Immer in Bewegung: Warum wollen wir selbst in der Krise immer fitter werden?
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Machen wir während der Corona-Krise weiter wie bisher oder denken wir über unser Leben im Hamsterrad nach?
© Quelle: iStock
Die Sätze gleichen sich: Wer in diesen Tagen und Wochen mit Familienangehörigen, Freunden und Bekannten spricht, mailt oder sonstwie kommuniziert, hört sie immer wieder. Die Zwangspause, in die das Coronavirus unser Land gestürzt hat, habe vielleicht auch ihr Gutes, heißt es dann. Jetzt könnten sich Menschen darauf besinnen, was wirklich wichtig sei – dass es vor allem darauf ankomme, gesund zu sein; dass man spüre, wie wichtig gute Freunde und hilfsbereite Nachbarn seien.
Und oft fällt dann etwas später noch ein Satz: Jetzt habe man die Möglichkeit, zu tun, was man immer schon mal angehen wollte. Damit sind nicht das Aufräumen der Garage oder das Erledigen der Steuererklärung gemeint. Nein, jetzt sei der richtige Moment, endlich den Onlinesprachkurs für Business-Englisch zu beenden, die morgendliche Joggingrunde auszudehnen und regelmäßig die anstrengenden Poweryoga-Einheiten zu absolvieren. Die sind, wie praktisch, nicht nur gut fürs Gemüt, sondern straffen auch noch Bauch, Beine, Po.
Jeder ist seines Glückes Schmied - dieser Satz steckt in unseren Köpfen
Wer solche Sätze hört oder im Netz liest, kann sich schon fragen: Sollen wir die Zwangspause infoge des Coronavirus etwa als „kreative“ Auszeit nutzen, um an unseren „Potenzialen“ zu arbeiten? Sollen wir daran feilen, die „beste Version unserer selbst“ zu werden, wie das im Selbstoptimierungsjargon gern heißt?
Was viele Coaches, Fitnesstrainer und Autoren von Ratgebern versprechen, klingt durchaus verlockend. Sie stellen in Aussicht, dass Absolventen ihrer Trainings mehr Leistung erbringen, mehr Muskelmasse aufbauen, besser schlafen und bei all dem noch schneller entspannen können. Dieses mehr, mehr, mehr haben die meisten von uns verinnerlicht. Der Druck, sich gut aussehend, gut gelaunt und gut vernetzt zu präsentieren, ist in den vergangenen Jahren rasant gestiegen, seit die sozialen Medien einen immer größeren Stellenwert in unserem Alltag erreichen. Zudem hat sich die Überzeugung, dass jeder seines Glückes Schmied sei, in vielen Köpfen festgesetzt. Das bedeutet, dass man für dieses Glück eine ganze Menge tun muss.
Es ist nichts dagegen zu sagen, morgens zu joggen, nachmittags eine Einheit Japanisch zu lernen und abends Sit-ups zu trainieren. Doch es ist mitunter schwer, für sich selbst zu erkennen, was man aus dem Druck heraus absolviert, im Wettstreit um berufliche und private Anerkennung möglichst erfolgreich abzuschneiden – und was aus tatsächlicher Freude an Bewegung und am Lernen geschieht. Was also der von außen geleiteten Selbstoptimierung für den Wettkampf des Lebens gilt und was eher ein Ausdruck von innerer Selbstbestimmung ist. Diese setzt voraus, sich nach den eigenen Bedürfnissen zu fragen, danach, was einem guttut, und zu versuchen, seinen eigenen Rhythmus zu finden.
Dazu kommt: Der Drang oder die Selbstverpflichtung, unsere Zeit „sinnvoll“ zu nutzen, ist enorm. Es spricht nichts dagegen, die Zeit, die wir sonst in Kneipen und Restaurants, in Theatern und Kinos verbracht haben, nun mit ausgedehntem Faszien- oder Mentaltraining zu füllen. Doch die Frage ist, ob man da nicht schon wieder in eine Falle tappt. Ob solche Aktivitäten, exzessiv ausgeübt, nicht eher ein Zeichen dafür sind, dass wir Stille und Stillstand nicht mehr aushalten können und dass wir unser Denken und Handeln vor allem danach ausrichten, was einen praktischen Nutzen hat. Zeit einfach mal verplempern? Bloß nicht! Und wer es sich doch traut, sollte das bewusst tun. Dann immerhin gehört man zu denjenigen, die dem „Niksen“ frönen, wie der aus den Niederlanden kommende Trend zum „bewussten Nichtstun“ genannt wird.
Hängt unser Drang zur Selbstoptimierung mit unserer Angst zusammen?
Vielleicht haben Unrast und Drang zur Selbstoptimierung derzeit viel mit Angst zu tun – vor der eigenen Erkrankung oder der eines Familienmitglieds oder Freundes, vor der drohenden Wirtschaftskrise, vor Kurzarbeit und Jobverlust. Den meisten von uns fällt es leichter, sich beschäftigt und dadurch in gewisser Hinsicht wichtig zu präsentieren als traurig und verunsichert. Dabei sei es wichtig, sich Ängste einzugestehen, meint der Berliner Psychotherapeut und Autor Wolfgang Krüger. „Wir spüren sehr deutlich, wie sehr wir dem Schicksal ausgeliefert sind. Dem sollten wir uns stellen, dies dürfen wir nicht verdrängen. Wenn wir diese Abhängigkeit von Schicksalskräften überspielen, entsteht jener menschliche Größenwahn, bei dem man denkt, man könne alles und jedes bestimmen.“ Eine gewisse Demut gegenüber dem Weltgeschehen sei erstrebenswert.
Verunsicherung, Wandel und Verwirrung gehören zum menschlichen Lebendigsein, schreibt die Philosophin Ina Schmidt in ihrem aktuellen Buch „Über die Vergänglichkeit. Eine Philosophie des Abschieds“. Schmidt fragt, wie uns eine „Ethik der Verletzlichkeit“ gelingen könne – „die uns eine Alternative zur ewigen Siegerpose bieten kann und die sich fragt, wie wir am Leben leiden und es dennoch leben wollen“.
Reflexion statt weiter im Hamsterrad zu rennen
Selbstoptimierungsbestrebungen sind des Öfteren mit Siegerposen verbunden – aber genauso mit der Sorge, womöglich als „Verlierer“ zu gelten. Sie signalisieren: Ich tue etwas für mich, ich arbeite an mir. Diese Botschaft ist meist zugleich an andere wie an einen selbst gerichtet, dient der Selbstvergewisserung. Doch Selbstoptimierung sei vor allem Selbstbetrug, meint die Journalistin Isabell Prophet, Autorin des Buches „Wie gut soll ich denn noch werden?! Übertriebene Ansprüche an uns selbst“. Es gehe nicht darum, mit weniger Aufwand etwas Gutes zu erreichen, sondern Zusätzliches zu schaffen – mehr Arbeit, mehr Hausarbeit und nicht zuletzt mehr Konsum.
Dabei ist vielleicht angesichts der Corona-Pandemie der richtige Moment, dieses schneller, höher, weiter zu reflektieren, statt noch atemloser im Hamsterrad zu rennen und noch schnell einen Onlinekurs bei einer Lernplattform zu buchen. Auch wenn für viele Homeoffice und Kinderbetreuung anstrengend sind, ergibt sich vielleicht die Chance, einen anderen Blick auf unseren Alltag zu werfen und sich zu fragen, ob wir unser Privat- und Berufsleben demnächst anders gestalten wollen. Ob wir nicht etwas von der erzwungenen Entschleunigung beibehalten wollen.
Aber klar ist auch: Sinnstiftende Beschäftigung, die den Alltag strukturiert, ist wichtig, nahezu lebenswichtig. Das weiß jeder, der schon einmal aus dem „Normalalltag“ herausgefallen ist, etwa durch Arbeitslosigkeit, eine schwere Erkrankung oder einen großen Verlust. Eindringlich erzählt davon Isabel Bogdan in ihrem erfolgreichen Roman „Laufen“. Die Protagonistin hat ihren Lebenspartner durch Suizid verloren und ist in den Monaten danach vor Trauer innerlich nahezu erstarrt. Irgendwann schnürt sie ihre Sportschuhe und beginnt vorsichtig, beinahe tastend mit dem Laufen; dadurch findet sie langsam ins Leben zurück. Sie gestaltet ihr Leben wieder, kann wieder souverän handeln. Dass körperliche Bewegung in der Corona-Krise wichtig ist, erklärt auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und meint das auch als Tätigkeit, die dem Alltag im Ausnahmezustand Struktur gibt.
“Wir sollten etwas finden, wo wir Zeit und Raum vergessen und glücklich sind”
Um die jetzige Krise gut zu überstehen, müssten wir aktiv werden, sagt Therapeut Krüger. Damit meint er: Wir müssten eine innere Welt schaffen, die wichtiger ist als die Schicksalsmächte, die uns verunsichern. Diese innere Welt zu schaffen, etwa durch Lesen oder Lernen, sei immer eine kreative Leistung. „Wir sollten etwas finden, wo wir uns gern anstrengen, Zeit und Raum vergessen und glücklich sind, wenn wir unser Wissen, unsere Fähigkeiten erweitert haben.“
Dass lernen und laufen glücklich machen, propagieren Glücks- und Resilienzforscher schon lange. Wer da zurzeit aktiv ist, dürfte also durchaus schöne Momente erleben. Individuelles Wohlbefinden ist auch in Krisenzeiten nicht moralisch verwerflich. Doch tut nicht auch der für sich etwas Gutes, der lernt, sich Verunsicherung und Verletzbarkeit einzugestehen und auszuhalten? Die Trainingsapp muss man ja trotzdem nicht löschen.