Ifo-Studie zu Lockdowns: womöglich deutlich mehr häusliche Gewalt als bislang bekannt
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In der Corona-Krise sind Frauen und Mädchen besonders von häuslicher Gewalt bedroht.
© Quelle: Serghei Turcanu/iStockohoto.com
Wissenschaftler des Münchner Ifo-Instituts befürchten, dass es während der Pandemie zu deutlich mehr häuslicher Gewalt gekommen ist, als aus Polizeistatistiken hervorgeht. Das Bundeskriminalamt hatte zuletzt eine Zunahme der Partnerschaftsgewalt um 4,4 Prozent verzeichnet. „Das dürfte nur eine Untergrenze des tatsächlichen Anstiegs darstellen“, sagte Helmuth Rainer, Autor einer nun veröffentlichten Ifo-Untersuchung, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Rainer sowie seine Kollegen Dan Anderberg und Fabian Siuda machen das an Zahlen aus London fest. Die Statistiker kombinierten Daten der Londoner Polizei mit anonymisierten Daten zu häufig gesuchten Begriffen bei Google. Während des Lockdowns im März 2020 wurde demnach etwa 40 Prozent häufiger nach Schlagworten, die für Betroffene häuslicher Gewalt relevant sein könnten, gesucht. „Dieser Effekt ist sieben- bis achtmal stärker als der durch Polizeidaten gemessene Anstieg“, heißt es nun in der Studie zu London.
Mehr häusliche Gewalt im Lockdown
Zugleich fußt die Untersuchung auf einem langfristigen Vergleich, was sie vergleichsweise aussagekräftig macht: Zwischen 2015 und 2019 fanden die Wissenschaftler einen klar erkennbaren Zusammenhang zwischen der Häufigkeit von Google-Suchbegriffen und amtlichen Kriminalstatistiken. Doch nach dem Corona-Lockdown sei die Zahl der Suchanfragen deutlich stärker als die Zahl der Anzeigen bei der Polizei gestiegen. Das ist ein Hinweis darauf, dass die häusliche Gewalt zugenommen hat, ohne dass sich das in den Polizeistatistiken niederschlägt.
Gegenüber dem RND warnte Rainer zwar, dass die Größenordnung der Ergebnisse aus London nicht auf Deutschland übertragbar seien. Allerdings habe man durchaus zeigen können, dass polizeiliche Statistiken den tatsächlichen Anstieg häuslicher Gewalt während des ersten Pandemiejahres stark unterschätzten. „Man darf davon ausgehen, dass das auch in Deutschland der Fall war“, meint Rainer, der beim Ifo-Institut das Zentrum für Arbeitsmarkt- und Bevölkerungsökonomik leitet.
BKA geht von hoher Dunkelziffer aus
Schon das BKA hatte bei der Vorstellung seiner Zahlen vor einer hohen Dunkelziffer gewarnt, die Behörde sowie das Familien- und das Innenministerium planen weitere Untersuchungen. Während das BKA von einer Zunahme der Partnerschaftsgewalt um 4,4 Prozent berichtete, geht der Weiße Ring entlang eigener Erhebungen von etwa 6 Prozent mehr häuslicher Gewalt aus. Frauenhäuser und -notrufe hatten während der Pandemie von einem noch deutlicheren Plus berichtet.
Häusliche Gewalt, die sich meist gegen Frauen und Kinder richtet, ist laut BKA schwer zu erfassen, weil sich Betroffene häufig nicht an Behörden und Hilfseinrichtungen wenden. Partnerschaftsgewalt sei immer noch ein Tabuthema in der Gesellschaft, auch bestehe oft eine finanzielle Abhängigkeit vom Täter sowie die Sorge, was mit gemeinsamen Kindern geschehe, hatte BKA-Präsident Holger Münch unlängst erklärt. Die neuen Ergebnisse deuten aus Sicht der Ifo-Forscher allerdings auch darauf hin, dass Betroffenen wegen Lockdowns und Selbstisolation die Möglichkeit fehlte, sich überhaupt Hilfe zu suchen.
Forscher setzen auf unkonventionelle Datenquellen
Die Ifo-Wissenschaftler betonen indes auch, dass die Nutzung von Google-Daten zur Forschung auch in Zukunft relevanter werden könnte. Bislang sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler diesbezüglich noch zurückhaltend. „Viele Krisen – wie die derzeitige Pandemie, schwere wirtschaftliche Abschwünge oder Naturkatastrophen – bergen das Risiko, dass häusliche Gewalt zunimmt. Herkömmliche Datenquellen sind jedoch oft nicht aussagekräftig genug“, zeigte sich Rainer überzeugt.