Therapeutinnen erklären: Was tun, wenn Eltern sich uneins über Corona-Impfung für ihr Kind sind?
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Ein Schüler bekommt eine Impfspritze in den Arm (Symbolbild).
© Quelle: Christian Modla/ZB/dpa
Ein kleiner Piks mit großem Konfliktpotenzial: Sind Eltern unterschiedlicher Meinung, ob ihr Kind gegen das Coronavirus geimpft werden soll, kann das die ganze Familie belasten. „Wenn sich Eltern bei diesem Thema nicht einig sind, ist das eher eine Aussage über die Beziehung der beiden als über den medizinischen Aspekt“, sagt Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Ariadne Sartorius. Es gehe etwa darum, wer welche Entscheidungen trifft und wer wie viel Raum in der Beziehung einnimmt.
Dass Erziehungsberechtigte sich manchmal uneinig beim Impfen sind, komme vor, sagt auch Sabine Kaiser. „Gerade wenn es um die eigenen Kinder geht, betrifft das ja ein sehr sensibles Thema“, erklärt die tiefenpsychologische Psychotherapeutin. Außerdem sei die Informationslage undurchsichtig und ändere sich ständig. „Es ist also wirklich ein schweres Thema“, so Kaiser und verweist auf Thomas Mertens, Chef der Ständigen Impfkommission (Stiko).
Der hatte Anfang Dezember gesagt, hätte er ein Kind, würde er es momentan nicht impfen lassen – und sich nun dafür entschuldigt, so etwas Persönliches geäußert zu haben. „Die Entscheidung über die Impfung ist wirklich eine sehr persönliche Sache“, sagte Mertens nun dem Nachrichtensender „Welt“.
Nüchtern mit Wahrscheinlichkeiten argumentieren
Hat ein Elternteil Bedenken, steckt oft Angst dahinter – etwa vor Nebenwirkungen der mittlerweile sowohl von der Europäischen Arzneimittelbehörde (EMA) als auch – bedingt – von der Stiko für Kinder ab fünf Jahren empfohlenen Impfung. „Beide Elternteile wollen das Beste für das Kind und sorgen sich. Das ist grundsätzlich gut und sollte wertgeschätzt werden“, sagt Expertin Sartorius, die stellvertretende Vorsitzende des Bundesverbandes der Vertragspsychotherapeuten (BVVP) ist. „Angst warnt uns gut vor Gefahren im Leben. Aber ein guter Ratgeber ist das Gefühl oft nicht. Dafür braucht man Fakten.“
Erziehungsberechtigte könnten die Impfentscheidung ganz nüchtern angehen und mit dem Partner oder der Partnerin über Wahrscheinlichkeitsrechnung sprechen. „Natürlich gibt es eine geringe Wahrscheinlichkeit, dass das eigene Kind von Nebenwirkungen der Impfung betroffen sein wird. Aber was ist die Alternative?“, fragt die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Schließlich existiere genauso das Risiko, dass der ungeimpfte Sohn oder die ungeimpfte Tochter an Long Covid erkrankt. Oder das infizierte Kind steckt die eigenen Großeltern an, die schlimmstenfalls an Covid-19 sterben. Solch ein Szenario könne Kinder ein Leben lang belasten.
Wahrheit als Ziel bei Konflikten
„So wie auch bei anderen Konflikten sollte eine Konfliktlösung im Interesse der Wahrheitsfindung sein oder zumindest eine stetige Annäherung an die Wahrheit zum Ziel haben“, sagt Kaiser, die in ihrer Praxis in Freiburg mit Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und deren Eltern arbeitet. Eine gemeinsame Diskussion sei dann möglich, wenn alle Beteiligten akzeptieren, dass man noch nicht alles wissen könne und weitere Informationen einzuholen seien. Diese Spannung gelte es, auszuhalten. „Es darf also nicht darum gehen, von einer Seite her einfach nur Recht zu bekommen.“
Eltern könnten gemeinsam recherchieren, ob eine Impfung ihres Kindes sinnvoll ist – und sollten Informationen auch hinterfragen. Außerdem sei es hilfreich, sich mit altbekannten Techniken aus der Psychologie zu beschäftigen, etwa die Familienkonferenz von Thomas Gordon und gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg. „Diese können helfen und unterstützen, sich wieder besser zu verstehen und adäquat auszutauschen, auch auf emotionaler Ebene“, sagt Kaiser, die Mitglied im Deutschen Psychotherapeuten-Netzwerk (DPNW) ist. Eltern könnten auch die Hilfe eines Mediators annehmen, der zwischen beiden vermittelt, wenn die Fronten zu verhärtet sind.
Schlechtes Gewissen beim Kind
Sartorius vom BVVP rät, sich bezüglich der Risiko-Nutzen-Abwägung von Fachleuten beraten zu lassen. Erster Ansprechpartner sei der Kinderarzt oder die Kinderärztin. Dieser oder diese kenne das Kind seit der Geburt und auch die sozialen Strukturen in der Familie. Die Eltern sollten ihre Ängste gegenseitig anerkennen und wertschätzen – aber schlussendlich die Empfehlung des Beraters oder der Beraterin mit fachlicher Expertise annehmen.
Außerdem könne der Kindermediziner oder die Kindermedizinerin auch einmal mit dem Kind unter vier Augen sprechen, welche Sorgen es selbst eigentlich hat. „Manchmal ist dieser geschützte Rahmen nötig, in dem das Kind unabhängig von der Beziehung zu den Eltern und möglichen Loyalitätskonflikten sprechen kann“, erklärt Sartorius.
Auch für das Kind sei es nicht einfach, wenn die Eltern sich uneinig sind. Dabei spiele nicht nur die medizinische Fragestellung – impfen oder nicht impfen – eine Rolle. „Im Endeffekt muss sich das Kind für Mama oder Papa entscheiden“, sagt die Expertin. Das erzeuge ein schlechtes Gewissen und verunsichere das Kind. Denn: Einem von beiden könne es ja offenbar nicht vertrauen.
Kindern Notwendigkeit von Behandlungen erklären
Zudem sei es für jüngere Kinder schwierig, die Tragweite der Entscheidung für oder gegen eine Impfung einzuschätzen. „Für eine wirklich unabhängige Meinungsbildung benötigt ein Mensch meines Erachtens nach eine stabile Autonomieentwicklung“, erklärt Kaiser vom DPNW. Kinder aber ständen in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Eltern.
Stehen medizinische Maßnahmen wie eine Impfung an, sollten Eltern ihren Kindern erklären, warum diese notwendig sind. „Eltern haben eine große Verantwortung, denn sie müssen für das Kind entscheiden. Das Kind muss aber lebenslang mit den Folgen leben“, sagt Kaiser. Es sei wichtig, das Vertrauen des eigenen Kindes nicht für ideologische Zwecke zu missbrauchen. „Dies setzt allerdings ein hohes Maß an Selbstreflexion voraus“, erklärt die Expertin.