Abschied von England: Goodbye, my love

Am 31. Dezember wächst die Entfernung zur EU: Union Jack in einer Sandburg in Dover.

Am 31. Dezember wächst die Entfernung zur EU: Union Jack in einer Sandburg in Dover.

Wenn die Briten etwas beenden, dann tun sie das gern mit dem Volkslied „Auld Lang Syne“ (sinngemäß: Längst vergangene Zeit). Sie singen es traditionell zum Jahreswechsel, es erklingt zum Ende von Parteitagen und Jahr für Jahr zum Abschluss der „Last Night of the Proms“. Selbst Abgeordnete im Europäischen Parlament sangen das Lied in diesem Januar – nach der Abstimmung über das Austrittsabkommen mit Großbritannien.

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Nichts zieht so schön einen Strich unter etwas wie „Auld Lang Syne“, was vielleicht auch daran liegt, dass sich die Mitsingenden – zumindest vor Corona – traditionell über Kreuz die Hände reichten und so immer ein bisschen mitschwingen ließen: Was auch immer da kommen mag, zusammen schaffen wir das.

In diesem Jahr steht das Silvestersingen unter besonderen Vorzeichen – nicht nur wegen der Pandemie, die Großbritannien hart getroffen hat. Zum 31. Dezember endet die Übergangsfrist, die das Vereinigte Königreich trotz Brexit noch an viele Regularien der EU band. Es drängt sich also bei diesem besonderen Neujahrswechsel die Frage auf: Was kommt mit dem Brexit nun wirklich auf die Briten zu? Und was auf die anderen Europäer? Kann da ein angestaubtes Volkslied überhaupt noch helfen?

Ermattet nach vier Jahren Brexit-Debatte

Wegen der Reisebeschränkungen durch die Corona-Krise hat es kaum jemand wahrgenommen – doch bislang benötigen Kontinentaleuropäer nach wie vor keinen Pass, um ins Vereinigte Königreich zu fahren, lediglich einen Personalausweis. Sie dürfen entsprechend der europäischen Zollbestimmungen nach Lust und Laune einkaufen. Sie können ohne Roaminggebühren telefonieren und viele weitere Vorteile der Europäischen Union genießen.

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Mit vielem davon ist zum 1. Januar Schluss. Das Innenministerium in London kündigte bereits an, mittelfristig keine Personalausweise zur Einreise mehr zu akzeptieren. Und wer als Europäer in Großbritannien erkrankt, benötigt bald eine Auslandsreisekrankenversicherung – mit der europäischen Gesundheitskarte lässt sich dort nichts mehr ausrichten. Fährbetreiber gehen aufgrund der erwarteten Zollkontrollen von kilometerlangen Autoschlangen an den Häfen zwischen Kontinentaleuropa und Großbritannien aus. Die britische Regierung lässt derzeit sogar ein ganzes Feld an der Autobahn nach Dover asphaltieren, um dort die erwartete Lastwagenlawine abpuffern zu können. Irische Reedereien wollen deswegen künftig direkt nach Frankreich fahren – ohne den bisherigen Stopp in Großbritannien.

Es scheint, als wurde keine Hürde ausgelassen, um das künftige Nebeneinander zwischen Briten und den anderen Europäern noch ein bisschen schwieriger zu machen. Dennoch regt sich in Anbetracht des Ausmaßes der Änderungen erstaunlich wenig Protest. Warum bloß?

Lieber zu Morrisons statt zu Aldi

Eine der beneidenswertesten Eigenschaften der Briten ist ihr Pragmatismus. „It’s best to get it over and done with“, sagen sie – lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. So ist es für viele auch beim Thema Brexit. Nach mehr als vier Jahren der Debatten sind sie davon einfach ermattet.

Die Frage ist ohnehin: Wie viel Europa steckte jemals im Vereinigten Königreich? Ich reiste erstmals Ende der Achtzigerjahre als Jugendlicher nach London. Nach einer zehnstündigen Fahrt mussten wir im Hafen von Calais völlig übermüdet den Reisebus anschieben, weil er nicht mehr ansprang. In Canterbury erfuhren wir, was English Breakfast bedeutet, und stocherten leicht erschrocken auf einem Würstchen herum, das in einer Lache gebackener Bohnen lag. Der Schock wich Jahre später einer Art Leidenschaft: In einer WG in Bristol bereiteten wir uns die Bohnen ständig zu – weil sie eine günstige Möglichkeit waren, den ganzen Tag satt zu bleiben.

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Wir erlebten ein Land zwischen Klassik und Pop, zwischen Tradition und Weltoffenheit, zwischen Bewunderung und Kopfschütteln. Schon damals, beim ersten Besuch, wurde deutlich – im Pub, im Doppeldeckerbus und beim Linksverkehr –, dass dieses England so ganz anders ist als das, was wir aus der Bundesrepublik der Vorwendezeit kannten.

Vieles hat sich seitdem angeglichen, doch manches ist geblieben – der Stolz vieler Briten auf ihr eigenes Land und dessen Vergangenheit zum Beispiel. Er wird nicht fortwährend zur Schau getragen, und doch klingt er immer mal wieder durch. Einer meiner Vermieter in Bristol etwa vermied es Ende der Neunzigerjahre konsequent, bei Aldi einzukaufen – weil das Unternehmen aus Deutschland stammt. Stattdessen nahm er den weiteren Weg zur urbritischen Supermarktkette Morrisons in Kauf. Er war weit gereist, mochte durchaus Ausländer, wie ich einer war, und stand politisch keinesfalls rechts. Doch er war Brite – und es gefiel ihm, dies auf eine subtile Art auszuleben, zum Beispiel in Form eines eher konservativen Lebensstils. Heute gehen selbst ausländische Supermärkte wie Aldi dazu über, auf britischen Produkten klein den Union Jack, die britische Flagge, zu drucken. Sie wollen suggerieren: Wir sind einer von euch.

Weltoffenheit plus viktorianische Hülle

Dass viele Errungenschaften des modernen Großbritanniens – Arbeitnehmerrechte, Handelsbeziehungen, Infrastrukturhilfen – genau genommen Randerscheinungen der EU-Mitgliedschaft waren, hat sich im Alltag kaum herumgesprochen. Was zählt, ist bei vielen Briten noch immer die viktorianische Hülle um einen sonst weltoffenen Alltag. In dieser Hinsicht ist der Brexit die logische Konsequenz eines jahrzehntelang verdrängten Vergangenheitskomplexes. Könnte der Brexit vielleicht in irgendeinen Aufbruch münden? Da sind viele skeptisch.

„Niemand gewinnt beim Brexit“, sagt Scott Crouch, Mitgründer der PR-Agentur BPRC in Augsburg, gebürtiger Engländer und beruflich wie privat oft und gern auf der Insel. Von allen wirtschaftlichen Folgen abgesehen – seine Firma ist eng an britische Kunden gebunden – sorgt er sich vor allem um die persönlichen Schicksale: „Meine Nichten und Neffen in England werden nicht dieselben Chancen haben wie meine Kinder in Deutschland“, fürchtet er. „Nur, weil einige Politiker ihre Machtspielchen betrieben haben.“

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Und in der Tat: Kaum etwas veranschaulichte den Machtkampf politischer Gegner so sehr wie die jahrelange Debatte um den Brexit. Erst trieb die rechtsnationale UK Independence Party den damaligen konservativen Premierminister David Cameron vor sich her, dann war es Boris Johnson, der seiner Parteifreundin Theresa May das Leben schwer machte. Nun steht Johnson selbst unter Druck – wegen seines planlos wirkenden Corona-Zickzackkurses, wegen eines aristokratischen Führungsstils und einer sich zunehmend zeigenden Ermüdung im Amt. Doch für die noch immer recht große Gruppe der Europafans unter den Briten ist es zu spät.

Und jetzt? Ruhe bewahren, weitermachen

Petra Biging ist eine der insgesamt 3,7 Millionen EU-Ausländerinnen und -Ausländer im Vereinigten Königreich. Die deutsche Lehrerin lebt seit mehr als 20 Jahren in Belfast. Was wird sie vermissen nach dem 31. Dezember? „Ich hatte Sorge, dass ich nicht mehr bei Lidl einkaufen kann“, sagt die Mutter zweier Kinder, die in dem Supermarkt noch immer ein Stückchen Heimat findet. Doch viel gravierender ist für sie der Verlust der europäischen Krankenversicherungskarte, die eine Behandlung diesseits und jenseits der britischen Grenze bislang sehr einfach machte.

Wenn in der Silvesternacht die Übergangsfrist endet, dürfte bei vielen Großbritannien-Fans ein wenig Wehmut aufflammen. Doch es ist wohl Zeit, sich einzugestehen: Die guten alten Zeiten, die man auf der Insel erlebte, fußten in den seltensten Fällen auf der Tatsache, dass Großbritannien Teil der EU war. Die Leute kamen nie wegen der schnellen Passkontrollen oder der EU-konformen Gesetzgebung – sie kamen wegen urbritischer Klischees, wegen der Queen, des Fünfuhrtees, Sherlock Holmes, Harry Potter und Rosamunde Pilcher. Daran wird auch ein Brexit nichts ändern.

„Keep calm and carry on“, hieß es auf einem alten, zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges von der britischen Regierung entworfenen und heute in Souvenirshops gern und oft gezeigten Plakats – Ruhe bewahren und weitermachen. Vielleicht ist die Silvesternacht der richtige Augenblick, dieses alte Mantra einmal mehr zu beherzigen.

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