Heinsberg-Studie überrascht: Corona-Todesrate in Deutschland wohl sehr niedrig
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Epizentrum der Sars-CoV-2-Infektionen: Die Stadt Gangelt im Kreis Heinsberg in Nordrhein-Westfalen.
© Quelle: Roberto Pfeil/dpa
Die nordrhein-westfälische Kreisstadt Heinsberg hat es zu zweifelhaftem Ruhm gebracht: Weil in dem Landkreis auch noch nach Ausbruch des Coronavirus fröhlich Karneval gefeiert wurde, gilt Heinsberg als einer der Hotspots der pandemischen Verbreitung des Virus in Deutschland. Als Epizentrum innerhalb des Landkreises gilt der Ort Gangelt, wo sich bei einer einzigen Karnevalsveranstaltung Dutzende Menschen angesteckt hatten.
Professor Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn, hatte Anfang April für Irritationen gesorgt, als er Zwischenergebnisse der Studie mit Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) und der Unterstützung einer Berliner PR-Agentur der Öffentlichkeit präsentierte. Auftraggeber war die Landesregierung von NRW. Daraufhin wurde die Validität der Zahlen angezweifelt und unterstellt, die Urheber der Studie würden sich politisch instrumentalisieren lassen.
909 Teilnehmer aus 405 Haushalten - Sterberate bei 0,37
Jetzt legten Streeck und sein Kollege Gunther Hartmann, Direktor des Instituts für Klinische Chemie und Klinische Pharmakologie an der Universität Bonn, das sogenannte Preprint ihrer Studie auf einer virtuellen Pressekonferenz des Science Media Center vor. “Heinsberg-Studie – Immunität gegen und Letalität durch Sars-CoV-2 in der Bevölkerung in Gangelt” – so lautet der etwas sperrige Titel. Für sie hatten Streeck und sein Team 909 Teilnehmer aus 405 Haushalten in Gangelt auf eine Infektion mit dem Coronavirus untersucht. Die Einladungen zur Teilnahme an der Studie waren vom Einwohnermeldeamt verschickt worden.
Streeck erläuterte, dass in der Studie Kinder unterrepräsentiert seien, Ältere, also Menschen über 65 Jahre, hingegen überrepräsentiert. 138 von 919 Probanden wurden demnach positiv auf Antikörper und schützende Antikörper gegen das Sars-CoV-2-Virus getestet. Das entspricht einer Infektionsrate von 15,2 Prozent. Die Anzahl der Todesfälle lag in Gangelt bei sieben Personen. Dadurch kommen die Forscher auf eine Infektionssterblichkeitsrate IFR (“Infection Fatality Rate”) von 0,37 Prozent der Einwohnerzahl. Anhand der IFR ließen sich Infektionszahlen auch für andere Gegenden Deutschlands hochrechnen. Die Zahl von 1,8 Millionen Infizierten sei aber nicht verbindlich.
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Professor Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie an der Uniklinik in Bonn.
© Quelle: Federico Gambarini/dpa
22 Prozent der Infizierten waren symptomfrei
“Überraschend”, so Streeck, sei für ihn gewesen, dass 22 Prozent der Studienteilnehmer überhaupt keine Symptome gehabt hätten. Damit seien Studien aus China bestätigt worden, die einen symptomfreien Verlauf bei etwa 20 Prozent der Erkrankten festgestellt haben. Und die meisten Infizierten hätten nur über ein Symptom geklagt.
Und noch eine überraschende Zahl hielten die Studienmacher bereit. Das Risiko, sich im eigenen Haushalt anzustecken, sei nur unwesentlich höher als die allgemeine Infektionsrate. Dazu komme, so Streeck: “Die Infektionsraten sind bei Kindern, Erwachsenen und Älteren sehr ähnlich und hängen offenbar nicht vom Alter ab."
1,8 Millionen Infizierte? Eher die Untergrenze
Was die mögliche bundesweite Zahl an Infektionen betrifft, so erläuterte Professor Hartmann, dass die Sterblichkeitsrate die wesentlich aussagekräftigere Zahl sei. “Sie ist nicht so variabel wie der Prozentsatz der Infizierten. Man kann davon ausgehen, dass die Mortalität an der Obergrenze liegt.” Die geschätzte Gesamtzahl der Infizierten in Deutschland läge bei 1,8 Millionen eher an der Untergrenze der Schätzungen.
Gérard Krause, Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig, hält die Studie zwar für sehr wichtig. “Wir haben einen ersten Anhaltspunkt für das Verhältnis der tatsächlich Infizierten und der Erfassten. Auch für die Mortalität.” Skeptisch sei er aber, was deren Übertragbarkeit auf ganz Deutschland anbelangt.
Die Ergebnisse der Studie, sowohl was die Sterblichkeitsrate wie auch die Dunkelziffer anbelangt, senden durchaus hoffnungsfrohe Signale. In Kombination mit den Lockdown-Maßnahmen lassen sie den Schluss zu, dass sich das Virus durchaus in den Griff kriegen lässt und auch längst nicht so tödlich ist, wie es die Weltgesundheitsorganisation (WHO) annimmt, die von einer globalen Sterblichkeit von bis zu 3,4 Prozent spricht.
Höhere Risiken bei Massenversammlungen
Gute Argumente also für Lockerungen? Zumindest in einem Punkt gibt die Studie den Zögerlichen und Vorsichtigen recht: Die Karnevalsteilnehmer hatten mehr Symptome und eine höhere Infektionsrate. Massenansammlungen mit lautem Sprechen und Singen scheinen also höhere Infektionsrisiken und wohl auch schwerere Krankheitsverläufe zu bergen. Dazu, so Hartmann, plane man bereits weitere Untersuchungen.