Pizza, Pizza und noch mal Pizza: Wie schlimm ist einseitige Ernährung bei Kindern?
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/WNBLKMBJRVCUVGMYE2EEKLBG6E.jpeg)
Viele Eltern sehen es nicht gern, wenn sich ihre Kinder ungesund und einseitig ernähren. Doch das muss nicht nur schlecht sein – und kann zumindest vorübergehend auch dem Familienfrieden dienen.
© Quelle: Tobias Hase/dpa
Hannover. Blind durch Fast Food? Eine Meldung aus England, wonach ein 17-Jähriger infolge jahrelanger einseitiger Ernährung bleibende Sehschäden erlitt, hat auch Eltern hierzulande erschreckt. Dass Kinder und Jugendliche beim Essen sehr wählerisch sind, ist nämlich ein häufiges Phänomen: Manche essen Tag für Tag Pizza, andere Pommes oder den immergleichen Pudding. Experten wiegeln allerdings ab: Meistens handelt es sich dabei um Phasen, die von selbst vergehen und keine Schäden hinterlassen. „Die Ängste sind oft übertrieben“, sagt Prof. Dr. Ulrich Voderholzer, Experte für Essstörungen von der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee. Auch bei einer wenig abwechslungsreichen Ernährung kommen Mangelzustände selten vor.
„Der Fall in England ist definitiv sehr ungewöhnlich“, betont Voderholzer. „Einen ernährungsbedingten Vitaminmangel sehen wir sonst zum Beispiel bei Alkoholikern, die sich extrem einseitig ernähren.“ Bei dem jungen Engländer, über den im September im Fachmagazin „Annals of Internal Medicine“ berichtet wurde, haben Ärzte eine ernährungsbedingte Optikusneuropathie festgestellt. Ursache war offenbar ein Mangel an Vitamin B 12 sowie weiterer Nährstoffe. Der Junge hatte demnach jahrelang nur Pommes, Chips, Weißbrot und verarbeitetes Schweinefleisch gegessen.
Gesundes Misstrauen gegenüber unbekanntem Nahrungsmitteln
Er litt an einer selektiven Essstörung, wie sie erst seit wenigen Jahren in der medizinischen Fachliteratur beschrieben wird. Dabei zeigen die Betroffenen auffällig wenig Interesse an Nahrung oder meiden bestimmte Lebensmittel, etwa aufgrund ihrer Beschaffenheit oder ihres Geruchs. Bei Kindern kann es daher zu Untergewicht oder Wachstumsstörungen kommen. „Einer Studie zufolge sind 3 Prozent der Acht- bis 13-Jährigen betroffen“, sagt Voderholzer. „Solche Angaben sind aber mit Vorsicht zu genießen.“
Hintergrund einer solchen Störung könnten belastende oder traumatische Erlebnisse sein, die mit Essen in Verbindung gebracht werden, erklärt der Psychiater. Oft leiden die Betroffenen zusätzlich an Angst- beziehungsweise Zwangsstörungen oder auch an einer Krankheit aus dem autistischen Spektrum.
Immer das Gleiche zu essen gibt Kindern ein Gefühl von Sicherheit.
Prof. Dr. Ulrich Voderholzer, Experte für Essstörungen von der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee
Klar ist jedenfalls: Eine selektive Essstörung ist weit mehr als ein überkritisches Verhalten beim Essen, wie es viele Kinder zeitweise an den Tag legen. Dieses „picky eating“, wie es im Englischen auch genannt wird, ist vor allem bei den Jüngsten weit verbreitet. Bei Kleinkindern beruht das Misstrauen gegenüber neuen Speisen auf einem gesunden Instinkt: „In dem Alter, in dem Kinder alles in den Mund stecken, ist es von der Evolutionsbiologie her sinnvoll, vorsichtig zu sein“, erklärt Prof. Dr. Mathilde Kersting vom Forschungsdepartment Kinderernährung der Universitäts-Kinderklinik Bochum. Das heißt: Von der Natur sind Kinder mit einer gesunden Portion Skepsis gegenüber unbekannten Nahrungsmitteln ausgestattet – schließlich könnten sie unverträglich sein. Vor allem auf Bitterstoffe reagieren viele besonders empfindlich, da Bitteres giftig sein könnte. Daher spucken Kleinkinder grünes Gemüse wie Spinat, Zucchini oder Rosenkohl häufig wieder aus.
Merkwürdigen Essgewohnheiten keine Aufmerksamkeit schenken
Warum aber auch noch ältere Kinder oft wenig aufgeschlossen gegenüber neuen Speisen sind, ist unklar. Manche reagieren offenbar besonders sensibel auf Geruch und Geschmack. Voderholzer erklärt: „Auch das kleinste bisschen Zwiebel riechen sie sofort.“ Außerdem spielt Ängstlichkeit häufig eine Rolle. „Immer das Gleiche zu essen gibt Kindern ein Gefühl von Sicherheit.“
Wenn das Kind Kartoffeln mit Spinat nicht essen will, dann räumt man den Teller ruhig ab und macht kein Drama daraus.
Prof. Dr. Mathilde Kersting, Forschungsdepartment Kinderernährung der Universitäts-Kinderklinik Bochum
In der Regel tun Eltern gut daran, den merkwürdigen Gewohnheiten ihrer Sprösslinge keine große Aufmerksamkeit zu schenken. „Am besten beachtet man so etwas nicht weiter und lässt das Kind seine Pizza essen“, sagt Mathilde Kersting. „Irgendwann wird es ihm langweilig werden.“ Der Familienalltag sollte davon möglichst unberührt weiterlaufen. „Wenn das Kind Kartoffeln mit Spinat nicht essen will, dann räumt man den Teller ruhig ab und macht kein Drama daraus.“ Hat das Kind dann eben Pech gehabt? „Ja“, antwortet Kersting trocken. Auf keinen Fall sollten Eltern als Ersatz etwa einen Pudding hinterherreichen. Die Zeit bis zur nächsten Mahlzeit wird das Kind unbeschadet überstehen – und dann bestimmt mehr Appetit haben.
Kräfteraubende Machtspiele sind mitunter die Folge
Ähnlich äußert sich der Lindauer Kinderarzt und -Psychotherapeut Dr. Harald Tegtmeyer. „In der Regel kann man Eltern beruhigen“, betont er. „Dass es durch ‚picky eating‘ zu körperlichen Schäden kommt, ist sehr selten.“ Allerdings kann ein schwieriges Essverhalten bei Kindern zu einer Belastung für die ganze Familie werden. „Wenn es mit dem Essen nicht richtig klappt, aktiviert das Ängste bei den Eltern. Vor allem Mütter werden dann nervös.“ Daher kommt es immer wieder vor, dass Eltern ihren Kindern aus lauter Sorge das Essen hinterhertragen, sie drängen, anbetteln oder jederzeit ihre Lieblings-Gerichte bereithalten. Daraus können sich kraftraubende Machtspiele zwischen Eltern und Kind entwickeln. „Ich sehe ‚picky eating‘ vor allem als familiendynamisches Problem“, sagt Tegtmeyer. Ein Großteil der Schwierigkeiten beruhe darauf, dass Kinder genau spüren, dass sie mit ihren Essgewohnheiten bei den Erwachsenen an einen wunden Punkt rühren. Dafür spricht auch die Beobachtung, dass betroffene Kinder außerhalb der Familie – etwa in der Schule oder bei Freunden – oft erstaunlich normal essen.
In der Regel kann man Eltern beruhigen. Dass es durch ‚picky eating‘ zu körperlichen Schäden kommt, ist sehr selten.
Dr. Harald Tegtmeyer, Kinderarzt und -Psychotherapeut aus Lindau
Und wann muss man sich doch Sorgen machen? „Ein Alarmzeichen ist, wenn das Essverhalten Auswirkungen auf das soziale Miteinander hat“, sagt Voderholzer. Das ist dann der Fall, wenn ein Kind sich zum Beispiel nicht einmal auf einer Geburtstagsparty beim Essen anpassen kann. Auch dann, wenn die Ernährung längere Zeit extrem einseitig ausfällt oder das Thema Essen zum massiven Problem in der Familie geworden ist, sollte man den Kinderarzt einschalten. Grundsätzlich rät Voderholzer Eltern dazu, beim Essen ein Vorbild abzugeben und sich zum Beispiel selbst abwechslungsreich zu ernähren. Außerdem sollten Familien auf geregelte Essenszeiten sowie eine entspannte Atmosphäre bei Tisch achten. „Wir beobachten: Menschen, die Essstörungen haben, haben zu Hause oft keine geregelte Mahlzeitenstruktur.“
Diese Tipps können die Mahlzeiten mit Kindern erleichtern:
- Feste Zeiten: Experten raten, klare Essenszeiten festzulegen. Dabei sollten eine freundliche, ruhige Atmosphäre herrschen und klare Regeln – etwa ein Handyverbot – eingehalten werden. Gut ist es, wenn die Familie zumindest zu einer Mahlzeit täglich zusammenkommt.
- Keine Snacks: Nach einer Mahlzeit sollte zwei, drei Stunden nichts gegessen und außer Wasser oder ungesüßtem Tee auch nichts getrunken werden. Wer zwischendurch ständig Kleinigkeiten futtert (z. B. Süßigkeiten, Milchprodukte, aber auch nahrhaftes Obst wie Bananen), wird beim nächsten Essen keinen Appetit haben.
- Vorbild sein: Eltern, die sich Zeit fürs Essen nehmen, es genießen, sich nicht ablenken lassen und auf ihre Tischsitten achten, sind gute Vorbilder. Es ist für Kinder auch wichtig zu sehen, dass die Großen für unbekannte Speisen aufgeschlossen sind.
- Keine Zwänge: Erzieher und Eltern können Kinder zwar dazu anregen, neue Speisen auszuprobieren. Ein „Nein“ sollte aber akzeptiert werden. Übermäßige Strenge („Du musst das aufessen!“) wirkt eher kontraproduktiv.
- Mitmachen: Wenn sie selbst kochen oder zumindest mithelfen dürfen, schmeckt Kindern meist alles besser. Auch ganz Kleine können schon Pizza belegen oder beim Tischdecken mithelfen.
- Finger Food: Viele Kinder essen Gemüse lieber roh. Auch das Auge isst mit: Deshalb werden viele Gemüse-Muffel schwach, wenn sie einen Teller mit Cocktailtomaten, Karotten- und Paprikasticks vor sich haben.