Autorin Kübra Gümüşay: „Sprache ist kein neutrales Werkzeug“

Kübra Gümüşay hat das Buch "Sprache und Sein" geschrieben.

Kübra Gümüşay hat das Buch "Sprache und Sein" geschrieben.

Rassismus ist auch in Deutschland ein Problem. Wie bei jeder Art der Diskriminierung kann die Sprache dabei Werkzeug oder Waffe sein. Besonders gut weiß das die Autorin Kübra Gümüşay. In ihrem Buch „Sprache und Sein“ beschreibt sie, wie Worte unser Denken und die Politik prägen. Im Interview spricht die Aktivistin über die Black-Lives-Matter-Bewegung, Schubladendenken und darüber, dass man noch eine ganze Menge sagen darf.

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Hat sich durch die Corona-Krise Ihre Sicht auf unsere Gesellschaft verändert?

Tatsächlich habe ich viele Veränderungen wahrgenommen. Zum einen denke ich, dass die Corona-Krise sehr vielen Menschen in aller Deutlichkeit vor Augen geführt hat, wie veränderlich unsere Strukturen und unsere Gesellschaft sind. Wenn ein politischer und gesellschaftlicher Wille da ist, lassen sich durchaus strukturelle Änderungen vornehmen, um einem gemeinschaftlichen Ziel näher zu kommen. Vormals radikale Ideen und Positionen waren plötzlich durchsetzungsfähig. Eine zweite große und starke Veränderung war, gerade in den allerersten Tagen dieser Krise, dass Menschen in hohen Verantwortungspositionen sich in einer öffentlichen, konstruktiven Diskurskultur geübt haben, bei der auch eine gewisse Demut zu spüren war. Das Bewusstsein dafür, dass das, was man an Vorschlägen hinein in die Debatte bringt, letztlich nur Vorschläge sind und man nicht weiß, ob sie die Wirkung entfalten, die man sich erhofft. Diese Besonnenheit, Geduld und Toleranz hat mich nachhaltig beeindruckt.

Welche Schlüsse haben Sie daraus gezogen?

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Ich habe mich gefragt: Es ist also möglich, einer derart großen gesellschaftlichen Herausforderung in einem breiten Bündnis und explorativen Prozess durch ein stetiges Feinjustieren zu begegnen - warum ist das nicht für die Klimakrise, den Kampf gegen Sexismus oder Rassismus möglich?

Wird sich das durch die Erfahrung der Corona-Krise ändern?

Die Erkenntnis, dass unsere Strukturen und unser Zusammenleben derart stark veränderlich sind, ist sehr wichtig. Sie wird die Menschen längerfristig begleiten. Denn sie zeigt, dass viele Probleme und Missstände in unserer Gesellschaft nicht „naturgegeben“ sind, sondern menschengemacht. Wir hätten durchaus die Möglichkeit, sie zu beheben.

Ist die große Resonanz auf die Black-Lives-Matter-Proteste schon ein Beleg dafür?

Ja, man hat klar gesehen, dass dieses Thema in eine andere gesellschaftliche Situation gestoßen ist. Nämlich in eine, in der klar ist: Von Menschen gemachte Probleme lassen sich auch durch Menschen lösen. Es muss nicht sein, dass bestimmte Menschen Rassismus erfahren, dass Menschen um ihr Leben fürchten müssen, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken. Ich denke, dass bei vielen Menschen jetzt ein stärkeres Bewusstsein für die Veränderlichkeit der Welt besteht. Sie sehen nun viel mehr politische Handlungsräume als zuvor.

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Warum brauchte es den Tod eine US-Amerikaners, damit wir in Deutschland über Alltagsrassismus sprechen?

Es gab ja in Deutschland immer wieder Debatten über Rassismus im Alltag, in Schulbüchern, in unserer Sprache, in unseren Institutionen oder auch als der NSU-Terror bekannt wurde. Irgendwann kommt es dann aber zu einem „tipping point“, also zu einem Punkt, wo sich all diese Bilder zusammenfügen. Ein solcher Moment ist so eine Pandemie, in der sich die Lebensumstände radikal verändern und dann noch viel evidenter und klarer wird, dass dieses Problem ein menschengemachtes ist. Aber Sie haben Recht, eigentlich sollte es nicht eines Mordes, nicht das Auffliegen des NSUs bedürfen, um hinzuschauen. Was wir daraus lernen, ist natürlich, dass man früher hinhören muss. Marginalisierte Gruppen sind die Seismographen für die Gefahren unserer Demokratie.

Derzeit scheint sich die Gesellschaft eher weiter zu polarisieren. Warum?

Wir leben in einer großen Gesellschaft, in der viele Gleichzeitigkeiten geschehen. Das Bewusstsein für die Veränderlichkeit der Strukturen kann auch Angst machen. Denn nichts garantiert uns, dass es besser wird. Diese Krise hat uns auch gezeigt, dass sich Lebensumstände radikal und abrupt stark verschlechtern können. Es hängt jetzt von uns ab, in welche Wege wir die Erkenntnisse, die Sensibilisierungen, die Gefühle, die Stimmungen, die Energie, die nun in der Gesellschaft entfaltet worden ist, lenken. Da gibt es sehr viel Potenzial in solidarische, aber auch endsolidarisierende Richtungen.

Haben die Debatten denn in dieser Hinsicht schon etwas bewirkt?

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Ich denke, es ist zu früh, um das zu sagen. Aber was ich tatsächlich beobachte ist, dass auch solche Menschen, die sich zuvor nicht angesprochen gefühlt haben, weil sie nicht betroffen waren, nun den Themen annähern. Rassismus ist ein gesamtgesellschaftliches Thema. Dazu gehört der unbequeme Blick auf sich als weiße Person und die eigene Rolle in dieser Gesellschaft. Ich sehe, wie sehr viel mehr Menschen sich wagen, diesen unbequemen Weg zu gehen.

Welche Rolle spielt die Sprache dabei? Wie fördert die Art und Weise, wie wir über Dinge sprechen, den Rassismus in unserer Gesellschaft?

Die Sprache, die wir sprechen, ist nicht einfach ein neutrales Werkzeug. Sprache ist eine Form von Architektur, die uns dabei helfen kann, die Welt zu begreifen und zu erschließen, aber auch Mauern zwischen uns und andere Menschen ziehen kann. Sie kann dazu führen, dass Menschen entmenschlicht werden, dass die Missstände, die sie erleben, ihr Leid, ihr Schmerz und ihre Perspektive in unserer Welt keinen Platz haben.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Sprache wohnt eine Perspektive inne, das spüren wir immer dann, wenn wir diese Perspektive umkehren. Ein Beispiel, das ich in meinem Buch nutze, ist: Stellen Sie sich vor, ein Spanier kommt auf dem Weg nach Mexiko vom Weg ab und strandet am Hamburger Hafen. Er legt dort an und entdeckt für sich tatsächlich zwar Hamburg, aber diese Entdeckung geht als die Entdeckung Hamburgs nicht in seine persönliche, sondern in die Weltgeschichte ein. Die Hamburger Bevölkerung wird dann behandelt, als hätte sie keine eigene Vergangenheit und Geschichte gehabt, keine Tradition, keine Kultur. Sie wird versklavt, entmündigt, ermordet und ihrer Schätze beraubt. Fortan wird die Bevölkerung nur noch als Mexikanier bezeichnet, denn das war ja das Land, wohin man ursprünglich auf dem Weg war. Dieses Beharren darauf, sie als Mexikanier zu bezeichnen und nicht als Hamburger, ist ein Beharren auf der Perspektive der Kolonisierenden, der Ermordenden, der Gewaltvollen. Deshalb geht es, wenn wir über Sprache diskutieren, nicht nur darum, wie wir etwas bezeichnen. Sondern es geht darum durch wessen Augen und mit welchen Anspruch wir die Welt betrachten.

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Ist die Sprache aber nicht nur ein Nebenschauplatz? Sollten wir uns nicht eher darauf konzentrieren, die Welt zu verändern, als die Art und Weise wie wir sprechen?

Allein durch Sprache lässt sich kein gesellschaftlicher Missstand lösen. Sondern es geht hier um Gleichzeitigkeit. Der zynische Begriff „Abschiebepatenschaften“ zeigt gerade aktuell, wie die Realität - und zwar eine sehr hässliche Realität - in schöne Worte verkleidet wird, sodass wir nicht sehen, wie beschämend und entwürdigend das ist, was uns damit als politisch verantwortungsvolle Maßnahme verkauft werden soll. Sprache ist deshalb nicht einfach nur ein Nebenschauplatz, sondern sie gehört zu den Strukturen unserer Gesellschaft dazu. So wie Wasser Fische umgibt, so umgibt uns Sprache und formt uns und unsere Wahrnehmung und unser Denken.

Manche Menschen haben den Eindruck, man dürfe „nichts mehr sagen“ oder verweisen darauf, dass etwa Michael Ende das N-Wort nicht so gemeint habe. Was antworten Sie darauf?

Ich finde, wir führen die falsche Debatte. Eigentlich geht es nicht darum, was man noch sagen darf und was nicht. Die Frage, die im Zentrum stehen sollte, ist: Wie wollen wir miteinander sprechen? Die Perspektive, die das N-Wort einnimmt, ist eine gewaltvolle, eine entmenschlichende. Wenn dann Menschen zu mir sagen: „Ja, was darf man denn dann noch sagen?“ Dann frage ich: „Identifizieren Sie sich denn mit dieser Perspektive? Ist das Ihr Ideal? Wollen Sie ein Mensch sein, der so über andere spricht?“ Ich glaube, wir würden andere Antworten erhalten, wenn wir diese Fragen ins Zentrum stellen würden und nicht diese Verbotsdebatten.

Kübra Gümüşay: "Sprache und Sein", Hanser Verlag, 18 Euro.

Kübra Gümüşay: "Sprache und Sein", Hanser Verlag, 18 Euro.

Sie beschreiben in ihrem Buch, wie Sie immer wieder in Schubladen gesteckt. Die „kopftuchtragende Muslima“ ist so eine. Welche Auswirkungen hat das?

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Menschen, denen wir ja eigentlich Individualität und Komplexität zugestehen, wird plötzlich all dies abgesprochen. Auch das wird deutlich, wenn die Perspektive umgekehrt wird und wir etwa von „alten, weißen Männern“ sprechen: Wie erklären diese Menschen zu einer homogenen Gruppe und erklären, sie seien sexistisch, rassistisch und privilegiert. Damit werden diese Männer, die ja eigentlich sehr verschieden sind, plötzlich zu einer homogenen Masse. Plötzlich müssen sie auf diese Zuschreibung reagieren und sich dazu verhalten, also nachweisen, dass sie nicht rassistisch oder sexistisch sind. Sie erleben, wie entwürdigend und entmenschlichend es sein kann, wenn man in einem politischen Diskurs auf eine Kategorie reduziert und nur noch im Kollektiv behandelt wird. Aber das, was diese Menschen dann in dem Moment erleben, in dem sie als alte, weiße Männer bezeichnet werden, erleben anderen Menschen permanent. Individualität und Komplexität sind in unserer Gesellschaft ein Privileg. Den einen Menschen wird zugestanden, dass die Fehler, die sie machen, ihr individuelles Fehlverhalten ist. Bei den anderen wird daraus ein gesamter Schluss über die Menschen, die mit ihnen gemeinsam kategorisiert werden.

Sollten wir also alle Kategorien abschaffen?

Das können wir nicht. Wir brauchen Kategorien, um durch unsere Welt zu navigieren, sie sind ein zentraler Bestandteil unserer Wahrnehmung. Doch wann werden aus Kategorien Käfige? Es ist der Moment, in dem der Absolutheitsanspruch ins Spiel kommt: Wir glauben, wir hätten alle Geflüchteten abschließend verstanden, weil wir sie so genannt und einer konkreten Kategorie zugeordnet haben. Die Ostdeutschen, die muslimische Frau. Doch in dem Moment, in dem wir diesen Absolutheitsanspruch ablegen und erkennen, dass diese Kategorie nur ein sehr, sehr grobes Werkzeug ist und wir verstehen, dass die Welt komplexer ist als unsere Werkzeuge, können aus diesen Käfigen einfach Räume werden. Dazu gehört, dass wir uns darin trainieren, durch die Augen anderer Menschen auf die Welt zu schauen. Dazu gehören Demut und Perspektivbewusstsein.

In unserer Serie „Wie wollen wir jetzt Leben?“ stellen wir Ihnen vom 7. bis zum 14. November Ideen für eine nachhaltige Welt vor.

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