Ritzen bei Teenagern: Der stumme Schrei nach Liebe
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Ringen um Aufmerksamkeit: Wenn Teenager sich ritzen, ist das in vielen Fällen ein ernst zu nehmender Hilferuf.
© Quelle: Unsplash/Yuris Alhumaydy
Madeleine (18): „Es fing völlig banal an. Lisa, eine Nachbarin, zeigte mir ganz konspirativ ihren Arm, in den sie ein „T“ für Tom, ihren Freund, geritzt hatte. „Mach ich auch“, sagte ich, nahm ein Taschenmesser und schnitt ein „S“ in meinen Arm – für Scheiße. Ich war damals echt mies drauf. Die Schule lief schlecht. Zu Hause war alles furchtbar: Mama hatte nur Augen für Jan und die Zwillinge. Und ich? War abgeschrieben. Keinen interessierte, wie es mir eigentlich ging und dass ich mir diese neue Familie garantiert nicht gewünscht hatte.
Jan war der Freund meiner Mutter, und mit ihm hatte sie noch Zwillinge bekommen. Na, toll! Von da an gab es nur noch Babygeschrei und Windelgespräche, und ach – ich hätte kotzen können!
Keinen interessierte, wie es mir eigentlich ging und dass ich mir diese neue Familie garantiert nicht gewünscht hatte.
Also versuchte ich, dann eben mehr über meinen leiblichen, biologischen Vater zu erfahren, der nach meiner Geburt verschwunden war. Aber mit dem Versuch scheiterte ich leider auch. Der Idiot hat sich nicht mal auf meine Briefe zurückgemeldet. Kontakt mit mir wollte er also ganz offensichtlich nicht. Niemand wollte mich. Warum auch? Ich hasste mich ja selbst.
Mit Schmerz Druck abbauen
An so einem Abend, als ich völlig fertig war, erinnerte ich mich an das Taschenmesser, holte es aus meinem Nachttisch und setzte an. Es war wie eine Erlösung, als das Blut rann. Wie, als wenn all der Druck von mir abfiel. Mit jedem Blutstropfen mehr.
Am nächsten Tag kaufte ich mir Rasierklingen, die ich in einer kleinen Box unterm Bett versteckte. Und wenn Mama die Zwillinge nachmittags vom Hort abholte, griff ich immer häufiger zur Klinge und machte schon fast ein geheimes Ritual daraus. Ich drehte die Musik auf und schnitt so tief, bis ich alle mit meinen Schmerzen strafen konnte. Irgendwann würden sie schon um mich weinen.
Ich drehte die Musik auf und schnitt so tief, bis ich alle mit meinen Schmerzen strafen konnte.
An einem Tag jedoch hatte Mama etwas zu Hause vergessen und wollte mir schnell Bescheid geben. Da stand sie plötzlich in meinem Zimmer und sah mit weit aufgerissenen Augen auf meinen blutigen Arm. Sie war völlig geschockt und stammelte nur irgendwas, bevor sie mir das Rasiermesser aus der Hand nahm.
Um Aufmerksamkeit kämpfen
Abends hatte sie sich dann aber gefasst und wollte in Ruhe mit mir reden. Erst dachte ich – die kann mich mal. Aber als Mama mich fast anflehte, mir alles von der Seele zu reden, war ich total erleichtert, das endlich alles loszuwerden. Es tat so gut, dass ich mich endlich nicht mehr vor Mama zu verstecken brauchte, mich aber auch über sie auskotzen konnte – und über die Zwillinge und über Jan. Diese kleine, blöde Familie, zu der ich nicht gehörte. Und dann erzählte ich Mama auch von meinen Briefen an meinen biologischen Vater, der sich nicht zurückmeldete und sich genauso wenig für mich interessierte.
Aber als Mama mich fast anflehte, mir alles von der Seele zu reden, war ich total erleichtert, das endlich alles loszuwerden.
Mama hörte die ganze Zeit still zu, nickte traurig und streichelte und tröstete mich. Immer wieder nahm sie meine Hände und strich vorsichtig über die Narben an meinen Armen.
Und nach einer Weile sagte sie, dass sie mich gern unterstützen wolle. Mit aller Kraft. Und ob ich mir vorstellen könnte, eine sechswöchige, stationäre Therapie zu machen, damit mir professionell geholfen würde.
Sich selber annehmen
Erst hab ich mich total erschrocken und dachte, sie will mich nur abschieben. Aber Mama und ich sprachen in den nächsten Tagen sehr viel, und sie versprach mir, dass sie sich Urlaub nehmen würde, um in der Zeit für mich da zu sein. Es sei wichtig, dass ich wieder lerne, mich anders abzureagieren als mit diesem furchtbaren Rasiermesser.
Einen Monat später ging ich tatsächlich in die Klinik und muss sagen, dass es das Beste war, was ich machen konnte. Ich lernte dabei so viel über mich. Warum ich mich immer so schnell abgelehnt fühle zum Beispiel. Und warum ich dann nicht besser noch einmal nachfrage, anstatt sofort etwas Gemeines in das Verhalten der anderen hineinzuinterpretieren. Geholfen hat mir auch die Musiktherapie dort. Ich durfte alle möglichen Instrumente ausprobieren und mit den Tönen, Takten und Geräuschen meine Gefühle mal ganz anders ausdrücken. Das war spannend und hat total viel in mir ausgelöst. Ganz tief drinnen. Jedenfalls musste ich ständig heulen, und die Therapeutin sagte, ich solle mich nicht schämen. Es sei doch gut, wenn da etwas bei mir freigesetzt wird. Auf jeden Fall habe ich in der Zeit allmählich gelernt, mich selber zu mögen – mit all meinen Stärken und Schwächen.
Seit Neuestem habe ich auch mit Judo begonnen – da kann ich so herrlich meine Aggressionen loswerden und werde außerdem fitter.
Alternativen zum Rasiermesser
Und da bleibe ich weiter dran – und spreche viel mit meiner Therapeutin, die ich anschließend gefunden habe und zu der ich alle drei Wochen gehe.
Seit Neuestem habe ich auch mit Judo begonnen – da kann ich so herrlich meine Aggressionen loswerden und werde außerdem fitter. Beim Judo hab ich vor ein paar Wochen auch so einen Jungen kennengelernt. Der ist wirklich total nett und hübsch. Aber als er mich letztens fragte, warum ich eigentlich immer lange T-Shirts trage, wurde ich erst knallrot und wollte ihm schon irgendeinen Scheiß erzählen. Aber dann habe ich mich getraut: meine Ärmel hochgezogen und meine Narben gezeigt. Da hat er ganz schön geschluckt, das konnte ich sehen. Aber ich dachte, wenn der wirklich etwas von mir will, mag er mich trotzdem. Und tatsächlich hat er vor einer Woche gefragt, ob ich mal mit ihm ins Kino gehe. Mal sehen …“
Die Perspektive der Mutter
Angelika (44): „Diese schrecklichen, roten Narben – manchmal träume ich heute noch davon. Vor zwei Jahren ging ich ohne anzuklopfen ins Zimmer meiner Tochter. Da sah ich Madeleine, wie sie sich über ihren Arm beugte. Und als sie aufblickte, sah ich dieses Schlachtfeld auf ihren Armen – und wie sie ihre zarten Mädchenarme gerade mit einer Rasierklinge verschandelte! Alles in meinem Kopf drehte sich. Mein Gott! Madeleine ritzt sich! Ich hätte schreien können vor Schock und Verzweiflung. Aber in diesem Moment war ich nur dazu fähig, ihr stumm die Rasierklinge aus der Hand zu nehmen und aus dem Zimmer zu stürmen, um mich zu sammeln. Doch schon wirbelten jede Menge Vorwürfe durch meinen Kopf. Was ich bloß für eine Mutter war, dass ich nichts bemerkt hatte! Ich hätte doch spüren müssen, dass es Madeleine nicht gut ging, dass sie sich zurückzog und immer schweigsamer wurde. Stattdessen habe ich mich ständig um ihre sechsjährigen Geschwister gekümmert – die Zwillinge, die jetzt zur Schule kamen.
Es dauerte, bis ich mich ein bisschen beruhigte. Aber was sollte ich nun tun? Sie zur Rede stellen? Ausschimpfen? Ins Krankenhaus bringen? Oder in die Psychiatrie? War sie womöglich Borderlinerin, die verletzten sich doch auch?
Doch schon wirbelten jede Menge Vorwürfe durch meinem Kopf. Was ich bloß für eine Mutter war, dass ich nichts bemerkt hatte!
Wieder Vertrauen aufbauen
Da fiel mir Andrea ein – eine Bekannte meiner Schwester, die als Therapeutin für Jugendliche tätig war. Andrea riet mir am Telefon, ohne Vorwürfe mit Madeleine zu sprechen. Es wäre gut, einfach zuzuhören, Vertrauen aufzubauen. So könnte ich Madeleine vielleicht dabei helfen, eine Therapie zu beginnen. Denn Ritzen sei laut Andrea ein ernster Hilferuf. An eine Borderlinestörung würde sie allerdings nicht sofort denken.
Das beruhigte mich. Und abends klopfte ich an Madeleines Tür, bat sie um ein Gespräch und setzte mich aufs Sofa, um ihr zuzuhören. Zum Glück willigte sie ein – allerdings unter einer Bedingung: dass Jan von alledem nichts erfahren sollte. Ich verstand, dass sie diesen Vertrauensbeweis brauchte. Meinen Freund Jan hatte ich vor acht Jahren kennengelernt und bekam zwei Jahre später die Zwillinge mit ihm. Ich war glücklich und dachte, unsere Patchworkfamilie funktioniere super.
Begleitung bei Therapiegesprächen
Doch für Madeleine war die Situation offenbar nur schwer aushaltbar, das erzählte sie mir an diesem Abend. Außerdem war es hart für sie, dass ihr Vater nichts von ihr wissen wollte. Und zu Hause bei Jan, den Zwillingen und mir fühlte sie sich auch völlig überflüssig. ‚Ihr habt eure kleine Familie, und ich bin außen vor’, weinte sie.
Da habe ich Madeleine fest in den Arm genommen und ihr gesagt: „Aber du bist doch mein Ein und Alles. Ich liebe dich doch, mein wunderbares, großes Mädchen!“
Ich dachte immer, Hauptsache, all die Wut kommt mal raus und sie ist ehrlich zu mir.
Seitdem bin ich wieder viel mehr für Madeleine da und versuche, ihr Vertrauen zurückzugewinnen. Zum Glück konnte ich sie auch dazu bewegen, eine sechsmonatige, stationäre Therapie zu machen. Ich habe mich sogar teilweise beurlauben lassen, um sie zu unterstützen und bei möglichst vielen Therapiegesprächen dabei zu sein.
Der Wut Raum geben
Ich habe viel übers Ritzen gelesen und oft mit Madeleine darüber gesprochen. Auch, dass sie erst vor ein paar Wochen damit begonnen hatte. Diese Gespräche waren oft sehr hart. Auch, weil sie mich manchmal übel beschimpft hat. Aber ich dachte immer, Hauptsache, all die Wut kommt mal raus und sie ist ehrlich zu mir. So haben wir die Möglichkeit, unsere Probleme gemeinsam zu lösen.
Beruhigt hat mich vor allem, dass Madeleine schon in der Klinik erkannt hat, dass sie anschließend eine Verhaltenstherapie beginnt. Sie hat sich um alles selbst gekümmert, das fand ich wirklich toll. Und ich bin unwahrscheinlich stolz auf sie. Darauf, was sie alles geschafft hat in den letzten Monaten. Das sage ich ihr auch immer wieder. Schließlich soll Madeleine nie wieder denken, ich liebe sie nicht.
Hintergründe zum selbstverletzenden Verhalten
Warum verletzen Jugendliche sich selbst?
Gründe können Liebeskummer, schlechte Schulnoten, ein geringes Selbstwertgefühl und ein Gefühl von Leere, Versagensangst und Isolation sein. Es kann sich aber auch bloß um eine Mode handeln, die in der Klasse oder bei bekannten Stars gerade „in“ ist.
Wie sollten sich Eltern verhalten?
Nicht mit Panik und Vorwürfen reagieren, sondern Ruhe bewahren und dem Kind zeigen, dass man es ernst nimmt, ihm zuhört, sich sorgt und helfen möchte. Wichtig ist, sich bewusst Zeit fürs Kind zu nehmen und die Ursachen für das Verhalten herauszufinden. Wichtig ist dabei, das selbstverletzende Verhalten als Bewältigungsstrategie in schwierig empfundenen Situationen zu begreifen und nicht als bizarre Angewohnheit.
Wann sollte professionelle Hilfe gesucht werden?
Wenn das Ritzverhalten bereits über Monate und länger andauert, ist dies ein Kriterium für eine psychische Erkrankung und dafür, professionellen Beistand zu suchen. Man weiß heute: Je länger das Ritzverhalten andauert, desto größer ist die Gefahr, dass sich das Verhalten verselbständigt und ins gewohnheitsmäßige Verhaltensrepertoire des Kindes beziehungsweise des Jugendlichen aufgenommen wird. Experten haben herausgefunden, dass durch den Schmerz, der beim Ritzen verspürt wird, körpereigene Opiate (Endorphine) freigesetzt werden, die zu suchtartigem Ritzverhalten führen können.
Welche Therapien gibt es?
Hilfreich sind psychoanalytische und tiefenpsychologisch fundierte Therapien sowie Verhaltenstherapien, um die Kinder und Jugendlichen zu stabilisieren. Die Krankenkassen bewilligen etwa 150 bis 180 Stunden. Es ist aber auch sinnvoll, dass sich die Eltern Rat und Unterstützung holen.
Wie hoch ist die Rückfallquote?
Rückfällig können Betroffene anfangs schnell werden. Sie sollten daher Auslöser und sogenannte „Trigger“ wie Fotos mit blutigen Armen vermeiden. Mit begleitender Therapie werden sie allmählich gefestigter.
Hier finden Betroffene und Angehörige Hilfe
- https://www.familienhandbuch.de/babys-kinder/entwicklung/jugendliche/herausforderung/RitzenwarumverletztsichmeinKindselbst.php
- Rote Linien – Kontakt- und Infoforum für Angehörige: http://www.rotelinien.de/wege.html
- Rote Tränen – Austauschplattform für Betroffene: www.rotetraenen.de
- Aktion Kinder- und Jugendschutz e.V., Broschüre zu Ritzen: https://akjs-sh.de/shop/schnippeln-und-ritzen/
Auf dieser Internetseite können Eltern nach kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanzen und nach einem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Nähe suchen: https://www.kinderpsychiater.org/startseite/.
RND/protokolliert von Gitta Schröder