Haben wir beim Klimawandel noch Spielraum? Was Szenarien bis 2100 ergeben
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Ein einziger Baum steht inmitten eines frisch angelegten riesigen Kartoffelackers. Die Folgen des Klimawandels aufhalten wird man laut Experten nicht – höchstens abmildern.
© Quelle: Boris Roessler/dpa
Die erste rechtsverbindliche und weltweite Klimaschutzvereinbarung wurde viel später beschlossen, als es die wissenschaftliche Erkenntnis gab, dass der Klimawandel menschengemacht ist: im Jahr 2015 auf der Pariser Klimakonferenz. Die Staaten einigten sich auf ein ehrgeiziges Ziel. Die Erderwärmung soll auf deutlich unter zwei Grad Celsius gehalten, der Temperaturanstieg auf 1,5 Grad Celsius begrenzt werden. Eine ernüchternde Botschaft kam dazu nun Mitte Mai 2022 aus Genf: Die 1,5-Grad-Erhöhung könnte sogar schon - wenn auch nur vorübergehend - innerhalb der nächsten fünf Jahre erreicht sein, teilte die Weltwetterorganisation (WMO) mit. Bei Abschluss des Pariser Abkommens galt so etwas noch als nahezu ausgeschlossen.
Ende dieses Jahres tagen die Regierenden nun erneut, diesmal in Ägypten. Der Wüstenstaat richtet die nächste Weltklimakonferenz aus, die COP27. Im Nacken haben die Regierenden immer weniger Spielraum lassende Zukunftsszenarien, die der Weltklimarat für möglich hält. Der Dreh- und Angelpunkt, mit dem diese Berechnungen kalkulieren, ist die Menge der von Menschen verursachten ausgestoßenen Treibhausgase in den kommenden Jahrzehnten. Die klare Botschaft: Aufhalten lässt sich der Klimawandel nicht. Beeinflussen, wie stark er ausfällt, hingegen schon. Denn das Ausmaß der Emissionen reicht von sehr niedrig bis sehr hoch.
Weltwetterorganisation prognostiziert 1,5-Grad-Erhöhung früher als erwartet
Eines der Ziele beim Klimaschutz ist die Erderwärmung auf höchstens 1,5 Grad begrenzen – doch neue Prognosen lassen an dem Ziel zweifeln.
© Quelle: dpa
Genau darin liegt auch die gute Nachricht: Es gibt verschiedene Pfade, die Politik, Wirtschaft und Gesellschaft jetzt noch einschlagen können, um die Folgen des Klimawandels abzumildern. Die große Klimakatastrophe, der die Menschen wehrlos ausgeliefert sind, ohne etwas tun zu können, ist noch nicht besiegelt.
Je mehr Emissionen jetzt, desto wärmer wird die Erde in Zukunft
Für diese Erkenntnis hat der Weltklimarat mühsame Detailarbeit geleistet. Das Ergebnis lässt sich im ersten Teil des sechsten IPCC-Sachstandsbericht nachlesen – ein Dokument mit rund 4000 Seiten, an dem 234 Autorinnen und Autoren aus 65 Ländern beteiligt waren und für das bis August 2021 rund 14.000 wissenschaftliche Arbeiten ausgewertet wurden. Eines der Kapitel, für sich allein schon rund 200 Seiten lang, fasst fünf „szenariobasierte Projektionen“ zusammen. Also fünf mögliche Versionen unserer Zukunft in einer Welt, in der sich das Klima wandelt.
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Fünf Szenarien zum globalen Temperaturanstieg hat der Weltklimarat ausgemacht. Er hält eine Erwärmung der Erde von über zwei Grad Celsius noch in diesem Jahrhundert für wahrscheinlich.
© Quelle: dpa
Die Projektionen zeigen den möglichen Verlauf der globalen Durchschnittstemperaturen bis 2100. Sie machen eindrucksvoll deutlich, dass sich die Erde in Zukunft umso stärker erhitzt, je mehr Emissionen wir verursachen – also je mehr Kohle, Gas und Öl verbrannt werden. Dadurch gelangen Treibhausgase in die Atmosphäre, die das Klima auf lange Sicht verändern: Kohlendioxid (CO₂), aber beispielsweise auch Methan (CH₄) und Lachgas (N₂O).
Die irreversiblen Folgen des Temperaturanstiegs: Dürre, Hitze, Starkregen
Der Ausstoß von Treibhausgasen bleibt nicht folgenlos, verändert das Klima nachhaltig und ist für das Leben der Menschen auf diesem Planeten gefährlich. Darin sind sich die Fachleute des Weltklimarats einig. Was das konkret zur Folge hat, haben sie den Regierenden nach der Betrachtung aller Emissionsszenarien klar vermittelt:
- Die globale Oberflächentemperatur wird bei allen fünf Projektionen bis mindestens 2050 weiter ansteigen. Erst danach zeigt sich, inwiefern die menschlichen Anstrengungen von heute und den kommenden Jahren einen nachhaltigen Effekt auf den Temperaturanstieg haben. Es gilt als wahrscheinlich, dass eine globale Erwärmung von 1,5 und zwei Grad Celsius im Laufe des 21. Jahrhunderts überschritten wird.
- Es gibt aber noch Spielraum. Dafür müssten ab jetzt und in den kommenden Jahrzehnten drastische Reduktionen der CO₂- und anderer Treibhausgasemissionen gelingen.
- Je stärker die globale Erwärmung ausfällt, desto häufiger und intensiver finden Extremwetterereignisse statt. Dazu zählen Hitzewellen, Starkregen, Dürren, heftige tropische Wirbelstürme, Rückgänge des arktischen Meereises, von Schneebedeckung und Permafrost. Jedes zusätzliche Grad Celsius mehr Erwärmung bedeutet, dass Extremniederschläge um 7 Prozent zunehmen.
- Der globale Wasserkreislauf wird sich weiter intensivieren. Das heißt, es wird weltweit mehr Ereignisse mit heftigen Niederschlägen geben und mehr Regen verdunsten. Es wird regional aber auch stärkere, häufigere und längere Perioden der Trockenheit geben.
- Die Ozeane, Wälder und Böden werden bei steigenden CO₂-Emissionen in der Atmosphäre ebendiese weniger wirksam verlangsamen. Eigentlich speichern sie einen großen Teil der Treibhausgase ab. Dieser Kreislauf gerät durch die Erwärmung aber ins Wanken.
- Viele Veränderungen durch Treibhausgasemissionen aus Vergangenheit und Zukunft sind über Jahrhunderte bis Jahrtausende unumkehrbar – insbesondere Veränderungen des Ozeans, von Eisschilden und des globalen Meeresspiegels.
Die SSPs: Klimawandel und Lebensform hängen zusammen
Hinter den Aussagen zu den erwartbaren Folgen der Erderwärmung stecken hochkomplexe Berechnungen von Supercomputern auf Grundlage naturwissenschaftlicher Forschung. Hinter den fünf möglichen Projektionen stehen aber auch verschiedene Erzählungen von menschlichem Handeln. Fachleute sprechen dabei von Shared Socioeconomic Pathways (SSPs). Sie drücken aus, wie stark das Ausmaß der Erwärmung in den kommenden Jahrzehnten mit sozioökonomischen Entscheidungen zusammenhängt. Die Zukunft der Erde hängt noch mehr davon ab, wie die Menschen leben und wirtschaften:
- Der grüne Weg (SSP1): Dieses Szenario ist das einzige, wodurch die Pariser Klimaziele erreicht würden – also ein Temperaturanstieg unter zwei Grad Celsius. Die Weltgemeinschaft zieht dabei an einem Strang und respektiert die Grenzen, welche die Umwelt vorgibt. Es wird nachhaltig gewirtschaftet, globale Gemeingüter werden vereinbart, großer Wert wird auf Investitionen in Bildung und Gesundheit gelegt. Nicht mehr das Wirtschaftswachstum steht an erster Stelle, sondern das menschliche Wohlergehen. Es gelingt, die soziale Ungleichheit zu verringern. Der Verbrauch orientiert sich an geringem Materialwachstum sowie niedriger Ressourcen- und Energieintensität.
- Der Mittelweg (SSP2): Dieses Szenario ähnelt derzeitigen Trends am meisten. Soziale, wirtschaftliche und technologische Trends entfernen sich nicht deutlich von historischen Mustern. Entwicklung und Einkommenswachstum verlaufen weltweit sehr unterschiedlich: Zwar machen einige Länder Fortschritte, aber andere bleiben hinter den Erwartungen zurück. Globale und nationale Institutionen arbeiten an nachhaltigen Entwicklungszielen, kommen aber nur langsam voran. Der Umwelt und den Menschen geht es schlechter, obwohl der Ressourcen- und Energieverbrauch zumindest teilweise abnimmt.
- Der steinige Weg (SSP3): Die Staaten fallen zurück in Nationalismus, Sorgen um Wettbewerbsfähigkeit, Sicherheit und regionale Konflikte. Die Politik konzentriert sich darauf, für die eigene Region ausreichend Energie und Nahrung zu haben – auf Kosten anderer. Investitionen in Bildung und technologische Entwicklung gehen zurück. Die wirtschaftliche Entwicklung verläuft langsam, der Konsum ist materialintensiv, und die Ungleichheiten bleiben bestehen oder verschlimmern sich im Laufe der Zeit. Weil international nicht zusammengearbeitet wird, gibt es in einigen Regionen besonders starke Umweltzerstörungen.
- Der gespaltene Weg (SSP4): Die Schere zwischen Arm und Reich wird immer größer. Die internationale Gemeinschaft fällt auseinander. Die Weltwirtschaft ist rein kapitalgetrieben. Es gibt einkommensschwache, schlecht ausgebildete Gesellschaften, die intensiv und ohne Unterstützung von Technologien arbeiten, regionale Konflikte und Unruhen. Einige Gebiete mit hohem Einkommen profitieren hingegen von technologischen Entwicklungen. Sie können sich auf Umweltpolitik konzentrieren und auf kohlenstoffarme Energieträger setzen. Der Rest kommt von fossilen Brennstoffen wie Kohle nicht los.
- Der fossil-befeuerte Weg (SSP5): Die Welt setzt auf fossile Brennstoffe und verbrät Energieressourcen im Überfluss. Dementsprechend fällt auch der Lebensstil aus. Alles dreht sich um wettbewerbsfähige Märkte, schnelle technologische Fortschritte und globale Vernetzung. Auch in Bildung und Gesundheit wird investiert. Aber die Weltwirtschaft wächst so schnell, dass Umweltprobleme und Luftverschmutzung rapide zunehmen. Dies führt zu hohen Treibhausgasemissionen. Die Klimafolgen will man aber nicht mit veränderter Lebensweise, sondern notfalls mit Geoengineering bekämpfen – also mit großräumigen Eingriffen mit technischen Mitteln. Ob das funktioniert, ist ungewiss.
Bis spätestens 2050: netto null CO₂-Emissionen
Welches Szenario am Ende Wirklichkeit wird, weiß heute noch niemand – eben weil die großen Entscheidungen und Veränderungen noch anstehen. Aus naturwissenschaftlicher Sicht des Weltklimarats müssen für das Begrenzen der globalen Erwärmung bis spätestens 2050 netto null CO₂-Emissionen erreicht werden. Noch besser wäre ein Absenken so früh wie möglich – stark, rasch und anhaltend. Auch der Ausstoß weiterer Treibhausgase wie Methan würde den Erwärmungseffekt begrenzen.
Szenarien mit niedrigen oder sehr niedrigen Treibhausgasemissionen führen im Vergleich zu Szenarien mit hohen und sehr hohen Treibhausgasemissionen innerhalb von 20 Jahren laut Weltklimaratsbericht „zu erkennbaren Auswirkungen auf die Treibhausgas- und Aerosolkonzentrationen sowie die Luftqualität“. Dafür braucht es riesige gesellschaftliche Veränderungen.
Das heißt aber auch, dass sich der Erfolg der weltweiten Klimaschutzmaßnahmen von heute erst Mitte des Jahrhunderts zeigt. Eben das ist die große Herausforderung: Kontinuierliches, schnelles und drastisches Handeln schon jetzt, obwohl das dramatische Ausmaß des Klimawandels erst in einigen Jahren deutlich spürbar wird. Es bleibt abzuwarten, worauf sich die nächste Klimaschutzkonferenz in Ägypten verständigt – und was danach wirklich daraus resultiert.
Mit Material von dpa/ Dieser Artikel wurde am 10. Mai 2022 aktualisiert.