Psychologin: „Lange Schulschließungen vergrößern Bildungsunterschiede“
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Homeschooling funktioniert für manche Schülerinnen und Schüler gut. Andere brauchen mehr Unterstützung.
© Quelle: Ulrich Perrey/dpa
Wie schon im vergangenen März lernen die meisten Schülerinnen und Schüler wieder zu Hause. Ilka Wolter und ihre Kolleginnen vom Leibniz-Institut für Bildungsverläufe haben Familien im Frühjahr 2020 zu ihren Homeschoolingerfahrungen befragt. Im RND-Interview erklärt die Psychologin, wie das Lernen zu Hause gut klappt und welche Rolle Eltern und Lehrkräfte dabei spielen.
Gemeinsam mit Ihren Kolleginnen haben Sie Familien zu ihren Homeschoolingerfahrungen aus dem ersten Lockdown befragt. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Ilka Wolter: Besser als gedacht. Es wurde zwar viel über Serverausfälle, schlechte digitale Ausstattung und überforderte Lehrkräfte in den Medien geschrieben, trotzdem waren die meisten Eltern mit dem Homeschooling ganz zufrieden. Zum Beispiel schaffte es die Mehrheit der Lehrkräfte, den Schülerinnen und Schülern auf digitalen Wegen Lernmaterialien zu Verfügung zu stellen. Auch der Austausch mit den Schulen hat aus Sicht der Familien ganz gut funktioniert. Die meisten fühlten sich ausreichend informiert und unterstützt – und das, obwohl der Lockdown für alle unvorbereitet kam.
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Ilka Wolter leitet die Abteilung Kompetenzen, Persönlichkeit, Lernumwelten am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe in Bamberg. Die Psychologin und Bildungsforscherin ist zudem eine wissenschaftliche Leiterin im Nationalen Bildungspanel (NEPS), der größten Langzeit-Bildungsstudie in Deutschland.
© Quelle: Thomas Riese
Was hat denn nicht so gut geklappt?
Ich glaube, eine große Herausforderung war und ist es, auch in Zeiten des Homeschoolings alle Schülerinnen und Schüler zu erreichen und Bildungschancen zu wahren. Wir haben in unserer Studie zeigen können, dass Eltern, die sich wenig unterstützt gefühlt haben, häufiger angeben, dass ihre Kinder weniger gelernt haben in der Zeit. Außerdem stellten wir in unserer Erhebung auch fest, dass Kinder deutlich weniger Zeit in die Schule investiert haben. Nur 16 Stunden durchschnittlich pro Woche, statt wie sonst 30 und mehr. Darin könnte eine große Gefahr von langfristigem Homeschooling liegen – und zwar, wenn sich die verpasste Zeit mittelfristig negativ auf Bildungsabschlüsse auswirkt. Allerdings werden das erst weitere Studien genau zeigen. Auch im Nationalen Bildungspanel werden wir weiter untersuchen, wie gut die Schülerinnen und Schüler tatsächlich gelernt haben und wie sich ihre Kompetenzen entwickelt haben.
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Wie gelingt Homeschooling?
Mal abgesehen von der passenden Technik braucht es vor allem gut durchdachte Aufgaben, passende Materialien und verständliche Arbeitsaufträge, die die Schülerinnen und Schüler selbstständig und sinnvoll bearbeiten können. Im Prinzip braucht es genau das auch im normalen Schulalltag. Doch ein wichtiger Faktor aus dem Klassenzimmer kommt im Homeschooling oft zu kurz – und zwar das unmittelbare Feedback zu aufkommenden Fragen und die Begleitung der Aufgaben durch die Lehrkräfte. Zum Beispiel haben wir festgestellt, dass Kinder mit schlechteren Lesekompetenzen auch größere Schwierigkeiten beim Homeschooling hatten. Aus unserer Sicht sind deshalb mehr interaktive Formate oder eben die Rückkehr zum Wechselmodell mit halben Klassen sehr wichtig. Werden nur Materialien und Aufgaben verschickt, und kommt die unmittelbare Rücksprache mit den Lehrkräften zu kurz, dann leiden darunter vor allem die schwächeren Schülerinnen und Schüler.
Wie muss die Begleitung durch die Lehrkräfte aussehen?
Je länger die Schulen geschlossen bleiben, desto wichtiger werden kreative, interaktive Ideen zum Lernen außerhalb des Klassenzimmers. Eine Schulcloud sollte eben nicht nur genutzt werden, um Materialien zu Verfügung zu stellen. Die Lehrkräfte sollten für ihre Klassen erreichbar sein und eben auch Feedback zum Lernen geben – nicht nur per Mail, sondern am besten im direkten Gespräch am Telefon oder per Videokonferenz. Immerhin sind Lob und konstruktive Rückmeldung für die geleistete Arbeit eine große Lernmotivation. Auch die Elternarbeit ist wichtig. Die Lehrkräfte sollten im besten Fall auch den Eltern Tipps geben, wie sie ihre Kinder beim Lernen unterstützen können.
Und was können die Eltern tun?
Gerade in den unteren Klassen brauchen Kinder einfach die Unterstützung ihrer Eltern, zum Beispiel beim Verstehen der Aufgaben, bei der Strukturierung und Planung des Schultags oder beim Starten einer Videokonferenz mit der Klassenlehrerin. Ältere Schülerinnen und Schüler sind dabei sicherlich selbstständiger. Trotzdem brauchen auch sie Begleitung, vielleicht weniger inhaltlich oder bei der Lernorganisation. Lobende Worte für geleistete Arbeit oder ein Interesse für die Aufgaben tun in jedem Alter und nicht nur während des Homeschoolings gut.
Wie können Eltern mit Lernkonflikten umgehen? In den sozialen Netzwerken gibt es zahlreiche Berichte von weinenden und überforderten Grundschülern und unwilligen Teenagern im Homeschooling.
Ich glaube, Planung und Struktur sind immens wichtig. Die Schülerinnen und Schüler sollten sich nicht von einem Berg von Aufgaben erschlagen fühlen. Sinnvoll sind kleinere Lerneinheiten, mit klaren Pausenzeiten und Belohnungen zur Lernmotivation – zum Beispiel in Form von Medienzeit oder Lieblingsspeisen. Ganz wichtig sind natürlich auch Feedback und Lob zu Lernfortschritten. Mit solchen Maßnahmen lassen sich viele Konflikte umschiffen. Kommt es doch zum Streit, sollte man möglichst schnell zu starke Emotionen beiseite schieben und lieber nach den Gründen für den Frust und nach möglichen Lösungen suchen.
Mal ein radikaler Gedanke zum Abschluss: Was spricht eigentlich gegen ein bis drei Monate Homenothing statt Homeschooling? Natürlich mit entsprechender Verschiebung der Abschlussprüfungen und dem Wegfall vom Sitzenbleiben.
Auf den ersten Blick scheint diese im Moment sehr populäre Idee attraktiv. Doch dabei wird schnell übersehen, dass es eine wichtige Aufgabe von Schule ist, Bildungschancen zu wahren. Ich vermute, eine längere Schließung der Schulen würde eher Bildungsunterschiede vergrößern, als die Situation in den Familien wirklich entspannen. So würden wahrscheinlich leistungsstarke und lernmotivierte Schülerinnen und Schüler auch ohne Homeschooling weiter Bildungsangebote wie virtuelle Museumsrundgänge oder Lern-Apps nutzen und vielleicht sogar weiter an schulischen Inhalten arbeiten. Kinder, die beim Lernen größere Schwierigkeiten oder vielleicht sogar einen Förderbedarf haben, trifft der gänzliche Wegfall von Unterricht vermutlich umso härter. Gleiches gilt für Familien, die ihre Kinder eben nicht durch die entsprechende Ausstattung und die Zeit unterstützen können. Deshalb sollten wir uns eher Gedanken um stärker interaktive Formate im Homeschooling und eine schnelle und sichere Rückkehr zu Präsenzformaten machen als über den weiteren Wegfall von Unterricht.