Hirnforscher Henry Markram: „Autisten fühlen viel mehr als wir“
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Kai Markram ist Autist. Sein Vater, Hirnforscher Henry Markram, suchte nach Besonderheiten in den Gehirnen von Betroffenen. Seine „Intensive Welt Theorie“ stellt vieles auf den Kopf, was man über Autismus zu wissen glaubte.
© Quelle: privat
Hannover. Dieses Jahr fällt der Weltautismustag 2020, immer am 2. April und von den Vereinten Nationen begründet, in eine schwierige Zeit. Der deutsche Bundesverband autismus Deutschland e.V. warnt aufgrund der Corona-Epidemie und dem damit einhergehenden Kontaktverbot, dass die Therapien ausgesetzt werden. Es sei zu erwarten, “dass Menschen mit Autismus durch diese Unterbrechung Schaden nehmen werden”, schreibt der Verein in einer Pressemitteilung und appelliert an deutsche Autismus-Zentren, ihre Behandlungen auch weiterhin durchzuführen.
Autismus wird als Entwicklungsstörung des zentralen Nervensystems angesehen. Zum Weltautismustag spielt das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) ein Interview aus dem Archiv von vor einem Jahr erneut aus. Der Hirn- und Autismusforscher Henry Markram erklärt im Gespräch, was seiner Meinung nach bei der Erforschung der Krankheit schief läuft, wie die Beziehung zu seinem autistischen Sohn verläuft - und wie einfühlsamer mit Autisten umgegangen werden könnte.
Prof. Markram, wie sprechen Sie als Neurologe über den Autismus Ihres Sohnes Kai? Sprechen Sie von Krankheit oder psychischer Störung oder ...?
Ich denke, im Zusammenhang mit Autismus ist „atypisches Gehirn“ die angemessene Beschreibung – als Gegenstück zum typischen, also normalen Gehirn. Wenn die Diskussion tiefer geht, sprechen wir von Störungen im Autismusspektrum.
Und als Vater, was sagen Sie da?
Als Vater sage ich, dass Kai sehr anders ist, einzigartig und besonders.
Wie haben Sie und Kais Mutter anderen Menschen auf die unvermeidliche Frage geantwortet, was mit Ihrem Kind „nicht stimmt“?
Mit den gleichen Worten: Er ist anders, er ist besonders – und wenn nötig, erklären wir mehr.
Wann haben Sie denn das erste Mal gemerkt, dass Kai anders auf die Welt reagiert als seine großen Schwestern?
Ich denke, als er noch mit seiner Mutter in der Geburtsklinik war. Die meisten Neugeborenen liegen mit geschlossenen Augen da und schlafen ganz viel. Kai aber war hellwach, seine Augen waren weit offen und er hat sofort versucht, den Kopf zu heben. Ich fand das faszinierend. Ein paar Wochen später war es sein Lächeln, das uns auffiel: Alle Babys lächeln reflexhaft im Schlaf. Erst im Heranwachsen lernen wir, unseren Ausdruck der Situation anzupassen. Kai hat den Lächelreflex auch gezeigt, aber irgendwie wirkte es nicht so natürlich wie bei unseren Töchtern. Später, als er größer wurde, haben wir gemerkt, dass er breit gelächelt hat in Situationen, in denen normalerweise niemand lächelt, völlig unangemessen. Aber das waren alles nur kleine Beobachtungen, alarmiert hat uns das am Anfang nicht.
Obwohl Sie Hirnforscher sind?
Ja. Wir haben als Eltern viele Zeichen zunächst einfach als Eigenarten eines ungewöhnlichen, anstrengenden, übermäßig aktiven Kindes gesehen.
Die meisten Menschen fürchten das Anderssein. Wie anders ist denn Ihr Leben wegen Kai?
Kai bereichert uns sehr.
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Ein besonderes Familienleben: Der junge Kai Markram inmitten seiner Geschwister.
© Quelle: privat
Das klingt fast nach der Romantisierung von Autismus wie im berühmten Dustin-Hoffman-Film „Rain Man“.
Aber es stimmt. Kai fordert uns heraus, mental an Orte zu gehen, an die wir sonst nie gegangen wären, die uns wesensfremd sind. Ich bin eher schüchtern und wandere nicht einfach los, um mit Fremden zu reden. Wenn Kai dabei ist, muss ich es tun. Wir waren einmal in den Ferien auf einer Insel in Thailand. Als wir abreisten, stand das gesamte Personal in der Lobby, 50 Leute, um Kai Auf Wiedersehen zu sagen. Der Rest der Familie war völlig perplex. Kai hatte sich überall Freunde gemacht, ist in die Küche gegangen, in die Büros, er hat das Resort einfach in Besitz genommen. Er war eine Art hypersozialer Autist, völlig angstfrei in jeder sozialen Interaktion. So war er als kleiner Junge immer angstfrei, ist Ski gefahren, Snowboard, hat alles gemacht. Das hat sich im Lauf der Jahre völlig geändert. Inzwischen weigert er sich, auch nur auf Schnee zu laufen. Nur hypersozial ist er immer noch.
Ein Autist, der Freunde sammelt? Ist das nicht ein Widerspruch in sich?
Warum? Warum können Sie sich nicht vorstellen, dass Autisten ganz unterschiedliche Persönlichkeiten sind? Es gibt ein riesiges Spektrum von „normalen“ Leuten, warum sollte es dann überraschen, dass das auch für Autisten gilt? Wir unterschätzen das: Jeder Autist ist ein Individuum.
Aber was ist das dann für ein Prozess? Da ist ein Kind, das gar nicht genug Input von der Außenwelt kriegen kann – gleichzeitig wird es immer sonderbarer, schreit und tobt, hält sich im Kino die Ohren zu und ist gelähmt vor Angst. Entwickelt sich Autismus erst im Laufe der Zeit?
Es ist ein Prozess, den wir als Hirnforscher erst verstanden haben, weil Kai uns gelehrt hat, andere Fragen als bisher zu stellen und an anderen Stellen im Gehirn nach Antworten zu suchen. Dieser Prozess beginnt mit einer enormen Aufnahmefähigkeit des autistischen Gehirns – und endet in Schmerzen und Qual wegen dieser Intensität.
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Gipfelstürmer: Wenn Kai Markram (r.) seinen Vater in der Schweiz besucht, gehen die beiden gerne wandern. Momentan lebt Kai bei seiner Mutter in Tel Aviv.
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Die Intense World Theory (Intensive Welt-Theorie), die Sie und Ihre zweite Frau Kamila entwickelt haben, ist von anderen Forschern akzeptiert und bestätigt worden. Manche aber lehnen sie bis heute ab. Wo ist der Konflikt?
Die alte Schule sagt: Autisten mangelt es an Empathie. Sie sind quasi unsoziale Wesen. Ihr Gehirn ist nicht aktiv genug, oder es stellt nicht die richtigen Verbindungen her. Das alles passte aber nicht mit unserer eigenen Erfahrung zusammen. Deshalb sind wir selbst eingestiegen in die Erforschung des Autismus. Uns war aufgefallen: Kai will lieben, er will geschätzt werden, und er will mit anderen Menschen kommunizieren. Er schafft es nur nicht, oder jedenfalls meistens nicht, das so zu tun wie „normale“ Menschen.
Wie sind Sie vorgegangen?
Wir haben uns bei Experimenten mit autistischen Ratten auf den Teil des Gehirns konzentriert, in dem Gefühle, das Gedächtnis und vor allem die Wahrnehmung verortet sind. Dabei haben wir nach vielen Fehlschlägen herausgefunden: Autisten empfinden nicht weniger, sondern viel mehr als andere. Die neuronalen Mikroschaltungen in ihrem Gehirn sind ständig überladen. Die Hirnareale, die für Wahrnehmung, Gedächtnis und Emotionen zuständig sind, sind hyperaktiv. Autisten leben in einer Welt, die über alle Maßen laut und grell und so intensiv ist, dass es wehtut. Und Angst macht.
Und deshalb reagieren sie irgendwann mit Rückzug und Blockaden, aus reinem Selbstschutz?
Unmittelbar nach der Geburt muss das Gehirn sich nicht schützen, da sind alle Tore weit auf, die Welt strömt hinein, es ist alles sehr aufregend. Das Gehirn der meisten Autisten lernt sehr schnell, es speichert und erinnert viel effektiver als das normale Gehirn, es läuft ständig auf Hochleistung – deshalb aber reagiert es auch zu stark auf Reize, und es erinnert zu viel. Vor allem schlechte Erfahrungen, die vergisst es nie. Das führt zu vielen Mikrotraumata. Und das ist das große Drama für Autisten, das sich erst in unserer Forschung erschlossen hat: Ihr Gehirn ist unfähig, eine negative Erfahrung einzuordnen und durch eine positive Erfahrung oder auch nur das Ausbleiben einer Wiederholung zu überschreiben.
Wie meinen Sie das?
Wenn ich in einen gelben Tisch stolpere, dann sag’ ich mir selbst, dass ich nicht aufgepasst habe, entspanne mich wieder und weiß, dass gelbe Tische nicht per se schlecht sind. Wenn Kai in einen gelben Tisch stolpert, dann vergisst er das nie und hat immer Angst vor einem gelben Tisch, und dann stolpert er in etwas anderes, wovor er dann auch immer Angst hat. Irgendwann ist ein autistischer Mensch wie in einem Käfig zwischen all diesen Dingen und Situationen, die Angst vor Schmerzen verursachen. Dann ist die Welt sehr bedrohlich.
Wie geht Ihre Familie damit um?
Über die Jahre und vor allem dank der Forschung haben wir gelernt, die ersten Anzeichen einer Panikattacke in Kai wahrzunehmen. Was er am meisten braucht, ist Sicherheit, er muss wissen, was der Plan für den Tag ist, wohin wir wann und mit wem gehen. Wenn er diese Berechenbarkeit nicht hat, dann fühlt er sich, als ob er im All herumgeschubst wird. Wenn wir reisen, dann lesen wir unsere Umgebung. Wenn es laut wird, überraschend, spannungsgeladen, wenn die Farben an einem Ort sehr grell sind, dann nehmen wir das wahr und steuern gegen. Sonst endet es in einer Katastrophe.
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Henry Markram sagt heute über den spät erkannten Autismus seines Sohnes: „Hätten wir mehr gewusst, wären wir nicht mit dem kleinen Kai um die Welt gereist, hätten ihm einen fest strukturierten Alltag gegeben.“
© Quelle: privat
Erspüren Sie potenzielles Chaos, auch wenn Sie nicht mit Kai zusammen sind?
Ich denke schon, dass wir aufmerksamer geworden sind. Das heißt nicht, dass wir die Welt so erleben, wie Kai sie erlebt. Die Ironie ist doch: Die meisten Leute sehen in Autisten bis heute einen Mangel an Mitgefühl. Aber uns „Normalen“ fehlt die Empathie, um den Schmerz zu verstehen, dem Autisten ausgesetzt sind. Das habe ich erst durch die Intense World Theory erkannt, und es hat uns alle in der Familie ein bisschen mehr Nachdenklichkeit gelehrt. Ich glaube, dass wir uns wegen Kai bewusster sind, wie gering unser Verständnis für die Gefühle anderer Menschen ist.
Sie haben einem deutschen Journalisten erlaubt, Sie und Ihre Familie zu begleiten und ein Buch über Ihre private und wissenschaftliche Reise mit Kai zu schreiben. Warum setzen Sie sich – und damit auch Kai – dieser Veröffentlichung des Privaten aus?
Weil Autismus für jede Familie eine Tragödie ist. Wir glauben, dass der Schlüssel zu einem guten Leben mit einem autistischen Kind Wissen ist. Und wir glauben, dass wir so viel über den Umgang mit autistischen Kindern gelernt haben, dass wir es wenigstens versuchen sollten, anderen Eltern zu helfen.
Was raten Sie denn diesen Eltern?
Wir behaupten nicht, dass wir den Königsweg gefunden haben – macht das oder das und alles wird gut, das gibt es nicht. Aber wir können erklären, was die Überstimulation des Gehirns mit dem Kind macht und warum herkömmliche Ansätze in der Therapie kontraproduktiv sind. Ein einfaches Beispiel: duschen. Viele autistische Kinder wehren sich mit Händen und Füßen dagegen zu duschen. Diese Verweigerung, bestimmte Dinge zu tun, wird traditionell als Zwangsstörung interpretiert und die frustrierten Eltern erhalten den Rat: Versucht, das Verhalten zu ändern, die Wiederholung zu durchbrechen, stellt das Kind einfach unter die Dusche. Autistische Kinder aber spüren das prasselnde Wasser wie Messerstiche, es tut ihnen entsetzlich weh, und deshalb schreien sie, nicht weil sie merkwürdige Leute sind oder wütend. Mit dem Wissen darum lässt sich das eigene Verhalten anpassen. Dann gibt es eben ein Bad statt der Dusche oder einen ganz sanften Wasserstrahl, auf den das Kind in Ruhe vorbereitet wird.
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Kai Markram ist heute 25, lebt bei seiner Mutter in Tel Aviv und arbeitet an einem Gericht im Sicherheitsdienst.
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Die von Ihnen entdeckte Hypersensibilität ist als diagnostisches Kriterium in das jüngste US-amerikanische Diagnosehandbuch für Psychiatrie aufgenommen worden. Gibt es auch Ansätze für eine neue medikamentöse Behandlung von Autismus?
Da sehen wir im Gehirn viele mögliche Ziele – zum Beispiel die Rezeptoren, die wichtig sind für die Verarbeitung und Verstärkung von Erinnerungen. Wenn es gelingen würde, diese Rezeptoren zu dämpfen, dann könnte man potenziell auch die traumatischen Erfahrungen dämpfen und das Gehirn lernen lassen, dass sie gar nicht so schlimm waren. Ein anderes Einsatzgebiet könnte die zu starke Signalübertragung zwischen Neuronen sein. Oder wir konzentrieren uns auf Hirnregionen wie das limbische System, das in besonderer Weise dafür sorgt, dass wir lernen, emotionale Situationen einzuschätzen, und wissen, was wichtig ist und was nicht. All diese Optionen müssen überhaupt erst einmal erkundet werden. Es geht nicht um die Veränderung der Persönlichkeit.
Wird es also irgendwann möglich sein, die schwierigen Seiten des Lebens für Autisten leichter zu machen?
Die ganz große Herausforderung bei der Entwicklung von Medikamenten für Autisten ist: Jeder Autist ist einzigartig. Jeder hat ein einzigartiges Profil von Veränderungen in seinem Gehirn. Diese Einzigartigkeit hat die Wissenschaft lange verwirrt und zu dem Glauben geführt, dass es viele verschiedene Arten von Autismus gibt – und viele Gründe, die Autismus verursachen. Wir haben noch keinen Beweis, dass das falsch ist. Aber wir glauben, dass trotz der Vielfalt von autistischen Persönlichkeiten – der eine sitzt in der Ecke und schaukelt vor und zurück, der andere kann sich jedes Wort aus einem Buch sofort merken – Autismus bei allen durch die gleichen Veränderungen im Gehirn bedingt ist. Es sind lediglich unterschiedliche Regionen, die sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten verändern.
Forscher arbeiten an einem Bluttest, der eine frühe Diagnose möglich machen soll. Würde das irgendetwas ändern?
Unbedingt! Wir haben selbst erste Vorstellungen von so einem Bluttest. Wenn du von Anfang an weißt, dass dein Kind absolut alles aufnimmt und dass das irgendwann nach hinten losgeht und das Kind sich zurückzieht, dann kannst du ganz anders mit ihm umgehen. Es soll in einer normalen Welt aufwachsen – aber mit frühem Wissen kannst du es schützen vor Aufregungen und Überraschungen und zu viel Stimulation. Hätten wir mehr gewusst, wären wir nicht mit dem kleinen Kai um die Welt gereist, hätten ihm einen fest strukturierten Alltag gegeben. Deshalb ja auch das Buch: Für uns ist es zu spät, um Kai in dieser Weise zu helfen. Für andere Eltern nicht.
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Lorenz Wagner: „Der Junge, der zu viel fühlte“, Europa Verlag. 216 Seiten, 18,90 Euro.
© Quelle: Verlag
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Henry Markram wurde 1962 in Südafrika geboren, wuchs auf einer Farm in der Kalahari-Wüste auf. Nach dem Freitod eines geliebten, an Depressionen leidenden Onkels wollte der junge Mann lernen, was im menschlichen Hirn abläuft. Es wurde eine Karriere daraus, die ihn weltberühmt machte. Er studierte Medizin und Neurophysiologie, forschte in Israel und den USA, arbeitete eine Zeit lang im Team um den Physiologen und Nobelpreisträger für Medizin von 1991, Bert Sakmann, in Heidelberg. Seit 2002 leitet er das Institut für Hirnforschung an der École polytechnique fédérale de Lausanne. Dort rief er das Blue Brain Project ins Leben; Ziel ist die computerbasierte Simulation des Gehirns. 2013 ging dieses Projekt über in das von der EU mit zunächst einer Milliarde Euro geförderte Human Brain Project.
© Quelle: picture alliance /AP
Susanne Iden/RND