Studie zum ersten Corona-Ausbruch in Deutschland: Wie eine Frau 16 Personen ansteckte
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Wo alles begann: Der erste bestätigte Coronavirus-Patient in Deutschland steckte sich bei einem chinesischen Gast seiner Firma an. Die Frau aus China war zu einer Fortbildung bei der Firma Webasto im Landkreis Starnberg in Oberbayern gewesen.
© Quelle: Peter Kneffel/dpa
Ende Januar tauchten die ersten Fälle von Covid-19 bei der Firma Webasto in Stockdorf bei München auf. Eine chinesische Geschäftsreisende hatte sich zuvor mit Sars-CoV-2 infiziert und bei Meetings einige Mitarbeiter des Autozulieferers angesteckt. Die Folge waren insgesamt 16 bestätigte Fälle in vier Generationen. Die rasche Isolation der Infizierten, die Nachverfolgung und Quarantänisierung der Kontakte unterbrach die Infektionskette. Wissenschaftler veröffentlichen eine detaillierte Analyse der 16 Covid-19-Fälle und ihrer 241 Kontakte. Sie schlüsseln minutiös auf, welche möglichen Übertragungswege und Ansteckungsraten in verschiedenen Klassen von Risikokontakten zu finden sind. Ihre Ergebnisse erscheinen in der Fachzeitschrift “The Lancet Infectious Diseases”.
“Es gab ein kurzes Händeschütteln”
Auch der erste Corona-Infizierte konnte ausfindig gemacht werden. Der Mann, der anonym bleiben wollte, äußerte sich zu den Umständen seiner Ansteckung im Radiosender Bayern 1. Er war nach seinen Angaben etwa eine Stunde lang mit der chinesischen Kollegin in einem Meeting. Die Frau habe auf ihn einen gesunden Eindruck gemacht. “Es gab ein kurzes Händeschütteln, aber die Kollegin war auch nicht krank. Also, ich hab nicht gesehen, dass sie irgendwie geschnieft und gehustet hat oder irgendwelche Krankheitserscheinungen hatte. Für mich war sie komplett gesund.” Das Treffen fand an einem Montag statt. Am Freitag drauf verspürte der Patient dann erste Symptome, ein Halskratzen.
Einen Tag später habe er dann Fieber gekriegt. Er habe sich aber aufgrund der erkältungstypischen Jahreszeit keine Gedanken gemacht. Erst als er hörte, dass die Chinesin mit Covid-19 infiziert sei, habe er geahnt, was Sache ist: “Am frühen Morgen habe ich erfahren, dass bei dieser Kollegin, mit der ich Kontakt hatte, tatsächlich das Coronavirus nachgewiesen worden ist. Danach bin ich dann sofort zu meinen Hausarzt gefahren, der mich ans Tropeninstitut weitergeleitet hat.” Deutschlands erster Corona-Patient kam ins Klinikum Schwabing und in Quarantäne. “Mir kam das alles sehr surreal vor. Die Situation hat man sich natürlich nicht ausdenken können. Warum muss ich jetzt der einzige Patient oder die einzige Person in Deutschland sein, die dieses Virus hat?” Mittlerweile ist er längst wieder gesund, aber auch sein Fall war für die Forscher natürlich sehr wichtig.
75 Prozent steckten Familienmitglieder zu Hause an
Bei den 16 Fällen und deren 241 Kontakten ermittelten die Forscher eine Ansteckungsrate – Attack Rate genannt – von 75 Prozent in Haushalten, in denen ein Covid-19-Fall zusammen mit den anderen Bewohnern isoliert war. Eine Isolation außerhalb des Haushaltes senkte diese Attack Rate auf 10 Prozent. Für Kontakte außerhalb der Haushalte mit hohem Ansteckungsrisiko betrug sie nur noch 5 Prozent. In einem Fall fanden sie eine Infektion eines Kontaktes, bevor sich Symptome zeigten, in vier Fällen fand die Übertragung wahrscheinlich am Tag des Symptombeginns statt.
Derlei detaillierte epidemiologischen Aufarbeitungen von Fallhäufungen heißen Cluster-Analysen. Sie werden derzeit weltweit durchgeführt und liefern Nachweise zur Übertragung und den Infektionsraten von Sars-CoV-2. Weitere erkenntnisreiche, internationale Cluster-Analysen stammen aus Südkorea, Frankreich und Singapur. Alle Forschungen, so die Forscher, zeigen, dass es bei Covid-19 einen hohen Anteil an sogenannten präsymptomatischen Infektionen gibt. Das heißt, die Überträger der Krankheit haben zu dem Zeitpunkt, an dem sie andere anstecken, noch keinerlei Symptome.
Symptomfreie Infizierte übertragen das Virus häufig
Prof. Dr. Annelies Wilder-Smith, Professorin für neu auftretende Infektionskrankheiten an der London School of Hygiene & Tropical Medicine (LSHTM) und Professorin am Heidelberg Institut für Global Health, Universitätsklinikum Heidelberg, sagt zu der deutschen Cluster-Studie: “Das aktuelle Paper aus Deutschland in ‘The Lancet Infectious Diseases’ liefert weitere Evidenz dafür, dass präsymptomatische Übertragungen häufig vorkommen. Eine kürzlich durchgeführte Studie ergab, dass die Viruslast von Sars-CoV-2-Infizierten zum Zeitpunkt des Symptombeginns am höchsten war. Das wiederum deutet darauf hin, dass die Virusabgabe ihren Höhepunkt erreichen kann, bevor die Symptome auftreten, was zu einer erheblichen präsymptomatischen Übertragung führt. Attack Rates in Umgebungen, in denen keine Maßnahmen ergriffen werden, liegen zwischen 20 und 100 Prozent, wobei es sich bei Letzteren um Familien-Cluster handelt. Die Ansteckungen auf dem Kreuzfahrtschiff Diamond Princess ergaben eine extrem hohe Attack Rate, obwohl die Passagiere in ihren Kabinen unter Quarantäne gestellt wurden.”
Die Cluster-Studie könnte auch im Fall eines Chores aus den USA interessant sein. Am 10. März traf sich, so berichtet die “Süddeutsche Zeitung”, im US-Bundesstaat Washington der “Skagit Valley Chorale” zur Chorprobe – durchaus schon im Bewusstsein der Ereignisse in New York und den vielen Todesopfern dort. Desinfektionsmittel wurden aufgestellt, man berührte einander nicht bei der Begrüßung – und dennoch wurde die Probe zum Desaster. Ein einziger mit Sars-CoV-2 infizierter Sänger steckte fast all seine Kollegen an – 53 der 60 Probenteilnehmer erkrankten. Drei Sänger kamen ins Krankenhaus, zwei starben. Grund für die extreme Ansteckungsrate, so nehmen es Forscher mittlerweile an, war, dass Sars-CoV-2 sich auch in Form feiner Aerosole verbreiten kann.
Zum Thema der Ansteckungsrate sagt die Forscherin PD Dr. Daniela Schmid, Leiterin der Abteilung Infektionsepidemiologie an der Österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES): “Die Attack Rate sagt uns, wie viele der exponierten Menschen auch wirklich infiziert wurden. Diese Attack Rate kann man sich für verschiedene Settings anschauen, in denen sie sich auch für eine Tröpfcheninfektion erwartbar unterscheidet. Je länger und je enger der Kontakt, desto höher die Attack Rate. In einem Supermarkt hat man zum Beispiel viel weniger Kontakt als in einem gemeinsamen Haushalt. Für eine Tröpfcheninfektion muss man beispielsweise schon etwas Sprechen, und das tut man im Supermarkt eher wenig. Im Après-Ski-Lokal, wie in Ischgl gesehen, ist das allerdings der Fall und unter Alkohol wahrscheinlich noch mehr, und wir sehen eine hohe Attack Rate. Die Attack Rate ist also ein Surrogat für das Transmissionsrisiko.”