„Europäer waren Schwarze“: Genetiker erklärt, warum der Begriff „Rasse“ im Grundgesetz nichts zu suchen hat
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Johannes Krause ist der Shootingstar der Archäogenetik.
© Quelle: privat
Der Star der alten Knochen wirkt jugendlich: schlank, wuschelige Haare und während des Zoom-Calls setzt Johannes Krause mehrmals eine Flasche Club-Mate an den Mund. Doch mit gerade einmal 40 Jahren hat der Biochemiker schon mehr erreicht als die meisten Wissenschaftler in ihrer gesamten Karriere – mehrmals schon hat er die Menschheitsgeschichte umgeschrieben.
Krause ist der Shootingstar der Archäogenetik, der recht jungen Disziplin, die Erbmaterial aus Tausende Jahre alten Knochen analysiert. In seiner Doktorarbeit fand er auf diese Weise heraus, dass Frühmenschen Sex mit Neandertalern hatten – denn wie er zeigte, teilen wir Gene mit dieser Gattung. Für diese Arbeit bekam er mit seinen Co-Autoren den Newcomb Cleveland Prize 2010 , die Auszeichnung für den besten Fachartikel des Jahres im renommierten Fachjournal „Science“.
Dann entdeckte Krause mit 30 Milligramm Knochenstaub, dass es neben den modernen Menschen und den Neandertalern noch eine dritte menschliche Spezies gegeben hat – den Denisova-Menschen. Auch die Migrationsbewegungen, die die Bevölkerung Mitteleuropas geprägt haben, konnte er mittels DNA-Analysen weitgehend aufklären. Sein Buch „Die Reise unserer Gene“ wurde in Deutschland 2019 zum Bestseller. 2020 wurde er als Direktor ans Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig berufen.
Gerade verfolgt der Thüringer die Pandemie mit großem Interesse. Ein wichtiges Forschungsvorhaben ist die Evolution von Krankheitserregern – Schwerpunkt Pest-Epidemien. Auch politisch hat seine Arbeit Folgen: Krause war 2019 Mitautor der Jenaer Erklärung, die sich gegen die Verwendung des Begriffs „Rasse“ beim Menschen wendet – und damit auch die entsprechende Formulierung im Grundgesetz. Die große Koalition hatte angekündigt, den Begriff aus dem Grundgesetz zu streichen – konnte sich am Ende aber nicht auf eine Änderung einigen.
Rassismus hat den Begriff Rasse beim Menschen geschaffen
Herr Krause, warum sollte man den Begriff „Rasse“ in Bezug auf Menschen nicht verwenden?
Rassen gibt es bei Haustieren. Menschen haben über mehrere Hundert Jahre immer eng verwandte Tiere, bis hin zu Geschwistern, miteinander verpaart und so jeweils Populationen gezüchtet, die untereinander nahe verwandt sind. Zwischen zwei Schäferhunden finden wir deshalb kaum genetische Unterschiede, zwischen Schäferhund und Dackel dagegen viele. In Züchterbüchern steht genau, wen man nicht miteinander verpaaren darf, weil man sonst die Rasse kaputt macht. Es ist auch das, was die Nazis in den 1930ern beim Menschen vorhatten.
Mit der Jenaer Erklärung haben Sie sich 2019 politisch zu Wort gemeldet.
Mit der Jenaer Erklärung haben wir uns 2019 stark positioniert und klargestellt, dass es menschliche Rassen im biologischen Sinne nicht gibt. Rassismus hat den Begriff Rasse beim Menschen erst geschaffen. Zoologie und Anthropologie haben sich unrühmlich beteiligt.
Wollten Sie die zum Teil verpönte Genetik rehabilitieren?
Die Genetik hat wie keine andere Wissenschaft in den letzten Jahren beigetragen, das Konzept Rasse zu widerlegen. Weil wir ja ganz klar gezeigt haben, dass die klare Einteilung in fünf, sieben oder in zehn unterschiedliche Populationen nicht möglich ist und dass alle Menschen nahe verwandt sind.
„Es ist verrückt, Menschen anhand von Hautfarben einzuteilen“
In den USA bezeichnet sich Kamala Harris, die erste Vizepräsidentin des Landes, als Schwarze – sie und viele Amerikaner benutzen selbstverständlich das Wort „race“.
Kamala Harris kann sich selbstverständlich als zugehörig zur einer „race“ bezeichnen. Der Begriff wird in den USA als sozialanthropologisches Konstrukt gebraucht. Wir haben uns dagegen gegen den biologischen Begriff gestellt, so wie wir ihn im Deutschen benutzen, im Sinne von Tierrassen etwa. Im Englischen werden diese ja als „breeds“ bezeichnet, also Züchtungen.
Genetische Unterschiede etwa zwischen Afrikanern und Europäern gibt es doch – ein Mensch, der aus dem Kongo stammt, sieht eindeutig anders aus als einer, der deutsche Vorfahren hat.
Man muss nur zum Make-up-Regal in der Drogerie gehen, um zu sehen – es gibt Tausende unterschiedliche Hautfarben bei Menschen. Was Sie jetzt genannt haben, sind die zwei Extreme der Pigmentierung, Nordeuropa, wo wir helle, und Zentralafrika, wo Menschen sehr dunkle Haut haben. Dazwischen gibt es so ziemlich alle Schattierungen – und es gibt keine klare Grenze. Die Unterteilung in Schwarz und Weiß ist unsinnig, denn jemand, der aus Sizilien stammt, hat vielleicht dunklere Haut als jemand aus der Bevölkerungsgruppe der Khoisan in Südafrika. Es ist also schon mal verrückt, dass man versucht, Menschen anhand von Hautfarben einzuteilen.
Wenn es keine Unterschiede in den Hautfarben geben würde, wäre vielleicht niemand auf die Idee gekommen, die Menschen in Rassen einzuteilen.
Gibt es andere Unterschiede?
Was die Genetik angeht, gibt es keine Grundlage für Rassen. Die Menschen Ostafrikas und alle, die von außerhalb Afrikas stammen, sind näher mit Europäern verwandt als mit den Westafrikanern – genetisch gesehen sind Europäer also Ostafrikaner. Wenn man die Welt aufteilt in Afrikaner, Europäer und Asiaten, macht das überhaupt keinen Sinn. In Wirklichkeit ist die genetische Diversität innerhalb Afrikas viel größer als im Rest der Welt.
Äußeres Erscheinungsbild verläuft in Gradienten
Aber trotzdem gibt es doch gemeinsame Merkmale auf den Erdteilen – nehmen wir die mitteleuropäischen Langnasen und die mandelförmigen Augen von Asiaten.
Ich habe zum Beispiel auch leicht mandelförmige Augen, aber meine Vorfahren, das weiß ich ziemlich gut durch genetische Tests, haben in den letzten paar Tausend Jahren in Mitteleuropa gelebt. Umgekehrt gibt es in China zum Beispiel die Uiguren, die häufig keine mandelförmigen Augen haben. Da sie sowohl westeurasische wie auch osteurasische Gene in sich tragen. Das äußere Erscheinungsbild, der Phänotyp, verläuft in Gradienten. Nur wenn man sich zwei extreme Enden vom Gradienten anschaut, gibt es Unterschiede. Doch sind selbst diese meist nicht fixiert, es sind nur Häufigkeitsunterschiede. In Afrika südlich der Sahara haben 99,9 Prozent der Menschen nicht die Gene, die zu heller Haut führen, die wiederum die Mehrzahl der Nordeuropäer in sich tragen.
Es wäre ja auch ungünstig, mit weißer Haut dort zu leben, wo die UV-Einstrahlung am größten ist?
Wenn im Kongo ein Mensch geboren wird mit dem gleichen Gen für weiße Haut, das die meisten Europäer in sich tragen, dann stirbt er wahrscheinlich früh an Hautkrebs und hätte damit zwangsläufig weniger Nachkommen. Die UV-Strahlung ist einfach zu stark in Äquator-Nähe. Es gibt ja durchaus Menschen mit Albinismus in Zentralafrika, oft werden sie verstoßen, furchtbare Schicksale. So werden sie kulturell behindert, Nachkommen zu haben. Aber auch biologisch sind sie schlecht angepasst und konnten sich definitiv schlechter fortpflanzen als Menschen mit stärkerer Pigmentierung und damit besserem UV-Schutz. Aber es sind natürlich nur wenige Gene, die überhaupt unter so starker Selektion stehen.
Was meinen Sie damit?
Helle Haut ist für Menschen am Äquator so gefährlich, dass das Gen dafür extrem zurückgedrängt wird. Mehr als 99,9 Prozent der Zentralafrikaner haben deshalb dunkle Haut. Aber bei vielen anderen Erbanlagen gibt es kaum einen solchen Selektionsdruck, sodass man bei diesen beispielsweise Unterschiede in der Häufigkeit von 40 Prozent in Europa zu 60 Prozent in Afrika hat. Die Pigmentierung ist natürlich das, was uns Menschen als Erstes ins Auge fällt. Wenn es keine Unterschiede in den Hautfarben geben würde, wäre vielleicht niemand auf die Idee gekommen, die Menschen in Rassen einzuteilen.
Als Menschheit eint uns mehr, als uns trennt
Wie stark unterscheidet sich das Genom von Menschen aus aller Welt heute?
Wenn ich Ihre und meine DNA vergleiche, dann finde ich ungefähr 4,1 oder 4,2 Millionen Unterschiede. Vergleiche ich Ihre Erbsubstanz mit einem Menschen, der aus Peking stammt, dann machen wir etwa 4,3 Millionen voneinander verschiedene Stellen aus. Das heißt, 90 Prozent der Unterschiede finden wir schon zwischen uns beiden Mitteleuropäern. Das heißt, ein Großteil der genetischen Vielfalt existiert innerhalb der Populationen. Schon in jedem Dorf gibt es diese Unterschiede zwischen denjenigen, die nicht miteinander verwandt sind. Dabei ist es nicht etwa so, dass jeder Chinese oder Afrikaner einen fixierten Unterschied hat, der ihn von allen Europäern unterscheidet. Unter den drei Milliarden Positionen des menschlichen Genoms gibt es tatsächlich keine Stelle, an der etwa alle Europäer ein A haben und alle Asiaten oder Afrikaner ein C. Das heißt, es gibt nicht nur kein Gen, was jeweils Asiaten, Afrikaner und Europäer unterscheidet, es gibt nicht mal eine einzige unterschiedliche Stelle im Genom. Es gibt die gleichen Varianten überall, nur in manchen Regionen eben seltener als in anderen. Als Menschheit eint uns also viel mehr, als uns trennt.
Sie haben auch viel über die Migrationsbewegungen in der Frühgeschichte Europas geforscht – wie setzt sich die Erbsubstanz der Mitteleuropäer zusammen?
Der Ureuropäer lebte Jahrtausende als Jäger und Sammler. Wir haben mit genetischen Analysen Haarfarbe, Augenfarbe und Pigmentierung der Haut untersucht. Wenn wir einem Jäger und Sammler im Wald begegnen würden, könnten wir den nicht unterscheiden von einem Menschen, der heute aus Afrika südlich der Sahara stammt. Die Hautfarbe des Ureuropäers war sehr dunkel.
Corona hat bis jetzt mehrere Billionen Euro Schaden angerichtet – das würde reichen, um 100 Jahre intensive Infektionsforschung zu finanzieren.
Warum hat sich das geändert?
Vor 8000 Jahren in Südosteuropa und vor ungefähr 7000 Jahren in Mitteleuropa werden die Menschen sesshaft. Sie betreiben Ackerbau, haben domestizierte Tiere und Siedlungen, die permanent bewohnt werden. Es war lange umstritten, ob sich die dazu nötigen Fähigkeiten kulturell verbreitet haben – also quasi dadurch, dass Menschen ihre Nachbarn nachahmten – oder ob sich das Leben so stark änderte, weil Einwanderer nach Europa kamen. Heute wissen wir – die Landwirtschaft war keine eigene Erfindung der Ureuropäer, es waren Migranten, die dieses Wissen mitbrachten.
Bauern hatten fast immer Migrationshintergrund
Woher kamen die Einwanderer?
Wenn wir uns die Menschen anschauen, die vor 7000 Jahren bei uns gelebt und Landwirtschaft betrieben haben, dann stammen ihre Vorfahren aus Anatolien. Das macht auch insofern Sinn, weil wir von dort auch die weltweit ältesten Spuren menschlicher Landwirtschaft kennen. Ihr Know-how brachten sie mit. Ein durchschnittlicher deutscher Bauer vor 7000 Jahren hatte also zu fast 100 Prozent einen Migrationshintergrund.
Wie sahen die Neueuropäer aus?
Die frühen Ackerbauern aus Anatolien hatten hellere Haut als die Jäger und Sammler. Der Grund war: Die Menschen aßen längst nicht mehr so viel Fleisch und Fisch wie Jäger und Sammler. Sie nahmen stattdessen viele pflanzliche Produkte aus der Landwirtschaft zu sich, darin ist allerdings kaum Vitamin D enthalten. Mit hellerer Haut kann man leichter mittels Sonnenlicht Vitamin D produzieren.
Wie haben unsere Vorfahren die Jäger und Sammler verdrängt?
Man muss sich das nicht so vorstellen, dass eine Familie von Anatolien aufbricht und sich dann ein paar Monate später in Deutschland niederlässt. Sondern es war eher so, dass immer wieder ein paar Kilometer vom elterlichen Hof entfernt Kinder einen neuen Bauernhof gründeten – und so kommt man in über 1000 Jahre eben von Anatolien bis nach Mitteleuropa. Die frühen Ackerbauern hatten mehr Kinder als die Jäger und Sammler. Das liegt zum einen an der Ernährung – die Ackerbauern konnten Hungersnöte durch Vorratshaltung überstehen. Außerdem konnten die Mütter ihren Säuglingen früh Getreidebrei geben. Die Frauen konnten dann abstillen – und somit wieder schwanger werden.
Jäger, Sammler und Ackerbauern
Heute gilt Stillen nicht eben als sichere Verhütung?
Von der Natur ist es eigentlich so vorgesehen, dass nicht plötzlich zwei kleine Kinder da sind. Dass heute stillende Frauen schwanger werden können, liegt an unserer kalorienreichen Nahrung. Bei den Jägern und Sammlern haben Frauen etwa fünf Jahre gestillt. Häufiger als viermal wurden die damaligen Frauen in der Regel nicht schwanger, was wahrscheinlich im Schnitt zwei das Erwachsenenalter erreichende Kinder pro Generation bedeutete. Bei den Ackerbäuerinnen waren es wahrscheinlich zwei- bis dreimal mehr. Diese Population wuchs also immer schneller.
Was passierte dann, als die Immigranten mit den alten Europäern zusammentrafen?
Erst mal nichts. Wir haben kaum Hinweise darauf, dass es viel Interaktion gab. Zu dieser Zeit, vor 7000 Jahren, wurden nur besonders fruchtbare Lössböden beackert. Europa war ein Flickenteppich – in ganz wenigen Regionen wurde Landwirtschaft betrieben. Der Rest war immer noch Wald – und dort wurde gejagt und gesammelt.
Kaum zu glauben – ein friedliches Nebeneinander der Kulturen?
Es gibt zum Beispiel die Blätterhöhle im heutigen Nordrhein-Westfalen. Vor 6000 bis 5000 Jahren bestatten sowohl Jäger und Sammler als auch Ackerbauern ihre Toten dort. Die genetischen Unterschiede sind eindeutig – und wir sehen außerdem in den Knochen, dass die eine Gruppe sich als Jäger und Sammler ernährte und die andere sich vom Ackerbau.
Austausch vor allem in Form von Handel
Gab es nicht mal Sex zwischen Angehörigen der beiden Gruppen?
Tatsächlich fanden sich in den Knochen aus der Blätterhöhle nur wenige gemeinsame Nachfahren – und diese sind allesamt aus Liaisons zwischen Jägerinnen und Bauern hervorgegangen. Dagegen gibt es keine gemeinsamen Kinder von Jägern und Bäuerinnen.
Dann waren für die Frauen die Jäger anscheinend weniger attraktiv als die Bauern?
Man begegnete sich kaum, Europa war sehr dünn besiedelt. Man sah anders aus, sprach unterschiedliche Sprachen. Es gab aber sicherlich einen Austausch in Form von Handel. Was ich sagen will – es musste sich eine Gelegenheit bieten, sich zu begegnen. Es hing dann vielleicht auch von Zufällen ab, was wir jetzt finden. Bei den Nachkommen gibt es beides: Wir finden auch ein Y-Chromosom der Jäger und Sammler in deren gemeinsamen Nachkommen mit Ackerbauern – also es gab auch Jäger, die sich mit Bäuerinnen fortgepflanzt haben, wenn auch weniger oft als die Sammlerinnen mit Bauern.
Aber am Ende verschwand die Kultur der Jäger und Sammler komplett?
Der Ötzi ist ein schönes Beispiel für jemanden, der zu jener Zeit gelebt hat. Sein Genom ist schon seit einigen Jahren bekannt – und er hat ungefähr 30 Prozent seiner Gene von Jägern und Sammlern, zu 70 Prozent von anatolischen Vorfahren. Damals finden sich keine Jäger und Sammler mehr in Mitteleuropa, sie sind komplett in der Population der Ackerbauern aufgegangen.
Mehr Nahrung, mehr Kinder
Landwirtschaft setzte sich durch, obwohl mit ihr vieles in die Welt kam, was wir heute als unangenehm empfinden – das Hamsterrad, in dem die Menschen immer mehr arbeiten mussten, etwa.
Mehr Nahrung bedeutete mehr Kinder, die wiederum brauchten noch mehr zu essen. Das bedeutete tatsächlich mehr Arbeit. Die Ackerbauern schufteten wahrscheinlich zwölf bis 14 Stunden am Tag, wohingegen ein Jäger und Sammler durchschnittlich wahrscheinlich nur vier Stunden pro Tag damit zubrachte, seine Nahrung zu finden. Er hatte also viel Zeit, um einfach nur herumzusitzen oder andere Dinge zu tun.
Wenig Arbeit und gemütliche Grillabende, bei denen das erlegte Wild gegessen wurde – das Jäger-und-Sammler-Dasein klingt gar nicht so übel – vielleicht eine Erklärung, warum sich Menschen mittels einer Paleo-Diät zurückbeamen wollen in die Steinzeit?
Heutige Paleo-Diäten haben wenig damit zu tun, was Jäger und Sammler wirklich gegessen haben – vieles würden die meisten wohl heute wegwerfen, weil sie es als verdorben ansehen würden. Wenn man sich heutige Jäger-und-Sammler-Kulturen etwa am Amazonas ansieht, dann ist es nicht so, dass diese Tieren Filetsteaks aus den Hüften schneiden. Sie essen alles, was sie an pflanzlichen und tierischen Proteinen bekommen und verdauen können. Darunter auch Käfer, Larven und Würmer. Die Zähne sind abgenutzt, weil oft Steinchen in der Nahrung sind und sie als Werkzeuge benutzt werden.
Trotz aller Vorteile des Jäger-und-Sammler-Lebens verschwanden ihre Kultur und ihre Gene fast völlig – aber auch die Zeit der aus Anatolien stammenden Ackerbauern hielt nicht ewig.
Wir haben eine schöne Fundstelle in Spreitenbach, Schweiz, eine Grabstelle von vor 4800 Jahren. Darin fand sich eine neue Form der Keramik, die sogenannte Schnurkeramik, außerdem viele Streitäxte. Menschen wurden individuell bestattet – all das gab es vorher nicht. Da hat man sich lange gefragt: Sind das wieder neue Leute oder hatten die einfach die Idee, ihre Leichen anders zu bestatten und neue Keramik anzufertigen? Die genetischen Analysen der letzten Jahre haben gezeigt – es kamen wirklich neue Einwanderer.
Viele Mitteleuropäer kamen ursprünglich aus Südrussland
Wer waren diese Menschen? Wie und warum kamen sie nach Mitteleuropa?
Sie stammten aus der osteuropäischen Steppe und ihre Vorfahren gehörten zur Jamnaja-Kultur, hielten Vieh auf Weideland, erfanden Rad und Wagen und lebten als Nomaden. Vor 4900 Jahren begannen sie, sich mit ihren Rinderherden nach Westen auszubreiten. Interessanterweise dauert es nur 100 bis 200 Jahre, bis sie auch als Ackerbauern lebten. Genetisch sind sie allerdings ganz anders als die Menschen vorher.
Ein urzeitliches Europa ohne Migration wäre ein menschenleeres Europa gewesen, mit einer beeindruckenden Flora und Fauna immerhin.
Obwohl sie die Mehrheit stellen, werden sie kulturell assimiliert?
Die neuen Einwanderer haben mehr Rinder, machen mehr Weidewirtschaft als vorherige Ackerbauern. Sie wohnen auch ein bisschen anders. Vorher haben mehrere Familien in einem Haus gelebt, jetzt geht es eher in Richtung Einfamilienhaus mit Garage. Man wohnt in Gehöften zusammen. Also ganz, ganz ähnlich wie heute, wo viele Bauernhöfe zusammen ein Dorf bilden.
Was passierte diesmal, als die Einwanderer auf die Einheimischen trafen?
Was wir in den Genen sehen, ist, dass aus dieser Steppe nördlich des Schwarzen Meeres mehr männliche DNA gekommen ist als weibliche. Auf dem X-Chromosom sind mehr Ackerbauern-Gene als auf den restlichen Chromosomen. Weil Männer nur ein X-Chromosom, Frauen dagegen zwei haben, zeigt sich somit, dass aus der Steppe mehr männliche DNA gekommen ist als weibliche. Es immigrierten sechs- bis siebenmal mehr Männer als Frauen aus dem Osten. Dadurch bekommen wir eine ziemlich große Verschiebung – ungefähr 70 bis 80 Prozent der Gene der Mitteleuropäer gehen zu jener Zeit auf die Einwanderer zurück. Früher nannte man sie „Streitaxt-Kultur“ oder zur Nazi-Zeit „Arier“ – man dachte lange, sie seien aus dem Norden gekommen, aber sie kamen aus Südrussland.
Frauen waren mobil, Männer nicht
Bleiben diese Einwanderer unter sich?
Über die nächsten tausend Jahre vermischen sie sich – und das ist ein ganz interessanter Prozess, denn er wird hauptsächlich durch Frauen getrieben. Wir haben in den Siedlungen weibliche Skelette gefunden, die zu 100 Prozent immer noch die Gene der anatolischen Ackerbauern haben – 1000 Jahre nach der großen Einwanderung aus der Steppe. Es muss also über 1000 Jahre lang Parallelgesellschaften gegeben haben.
Heißt das, dass die Frauen den Ackerbauern geraubt wurden – oder von diesen verkauft?
Ich denke, es war eher so wie später im Mittelalter – die Ackerbauern verheirateten die Töchter, um sich gute Beziehungen zu sichern. Die Frauen sind mobil, die Männer nicht, das heißt, der Hof wurde von Männern an die nächste Generation weitergegeben. Ganz ähnlich, wie es auch heute noch in Teilen der Welt üblich ist.
Wurden die Ackerbauern verdrängt von den neuen Einwanderern – etwa in die Berge?
Das ist die beste Erklärung für die Parallelgesellschaften. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Ackerbauern im Gebirge länger unter sich blieben und sich nicht vermischten mit diesen aus der Steppe kommenden Einwanderern, die für ihre Weidewirtschaft auf große offene Flächen angewiesen waren.
Das klingt nach friedlicher Koexistenz. Trotzdem kann die Frühgeschichte Ängste vor der Migration nähren – die Kultur der Jäger und Sammler wurde schließlich komplett verdrängt und den Ackerbauern wurden später von den neuen Einwanderern die Frauen genommen.
Sicherlich hat Migration in der Frühgeschichte zu großen Veränderungen geführt. Einwanderung lief selten komplett friedlich ab, aber ohne sie wäre der Kontinent nicht so weit gekommen, wie er heute ist. Quasi alle Innovationen kamen durch die Einwanderer. Ein urzeitliches Europa ohne Migration wäre ein menschenleeres Europa gewesen, mit einer beeindruckenden Flora und Fauna immerhin.
Lungen-Pest hinterließ nur wenige Überlebende
Rechte Parteien schüren dagegen Angst vor „Überfremdung“ und „Bevölkerungsaustausch“.
Viele, die heute eine abendländische Gesellschaft vor Veränderung, etwa durch Einwanderung, schützen wollen, versuchen, ein vermeintlich statisches Erfolgsmodell gegen Migration abzuschotten, das ohne die Migration, einschließlich der in den letzten Jahrzehnten, gar nicht möglich gewesen wäre – die Einwanderer werden ja schon alleine als Arbeitskräfte in vielen Regionen der Erde gebraucht. Migration hat in der Menschheitsgeschichte immer Innovation gebracht – der Austausch von Information, Waren und auch von Menschen, die diese Innovation dann etablieren, ist ein Erfolgsmodell. Die Angst vor einem vermeintlichen Bevölkerungsaustausch ist schon rechnerisch Unsinn. Um eine genetische Veränderung herbeizuführen wie vor 5000 Jahren durch die Einwanderung aus der Steppe, müssten eine Milliarde Menschen etwa aus Indien oder dem Nahen Osten nach Deutschland einwandern.
Was die Frage aufwirft: Wie konnten die Migranten in der Frühgeschichte aus der Steppe in so einer Übermacht in Mitteleuropa Fuß fassen?
Anscheinend sind sie in teils menschenleere Gebiete vorgestoßen. Wir kennen jedenfalls keine Massengräber oder Schlachtfelder. Stattdessen haben wir für die Zeit ihrer Einwanderung, also vor zwischen 5000 und 4800 Jahren, aus Mitteleuropa kaum Skelette und damit kaum DNA. Vieles deutet aus meiner Sicht auf eine Epidemie hin, die nur wenige Überlebende hinterließ. Wir finden zu dieser Zeit erstmals eine Form des Pest-Erregers, wahrscheinlich eine Form von Lungenpest, die sich mittels Tröpfcheninfektion von Mensch zu Mensch ausbreitet und die zu dieser Zeit zum ersten Mal auftritt.
Aber warum sollte es keine Skelette von Pesttoten geben?
Es wäre möglich, dass man die Infektiosität der Toten erkannt und sie deshalb verbrannt statt begraben hat. Denkbar wäre auch, dass die Menschen einfach aufhörten, die Körper anzufassen, sie also unbestattet verwesen ließen und der Nachwelt deshalb keine Knochen erhalten blieben. Das ist eine Hypothese, die die Genetik uns eröffnet hat – weil wir jetzt wissen, dass es die Pest schon viel länger gibt, als wir bisher vermuteten. Wir haben 2017 den ältesten Pesterreger identifiziert – in der südrussischen Steppe, von wo die Einwanderer kamen.
Sie brachten also die Pest mit, die dann die vorherigen Bewohner ausrottete?
Es sieht im Moment so aus, als wäre die Pest etwas schneller als die große Einwanderung gewesen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass es ähnlich wie im Mittelalter zu einer Pandemie gekommen ist, die die mitteleuropäische Bevölkerung dezimiert hat, weil sie keinerlei Immunität hatte, weil sie auch keine Vorsichtsmaßnahmen kannte, um sich zu schützen.
Migration hat in der Menschheitsgeschichte immer Innovation gebracht – der Austausch von Information, Waren und auch von Menschen, die diese Innovation dann etablieren, ist ein Erfolgsmodell.
Pest mit der jetzigen Pandemie nicht vergleichbar
Bekannt ist die Pest dann besonders aus dem Mittelalter. Sie schreiben in Ihrem Buch, dass das Lebensgefühl damals von der Infektionskrankheit geprägt war – das können wir in der Corona-Pandemie plötzlich gut nachempfinden.
Heute können wir nach wie vor in den Supermarkt gehen, dort jedwede Nahrung kaufen. Wir können bloß nicht mehr abends in die Kneipe gehen und müssen uns stattdessen vor den Fernseher setzen und Netflix schauen. Das möchte ich mit dem schwarzen Tod nicht vergleichen. Im Mittelalter ist die Hälfte der Bevölkerung an der Pest zugrunde gegangen. Das bedeutete also: zwei von vier Kindern, der Partner und ein Elternteil. Das kann man mit der jetzigen Pandemie nicht vergleichen.
Was kann man lernen aus den Pestpandemien für Gegenwart und Zukunft?
Wir konnten durch intensive Forschung zeigen, wie sich der Pesterreger durch Mutationen über Tausende von Jahren an den Menschen angepasst hat, wie er dadurch immer effizienter wurde. Wir wissen also, wie schnell er sich verändert – und das müssten wir für viel mehr Erreger wissen. Aber Infektionskrankheiten sind in der medizinischen Forschung über 100 Jahre vernachlässigt worden.
Was müsste erforscht werden?
Es gab bislang kaum Programme, um bei Wildtieren Erreger zu suchen, die das Potenzial haben, auf den Menschen überzuspringen. Dabei wäre es gar nicht schwierig, etwa bei Fledermauspopulationen einfach Abstriche zu machen und zu untersuchen, mit welchen Viren und Bakterien sie infiziert sind, und die jeweiligen Erreger zu überwachen. Ich hoffe, dass das jetzt gemacht wird. Corona hat bis jetzt mehrere Billionen Euro Schaden angerichtet – das würde reichen, um 100 Jahre intensive Infektionsforschung zu finanzieren.
Wird die Archäogenetik in 1000 Jahren Spuren der heutigen Pandemie finden?
Nicht in menschlichen Überresten – Sars-Cov-2 benutzt ja RNA als Erbsubstanz, sie ist im Gegensatz zu DNA sehr instabil und wird schnell abgebaut. Aber ich bin sicher, dass die Menschheit in 1000 Jahren noch Kühlschränke hat, in denen das Virus aufgehoben wird.