einen Atemwegsinfekt laut Krüger durch einfache Verhaltensregeln beeinflussen. „Vor und nach dem Sport sollte man genügend essen“, sagt der Sportimmunologe. „Ich würde deshalb nicht morgens vor dem Frühstück laufen gehen, denn sowohl die Muskulatur als auch die Immunzellen brauchen Glukose.“ Diese Konkurrenzsituation könne dazu führen, dass ein Erreger im Körper die Überhand gewinne, sich vermehre und dann einen Atemwegsinfekt verursache.
„Hauptsächlich sehen wir aber immer deutlicher die positiven Effekte durch akute körperliche Belastung“, sagt Krüger. „Sie aktiviert die angeborene Immunantwort“. Dieser Teil des Immunsystems ist die schnelle Breitbandabwehr, die viele Erreger anhand bekannter Muster erkennt und abräumt. Dies erledigen unter anderem die natürlichen Killerzellen, die bei Menschen, die sich regelmäßig bewegen, aktiver werden, wie Phillip Zimmer und sein Forscherteam Anfang 2021 in einer großen Metastudie nachwiesen. Der Effekt kehrt ein bis zwei Stunden nach dem Training wieder auf den Ausgangswert zurück.
„Bei Infekt auf keinen Fall Sport machen“
„Die natürlichen Killerzellen wirken direkt nach physischer Aktivität besser gegen Viren und Bakterien“, sagt Krüger. Allerdings sollte das keineswegs dazu verleiten, Erregern mit sportlicher Aktivität den Garaus machen zu wollen. „Wenn man einen Infekt hat, sollte man auf keinen Fall Sport machen“, erklärt Zimmer. „Eine deutlich erhöhte Herzaktivität kann je nach Erreger eine potenziell lebensbedrohliche Herzmuskelentzündung nach sich ziehen.“
Diese kurze Periode ist grundsätzlich zu unterscheiden von den Langzeitwirkungen sportlicher Betätigung. „Da gibt es durchaus vorbeugende Effekte“, sagt Zimmer. So haben körperlich aktive Menschen zwar nicht seltener akute Atemwegsinfekte, die Symptome fallen aber milder aus, wie die Cochrane Collaboration in der eingangs erwähnten Studie auch feststellte.
Der Befund wird durch epidemiologische Daten von Covid-19-Patienten unterstützt: Diejenigen mit einem Lebensstil mit wenig Bewegung hatten ein mehr als doppelt so hohes Risiko, ins Krankenhaus eingewiesen zu werden als jene, die angegeben hatten, sich mindestens 150 Minuten pro Woche körperlich zu betätigen.
Sport ersetzt nicht die Corona-Impfung
Zu diesem Ergebnis kam 2021 eine Arbeitsgruppe um Deborah Cohen von der Southern California Permanente Medical Group in Pasadena nach der Analyse der Daten von fast 50.000 Corona-Erkrankten. Das bedeutet allerdings nicht, dass man sich mit Sport, so gut vor Sars-CoV-2 schützen kann, dass eine Impfung verzichtbar wäre.
Wie sich physische Aktivität auf zellulärer Ebene auf das Immunsystem auswirkt, ist noch nicht vollständig erforscht – klar ist, dass sich viele Parameter verändern. Es werden viele sogenannte Neutrophile und Monozyten gebildet, Zellen die Erreger fressen können. Worauf mögliche langfristige positive Effekte zurückzuführen sind, ist noch weit schwerer zu messen und entsprechend kaum erforscht. 2021 zeigten Forscher der Mayo Clinic in Rochester, USA, erstmals beim Menschen, dass Sport die Menge an Proteinen reduziert, die das Immunsystem altern lassen. Ein zwölfwöchiges Trainingsprogramm hatte dafür ausgereicht.
Es gilt als Teil des normalen Alterungsprozesses, dass T-Zellen im Laufe der Jahre immer weniger gut funktionieren. Beispielsweise werden zytotoxische T-Zellen zunehmend schlechter darin, von Viren befallene Körperzellen abzutöten. „Hat eine Person viele dieser erschöpften T-Zellen, die nur sehr eingeschränkt funktionieren, sind schwere Infektionsverläufe häufiger“, sagt Karsten Krüger.
Naive T-Zellen wirken gegen unbekannte Erreger
„Einige Studien zeigen, dass regelmäßiger Sport vor allem die gealterten T-Zelltypen reduziert, aber die Zahl der naiven erhöht und so Prozesse der Immunalterung zurückdrehen kann.“ Naive T-Zellen lassen sich durch neue Antigene (wie Oberflächenproteine von Viren oder Bakterien) aktivieren und können so Erreger bekämpfen, die für den Körper bis zu dem Zeitpunkt unbekannt waren.
Durch Sport sind die Merkmale der Immunalterung bei älteren Menschen zum Teil reversibel, wie eine 2021 publizierte Metaanalyse von Forscherinnen und Forschern der Freien Universität Brüssel nahelegt. „Körperlich aktive Menschen, die nicht übergewichtig sind, haben im Alter mehr naive Immunzellen als inaktive“, sagt Karsten Krüger. „Das ist einer der Gründe, warum ein aktiver Lebensstil das Immunsystem bis ins Alter jünger hält.“
Doch was heißt aktiver Lebensstil konkret? Auch hier liefert die Covid-19-Pandemie Hinweise. Eine Studie aus Südkorea, die die Daten von mehr als 75.000 Menschen umfasst, unterscheidet zwischen Personen, die mehr als 150 Minuten Ausdauertraining plus 75 Minuten Krafttraining machten einerseits – und andererseits denen, die ebenfalls Sport trieben, aber weniger. Die Angaben zur physischen Aktivität stammten aus einer Befragung von vor der Pandemie.
Aktiver Lebensstil entspricht geringerem Covid-Risiko
Wie die Forscher um Dong KeonYon vom Seoul National University Hospital 2021 berichteten, konnte die Gruppe, die sowohl Ausdauer- als auch Krafttraining gemacht hatte, ihr Risiko für eine schwere Covid-19-Erkrankung oder den Tod nochmals jeweils um die Hälfte reduzieren im Vergleich zu den Menschen, die nur moderates Ausdauertraining gemacht hatten. Ausdauertraining allein war aber wirksamer als Krafttraining. „Wer sich intensiv belastet, erzielt auch einen größeren Effekt“, sagt Zimmer.
Auch die WHO rät seit 2020, jede Woche mindestens 150 bis 300 Minuten mit mittlerer bis hoher Intensität Sport zu treiben. Alternativ seien 75 bis 150 Minuten mit hoher Intensität ausreichend. Für „zusätzliche gesundheitliche Vorteile“ empfehlen die WHO-Experten an zwei oder mehr Tagen in der Woche ein umfassendes Krafttraining von mindestens moderater Belastung.
Körperlich aktive Menschen erkranken seltener an Krebs
„Menschen, die regelmäßig Sport treiben, sind jedenfalls seltener krank“, sagt Karsten Krüger. „Das gilt für Stoffwechselkrankheiten wie Diabetes Typ II, Infekte – und ist sogar für einige Krebserkrankungen nachgewiesen.“ Denn die erwähnten natürlichen Killerzellen gehören auch zu den wirksamsten Waffen des Körpers gegen entartete Zellen. „Wenn wir regelmäßig Sport machen, sind die natürlichen Killerzellen besser in der Lage, Tumoren zu erkennen, in sie einzudringen und sie zu beseitigen“, sagt Krüger. „Deshalb erkranken körperlich aktive Menschen seltener an Krebs.“
Insbesondere das Risiko für Brust- und Darmkrebs lässt sich durch einen aktiven Lebensstil verringern, wie ein internationales Forscherteam um José Eluf-Neto von der Universität von São Paulo 2018 in einer Metaanalyse schlussfolgerte. Auch für die Prävention von Prostatakrebs durch körperliche Aktivität gibt es Hinweise.
All diese Erkenntnisse beruhen allerdings auf Beobachtungsstudien, können also nur Korrelationen und keine Kausalzusammenhänge herstellen. Auch eine gesunde Lebensführung insgesamt – also ausgewogene Ernährung, genügend Schlaf, nicht rauchen und geringer Alkoholkonsum – trägt zu einer guten Immunabwehr bei. In epidemiologischen Studien sind die einzelnen Effekte kaum voneinander zu trennen, denn Menschen, die sich regelmäßig bewegen, neigen auch insgesamt zu einem gesunden Lebensstil.
Labordaten stützen die Beobachtungen
Die Hinweise aus epidemiologischen Studien zur gesundheitsfördernden Wirkung von Sport werden jedoch durch Labordaten gestützt. „Bei krebskranken Mäusen, die sich in einem Laufrad bewegen, sind – verglichen mit Kontrolltieren – Tumoren kleiner und stärker mit natürlichen Killerzellen durchsetzt“, sagt Krüger. „Immunzellen von sportlichen Menschen zeigen zudem im Reagenzglas höhere Aktivität als solche von Personen, die sich weniger bewegen.“
Laut Philipp Zimmer gibt es aber keine eindeutige Evidenz dafür, dass es genau diese Effekte sind, die Entstehung und Verlauf verschiedenster Erkrankungen beeinflussen. „Aber nach allem, was wir wissen, liegt es nahe.“