„Entscheidungsfreude ist ein Muskel, den ich trainieren kann“
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Wer sich gut entscheiden kann, ist weniger gestresst: Expertin Johanna Dahm erklärt, wie uns Entscheidungen leichter fallen (Symbolfoto).
© Quelle: fizkes/iStockphoto
In welches Restaurant gehe ich heute? Was ziehe ich zur Arbeit an? Und welcher Job ist für mich der richtige? Tag für Tag haben wir immer wieder die Qual der Wahl. Wer sich selbst mit banalen Entscheidungen schwertut, wird sich auch bei kniffligen Entscheidungen den Kopf zerbrechen.
Mit Menschen, denen die Entschlusskraft fehlt, kennt sich Johanna Dahm bestens aus. Als Unternehmensberaterin hilft sie Führungskräften seit 22 Jahren unter anderem dabei, ihre Entscheidungskompetenz zu stärken. In ihrem Buch „Die Entscheidungs-Matrix“ (Springer-Verlag, 216 Seiten, 24,99 Euro, ISBN 978-3-662-62374-9) erklärt sie, wie sich Entscheidungsfreude trainieren und Stress reduzieren lassen.
Frau Dahm, im Leben müssen wir etliche harte Entscheidungen treffen. Dabei philosophieren wir eine gefühlte Ewigkeit über die richtige Berufswahl oder auch das ideale Geschenk für die Partnerin oder den Partner. Warum fallen uns Entscheidungen so schwer?
Johanna Dahm: Entscheidungen sind sehr stark mit dem Druck und der Angst belastet zu scheitern. Häufig schwirren viele hemmende Gedanken durch den Kopf: Was kommt nach dieser Entscheidung? Werde ich sie bereuen und werde ich wirklich die beste Entscheidung treffen? Die Angst, dass Entscheidungen negative Konsequenzen haben könnten, führt dazu, dass Leute immer mehr Informationen für die vermeintlich beste Option aufforsten, anstatt eine schnelle Entscheidung zu treffen.
Woher kommt diese Angst?
Das hat viel mit der Fehlerkultur in unserer Gesellschaft zu tun. Wir bekommen Punktabzüge für Fehler, aber kein Lob und keine Wertschätzung für Experimentierfreude. Hinzu kommt, dass es heutzutage so unendlich viele Informationen im Vorfeld gibt, die gegeneinander abgewogen werden müssen. 2021 haben wir eine Medienüberflutung, eine Konsumüberflutung – und somit haben wir auch einfach viel mehr Auswahlmöglichkeiten. Und je mehr wir auszuwählen haben, desto schwerer tun wir uns auch mit Entscheidungen.
Schon solange sie zurückdenken können, haben sich Menschen mit Entscheidungen schwergetan.
War das früher also anders?
Ja und nein. Heutzutage haben wir vielleicht mehr Auswahlmöglichkeiten, aber schon solange sie zurückdenken können, haben sich Menschen mit Entscheidungen schwergetan. In meinem Buch bin ich ins Mittelalter zurückgereist und schon da habe ich das bekannte Sprichwort „die Qual der Wahl“ gefunden. Damals sind die Mägde auf den Markt gegangen – und je mehr Marktstände es gab, desto überforderter fühlten sie sich bei der Auswahl ihrer Waren. Sie hatten also die Qual der Wahl und wussten nicht, welche Waren sie für ihre Dienstherren auswählen sollten.
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Johanna Dahm ist Unternehmensberaterin und Entscheidungsexpertin. Sie unterstützt Führungskräfte internationaler Unternehmen schon seit 22 Jahren und hilft ihnen dabei, ihre Entscheidungskompetenz zu stärken.
© Quelle: Johanna Dahm
Entscheidungen haben uns also schon immer vor große Herausforderungen gestellt. Was macht diese Qual der Wahl mit uns?
Entscheidungen können sehr viel Stress auslösen. Entscheidungsforschern zufolge haben wir zwischen 20.000 und 100.000 Entscheidungen am Tag zu treffen, von denen wir gar nichts mitbekommen. Zu blinzeln, atmen und einen Fuß vor den anderen zu stellen sind alles Entscheidungen, die der Körper von sich aus trifft. Das sind unzählige Dinge, ohne die wir den Tag gar nicht erst überleben würden. Allein damit ist unser Biorhythmus stark gefordert. Die Entscheidungen, die wir obendrein noch bewusst treffen müssen, stressen unseren Organismus und unser vegetatives Nervensystem zusätzlich.
Inzwischen ist es so, dass neun von zehn Menschen tatsächlich nicht nur im Berufsalltag, sondern auch im Privatleben Entscheidungen aussitzen.
Stress, Angst und Druck: Das sind vermutlich auch die Gründe, warum wir Entscheidungen oft lieber aufschieben.
Richtig. Inzwischen ist es so, dass neun von zehn Menschen tatsächlich nicht nur im Berufsalltag, sondern auch im Privatleben Entscheidungen aussitzen. Der Fachbegriff dieser umgangssprachlichen Aufschieberitis lautet Prokrastination. Die Steuererklärung abzuhaken, die Versicherung zu wechseln und somit Geld zu sparen oder auch banale Aktivitäten wie die Spülmaschine auszuräumen sind alles Aufgaben, die gern auf morgen verschoben werden.
Welche Folgen kann diese Prokrastination haben?
Vor allem wenn wir Dinge aufschieben, die gut für uns sind, merkt das der Körper sehr schnell. Das zeigt auch die Corona-Krise: Viele Deutschen haben ihren Sport und ihre Alltagsroutine aufgeschoben und ein paar Kilo zugenommen. Das zeigt sich zunächst auf der Waage – und dann mögen manche Leute ihr Spiegelbild nicht mehr. Aber auch die Seele leidet darunter, weil die zusätzlichen Kilos uns unzufrieden oder gar depressiv machen können.
Johanna Dahm: „Die Entscheidungs-Matrix“, ISBN: 978-3-662-62374-9, Springer-Verlag, 241 Seiten, 24,99 Euro.
© Quelle: Springer Verlag
Stichwort Corona-Krise: Gerade in dieser langen Zeit mussten viele Menschen und Unternehmen harte Entscheidungen treffen. Wie sind Managerinnen und Manager aus Ihrer Sicht als Unternehmensberaterin damit umgegangen?
Die Pandemie hat in Sachen Entscheidungen als Katalysator – sowohl in die eine als auch in die andere Richtung. Einige Menschen, die zuvor behäbig mit Entscheidungen umgegangen sind, haben nun endlich den Schalter umlegen können und sind ins Tun gekommen. Viele meiner Kunden – wie etwa Hoteliers – sagten mir, dass, wenn sie nicht gerade jetzt Dinge massiv veränderten, ihr Hotel auch nicht mehr stehen würde. Sie mussten radikale Entscheidungen treffen, die aber unglaublich wichtig waren. Andere Unternehmer haben dagegen komplett aufgegeben und teilweise sogar den Betrieb geschlossen.
Einige Menschen können also anscheinend besser mit Entscheidungen umgehen als andere. Wieso ist das so?
Der Hirnforscher Gerhard Roth hat mal gesagt, dass ein verwirrter Geist keine guten Entscheidungen treffen kann. Es gibt Menschen, die klarer und strukturierter denken. Sie bekommen auch bei verwirrenden Situationen wie der Corona-Krise sehr schnell wieder Klarheit. Ich glaube, dass Struktur und Klarheit sehr stark zur Entscheidungsfreude beitragen. Und diese Entscheidungsfreude kann wiederum den durch aufgeschobene Entscheidungen verursachten Stress reduzieren.
Ich rate ich immer dazu, Entscheidungsfreude wie einen Muskel zu betrachten, den ich trainieren kann.
Wie können wir lernen, schnell fundierte Entscheidungen zu treffen?
Ich rate immer dazu, Entscheidungsfreude wie einen Muskel zu betrachten, den ich trainieren kann. Wenn ich mir bei größeren Entscheidungen nicht so sicher bin, dann fange ich erst mal mit kleineren Entscheidungen an. Manche Menschen tun sich damit schon extrem schwer: Das fängt mit der Wahl der richtigen Nudelsorte und -soße für das Abendessen an. Bei solchen eher banalen Entscheidungen könnte man anfangen, schneller eine Wahl zu treffen und sich nicht von Kleinigkeiten abhalten zu lassen.
Der nächste Schritt wäre dann wahrscheinlich, eine größere und härtere Entscheidung zu treffen.
Genau. Bei der Auswahl der Nudelsoße kann für gewöhnlich noch nichts Schlimmes passieren, aber wenn ich zum Beispiel ein Auto kaufe, geht es um eine Menge Geld. Hier könnte ich überlegen: Was kann schlimmstenfalls passieren und welche Wort-Case-Szenarien kann ich ausschließen? Wer sich über die gravierendsten Folgen der Entscheidung im Klaren ist und sich vielleicht auch einen Plan B und C überlegt, nimmt sich selbst auch die Angst.
Wer die Optionen ausreichend abgewogen hat, kann damit anfangen, die Entscheidungszeit zu verkürzen. Sobald eine Entscheidung getroffen ist und sie Früchte trägt, schauen die meisten Leute kaum noch zurück. Sie sind dann damit beschäftigt, diese Entscheidung mitzutragen und umzusetzen – und dann ist auch die Angst weg.
Manchmal treffen wir aber auch Entscheidungen, die wir später bereuen. Wie können wir damit umgehen – und was können wir daraus für zukünftige Entscheidungen lernen?
Zunächst möchte ich klarstellen: Es gibt nicht die beste Option. Das sehen wir beim Handykauf: Auch wenn ich mir gerade das allerneueste Gerät gekauft habe, wird es in absehbarer Zeit überholt sein, weil die nächsten Generationen bereits in Produktion sind. Selbst wenn wir eine vermeintlich schlechte Wahl getroffen haben, sollten wir uns immer vor Augen führen, dass jede Entscheidung besser ist als keine Entscheidung. Dabei ist es auch hilfreich, sich diese Idee aus dem Kopf zu schlagen, dass wir bei Entscheidungen Fehler machen könnten. Entweder wir gewinnen oder wir lernen. Und auch mit diesen Lernerfahrungen können wir arbeiten. Denn wenn wir uns damit auseinandersetzen, erfahren wir, was wir beim nächsten Mal anders und besser machen können.