„Erdbeben sind von Natur aus unvorhersehbar“
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Der Angehörige eines Erdbebenopfers wartet auf seine Geliebten, während Rettungsteams, Feuerwehrleute und Freiwillige am 9. Februar 2023 in Elbistan, Türkei, an einem eingestürzten Gebäude arbeiten, um ein Opfer zu evakuieren.
© Quelle: Getty Images
Patricia Martinez-Garzon, Sie forschen am Deutschen Geoforschungszentrum GFZ in Potsdam zur Physik von Erdbebenquellen. Was meinen Sie: Hätte man das Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet vorhersehen können?
Wir wussten, dass die ostanatolische Verwerfung dort in der Vergangenheit zu großen Erdbeben geführt hat. Es gibt Aufzeichnungen über mindestens ein Beben mit einer Magnitude von 7,7. Das war im Jahr 1144. Man konnte also grundsätzlich davon ausgehen, dass Erdbeben dieser Stärke wieder auftreten können – auch wenn das letzte fast 1000 Jahre zurückliegt. Aus der Historie geschlossen, war ein Erdbeben dieser Stärke in diesem Gebiet gewissermaßen überfällig. Aber daraus abzuleiten, dass es in den nächsten Tagen oder Monaten passieren würde, ist nicht möglich.
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Warum ist es so schwierig, Erdbeben vorherzusagen?
Die Vorhersage von Erdbeben gehört zu den größten Herausforderungen der Geowissenschaften. Sie sind von Natur aus unvorhersehbar. Wir haben zwar Fortschritte in der Technologie und im Verständnis gemacht. Aber wir wissen immer noch zu wenig über die physikalischen Prozesse, die Erdbeben verursachen. Das liegt auch an der Komplexität der tektonischen Platten und Verwerfungen der Erde.
Um die Vorboten zu erkennen, müsste man bereits kleine Veränderungen in der Erdkruste identifizieren, die auf ein bevorstehendes großes Ereignis hindeuten könnten. Das ist kaum möglich. Und gerade für abgelegene Gebiete wie das türkisch-syrische Grenzgebiet gibt es nur sehr wenige Daten. Um das Verhalten der Verwerfung besser zu verstehen und präzise Vorhersagen treffen zu können, ist es aber notwendig, Muster zu erkennen.
Auch für Istanbul warnen Seismologen und Seismologinnen vor einem großen Erdbeben in naher Zukunft. Sie arbeiten dort an einem Frühwarnsystem. Wie wirkt sich das aktuelle Erdbeben auf Ihre Arbeit aus?
Zum Glück ist der Auslöser des Bebens ziemlich weit von Istanbul entfernt. Deshalb sind die direkten Auswirkungen auf diesen Teil der nordanatolischen Verwerfung vermutlich sehr gering. Weil aber auch dort ein großes Beben überfällig ist, müssen wir jetzt versuchen zu verstehen, wie sich die Spannungsänderung durch das Erdbeben vom Montag auf die Marmara-Region ausgewirkt haben könnte; ob sie das Auftreten kleinerer seismischer Aktivitäten begünstigt hat oder nicht. Es ist unwahrscheinlich, dass dies der Fall ist. Aber das muss noch untersucht werden.
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Patricia Martinez-Garzon forscht am Deutschen Geoforschungszentrum (GFZ) in Potsdam zur Physik von Erdbebenquellen.
© Quelle: Niall Conway
Und wie können Sie das untersuchen?
Das Geophysical Observatory at the North Anatolian Fault (Gonaf) ist ein geophysikalisches Bohrlochobservatorium. Es wurde in der östlichen Marmara-Region errichtet. Das Hauptziel ist die Überwachung von Formationsprozessen im westlichen Teil der Nordanatolischen Verwerfungszone. Wir wollen verstehen, wie sich die Verwerfung − die wegen der Überfälligkeit sogenannte seismische Lücke nahe Istanbul − verhält. Das Gonaf besteht hauptsächlich aus Seismometern, die seismische Wellen aufzeichnen können, aber auch aus Beschleunigungs- und Dehnungsmessern. Damit können wir sehr kleine Veränderungen feststellen.
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„Gestern haben wir noch Stimmen gehört, heute nicht mehr“
Je mehr die Chancen auf Überlebende sinken, desto größer wird die Verzweiflung im türkischen Erdbebengebiet. Die Rettungskräfte kommen mit der Bergung nicht hinterher. Angehörige berichten, dass sie noch vor Kurzem Lebenszeichen in den Hausruinen vernommen haben – die nun aber ausbleiben.
Die Stationen befinden sich in 300 Meter tiefen Bohrlöchern. Dadurch können wir die Signale auch schon von kleinen Erdbeben viel deutlicher beobachten, weil wir die Überlagerung des Signals durch Störsignale an der Erdoberfläche wie zum Beispiel Erschütterungen durch den Autoverkehr vermeiden können. So können wir diese kleinen Ereignisse viel besser in den Daten erkennen.
Was kann getan werden, um die Auswirkungen eines möglichen Erdbebens in Istanbul in der Zukunft zu verringern?
Eine wichtige Komponente ist, das Gebiet weiterhin so gut wie möglich zu überwachen. Es ist wichtig zu verstehen, wie sich die Verwerfung verhält und ob sie zeitweise aktiv ist oder nicht. Das kann uns sehr dabei helfen, herauszufinden, ob ein großes Erdbeben bevorsteht oder nicht. Es ist aber auch sehr wichtig, die Bevölkerung weiter zu sensibilisieren. So sollte in der Nähe der Wohnungstür immer ein Notfallbeutel mit Verpflegung für mindestens 48 Stunden bereit hängen, der im Fall eines Bebens schnell gegriffen werden kann.
Das heißt nicht, dass man dauerhaft in Alarmbereitschaft leben muss. Aber man muss vorbereitet sein und wissen, dass so etwas passieren kann. Außerdem muss die Diskussion zwischen Erdbebenforschung und Politik fortgesetzt werden, um sicherzustellen, dass kontinuierlich erdbebensichere Gebäude gebaut werden. Bestehende Bauten, die noch nicht nach den neuesten Vorgaben errichtet wurden, sollten so weit wie möglich verbessert werden.
Welche Verbesserungen erhoffen Sie sich in den nächsten Jahren bei den Frühwarnsystemen?
Es gibt ja ganz verschiedene Arten von Frühwarnsystemen. Bei Naturkatastrophen sollen sie die Bevölkerung rechtzeitig vor Ereignissen wie Erdbeben, Hurrikans oder Tsunamis warnen. Seit einigen Jahren entwickelt das GFZ auch kleinere Erdbeben-Frühwarnsysteme für Einfamilienhäuser, Hochhäuser und Industrieanlagen. Diese ermöglichen es, bei einer großen Erdbebenwelle innerhalb weniger Sekunden Züge anzuhalten, Pipelines abzuschalten oder auf die Straße zu gehen.
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Erdbeben in der Türkei und Syrien: Wie und wo kann ich für die Opfer spenden?
Das Erdbeben in der Türkei und Syrien hat bereits Tausende Menschen das Leben gekostet, zahlreiche weitere wurden verletzt und die Zerstörung in den betroffenen Regionen ist gewaltig. Eine Übersicht über Hilfsorganisationen, die Spenden sammeln, finden Sie hier.
Wir hoffen, dass wir in den nächsten Jahren in der Lage sein werden, für bestimmte Verwerfungen, die sehr gut überwacht werden, zu sagen, ob es irgendwelche Veränderungen im seismischen Verhalten gibt, die Tage oder sogar Monate vorher darauf hindeuten, dass es zu einem großen Erdbeben kommen könnte. Aber davon sind wir noch sehr weit entfernt. Es ist nicht einmal sicher, ob wir dieses Stadium je erreichen werden.