Putin Krieg und die europäische Souveränität

„Wir gehen unter, wenn wir uns in nationale Egoismen verlieren“

Die Bundestagsabgeordnete Franziska Brantner (Bündnis 90/Die Grünen), nimmt an der digitalen Landesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/Die Grünen Baden-Württemberg im Veranstaltungszentrum Intersport Redblue teil.

Die Bundestagsabgeordnete Franziska Brantner (Bündnis 90/Die Grünen), nimmt an der digitalen Landesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/Die Grünen Baden-Württemberg im Veranstaltungszentrum Intersport Redblue teil.

Berlin/Frankfurt am Main. Franziska Brantner, Jahrgang 1979, ist seit Dezember 2021 Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz. Zwischen 2009 und 2013 war sie Mitglied des Europäischen Parlaments, seit 2013 sitzt sie für die Grünen im Bundestag. Im RND-Interview fordert sie anlässlich des Europatages, die strategische Souveränität der EU zu stärken. Ein zentraler Punkt sei dabei, in der Rüstungsindustrie Kooperationen zu organisieren und dies mit einer strikten Exportkontrolle zu verknüpfen. „Wir gehen unter, wenn wir uns in nationale Egoismen verlieren“, so Brantner. Der Europatag wird alljährlich am 9. Mai begangen. Er markiert den Jahrestag der „Schuman-Erklärung“. Am 9. Mai 1950 schlug der französische Außenminister Robert Schuman die Schaffung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vor. Dies gilt als Geburtsstunde der Europäischen Union.

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Frau Brantner, der Ukraine-Krieg wirft die Frage nach der sogenannten strategischen Souveränität der EU mit neuer Dringlichkeit auf. Nur ein Slogan oder steckt mehr dahinter?

Wir sehen dieser Tage in besonderer Weise, dass wir als Europäer verwundbar sind aufgrund bestimmter Abhängigkeiten und einen hohen Preis zahlen, wenn wir nicht gemeinsam handlungsfähig sind. Deshalb müssen wir den Auftrag der strategischen Souveränität mit Leben füllen.

Heißt das, dass die Europäer sich aus ökonomischen Verflechtungen lösen und künftig alles in Eigenregie machen sollen?

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Nein, es geht nicht um Abkopplung, sondern darum, sich intelligent der ganzen Welt zuzuwenden mit dem Ziel, resilienter und nachhaltiger zu wirtschaften. Wir dürfen ökonomisch nicht mehr nur auf einzelne Bezugsquellen fixiert sein, wie zum Beispiel Russland wegen Energie und China wegen Im- und Exporten. Wir müssen diversifizieren und uns anderen Ländern und Regionen zuwenden, um Lieferketten neu zu stricken, auch im Bereich der Rohstoffe für die erneuerbaren Energien. Mit dem wiedergewählten französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron gibt es eine gute Chance, die EU jetzt zu stärken.

Harte Kante gegen Orban

Aber brauchen wir dafür nicht zuerst eine Einigkeit der Europäer. Der aktuelle Streit über das Ölembargo zeigt doch, wie uneins die EU ist.

Die Stärke der letzten Wochen war die Einheit der EU gegenüber Putin. Das sollten wir nicht kleinreden, sondern darauf aufbauen und endlich eine echte europäische außen- und sicherheitspolitische Union schaffen. Zugleich haben wir die Aufgabe, die Demokratie und europäischen Werte auch innerhalb der EU zu verteidigen. In diesem Sinne habe ich auch Macrons Wahlsieg verstanden: als Chance zur Stärkung von Demokratie und Europa. Wir dürfen nicht sagen: Hauptsache, wir sind einig, denn ohne Rechtsstaatlichkeit wird es keine nachhaltige Einigkeit geben.

Aber wie geht man dann mit dem ungarischen Staatspräsidenten Viktor Orbán um, der Putin nahesteht und sich selbst zum Autokraten gemacht hat?

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Wir müssen unsere Entscheidungsverfahren in der EU ändern – das ist auch im Koalitionsvertrag verankert. Wir wollen bei der Außen- und Sicherheitspolitik von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit übergehen. Genau das wollen auch viele Bürger.

Aber Orbán wird bei der Einführung eines Mehrheitsprinzips nicht mitmachen, weil ihm damit ein Werkzeug aus der Hand genommen würde, um seine Forderungen durchzusetzen. Und Orbán ist gerade wiedergewählt worden.

Im Zweifel müssen wir mit den Regierungen vorangehen, die bereit sind, Europa zu stärken. Die EU hat oft so funktioniert. Das gilt für wichtige Integrationsschritte wie der Bildung des Schengenraumes mit der Abschaffung von Grenzkontrollen oder für die Einführung des Euro.

Langer Atem im Kampf gegen Putin

Also Orbán links liegen lassen, aber ihn weiter mit EU-Geld füttern, mit dem er dann korrupte Geschäfte macht und sein autokratisches System stabilisiert?

Wir haben im Koalitionsvertrag festgelegt, dass wir entschieden gegen das Aushöhlen der Rechtsstaatlichkeit etwa in Ungarn vorgehen. Die Verknüpfung der Bereitstellung von EU-Mitteln mit Rechtsstaatskriterien, der sogenannte Konditionalitätsmechanismus, muss von der EU-Kommission konsequent angewendet werden. Wir wollen aber auch die Interessen der Mittel- und Osteuropäer stärker beachten: Es wäre besser gewesen, mehr auf die Warnungen vor Putin und auf die Forderung nach einer gemeinsamen Energiepolitik zu hören. Wir geben das Versprechen, dass wir künftig unsere Politik, sei es bei Energie oder in anderen Bereichen, nicht ohne die Sicherheitsbedürfnisse der Mittel- und Osteuropäer ausrichten.

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EU-Kommission schlägt Ölembargo gegen Russland vor

Auf die EU-Bürgerinnen und ‑Bürger könnten durch das Ölembargo erhebliche Zusatzkosten zukommen. Das russische Öl muss durch wahrscheinlich teurere Alternativen ersetzt werden.

Wird die nächste Probe für die Einigkeit ein EU-Gasboykott sein?

Jetzt geht es um ein Ölembargo mit dem Ziel, die Gewinne für Putin durch seine Ölgeschäfte zu begrenzen. Was Gas betrifft: Wir arbeiten unter Hochdruck daran, uns von russischem Gas zu verabschieden. Wir dürfen uns nicht länger von der Willkür Russlands abhängig machen. Deshalb kümmern wir uns darum, dass wir schon im Winter Flüssiggas auch in Deutschland anlanden können, das bauen wir dann in den Monaten danach weiter aus. Und wir treiben die Reduktion des Gasverbrauchs voran und natürlich den Ausbau der erneuerbaren Energie.

Erwarten Sie einen langen Krieg, was bedeuten würde, auch die Sanktionen entsprechend lange durchzuhalten?

Wenn ich die Glaskugel hätte, die notwendig wäre, um dies zu wissen, würde ich sie gerne mit Ihnen teilen. Als verantwortungsvolle Politiker müssen wir uns auch auf ein Szenario einstellen, in dem der Krieg lange dauern kann. Deshalb wählen wir die Sanktionen so, dass wir sie lange durchhalten können. Erlauben Sie hinzuzufügen, dass der Krieg für die Ukraine schon lange dauert – nämlich seit 2014. Wir müssen in der Konfrontation mit Putin eine längerfristige Perspektive haben und bedenken, dass diese Konfrontation weit über die Ukraine hinausgeht – siehe etwa Moldawien oder der schwelende Konflikt in Georgien.

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Die Verbraucher müssen also auf Dauer mit einigen Zumutungen rechnen wie hohen Spritpreisen?

Der Krieg in Europa wirkt sich auch auf Deutschland aus, ja. Berlin ist nur zehn Autostunden von der Ukraine entfernt. Wir spüren also die Auswirkungen von brüchigen Lieferketten, von den auch durch den Krieg getriebenen hohen Energiepreisen, und Sanktionen treffen auch unsere Unternehmen. Insofern: Ja, wir zahlen einen Preis. Was Energiekosten anbetrifft: Wir sind gut beraten, jetzt Energie zu sparen und effizienter mit Energie umzugehen, allein schon, um Geld zu sparen. Und die Situation zeigt etwas Grundsätzliches. Wir sollten uns nicht mehr von billigen Importen aus Russland, aus China und sehr lukrativen Exporten nach China und damit von zwei Autokraten abhängig machen. Ich wage zu bezweifeln, dass dies unsere Sicherheit stärkt. Wir haben die Aufgabe, unser Wirtschaftssystem auf nachhaltigere Beine zu stellen.

Die Folge ist weniger Wohlstand?

Nein, das kann auch eine Chance sein, unser Wirtschaftsmodell zukunftstauglich zu machen. Klar ist: So weitermachen wie bisher können wir nicht. Der indische Premierminister Narendra Modi sprach bei seinem Besuch in Berlin vor einigen Tagen von Kreislaufwirtschaft. Er möchte, dass deutsche Unternehmen mit indischen Unternehmen am Aufbau einer Kreislaufwirtschaft in seinem Land arbeiten. Das ist: The talk of the town.

Gemeinsame Rüstungsprojekte als Königdisziplin

Aber Herr Modi gilt auch nicht gerade als Vorzeigedemokrat.

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Das stimmt. Dennoch ist Indien ein Beispiel dafür, wie wir uns resilienter aufstellen und Lieferketten vielfältiger gestalten können.

Strategische Souveränität hat inzwischen drei gigantische Aufgaben: Klimaschutz, Digitalisierung und das Aufholen des Rückstandes bei der Rüstung. Kann die EU das alles überhaupt stemmen?

Es gilt, all dies als europäisches Projekt zu begreifen. Mit dem Kriseninstrument „Next Generation EU“ haben wir Solidarität und Geschlossenheit gezeigt und ermöglichen so die notwendigen Investitionen, um die EU gestärkt aus der Corona-Krise zu führen und den grünen und digitalen Wandel erfolgreich zu gestalten. Unsere eigene Rüstungsindustrie müssen wir dem europäischen Wettbewerb aussetzen und Kooperation für Synergien organisieren: Das ist die Königsdisziplin.

Weil es gerade bei der Rüstung noch immer viele nationale Empfindlichkeiten gibt?

Wir müssen Klein-Klein vermeiden. Wir gehen unter, wenn wir uns in nationale Egoismen verlieren. Es geht um Effizienz: Wenn aus den Niederlanden – hypothetisch gesprochen – das beste Gewehr für die Streitkräfte der EU kommt, dann wird es in den Niederlanden gefertigt. Es gilt aber darauf zu achten, dass bei einer gemeinsamen Entwicklung von Waffensystemen dann auch die Patente dafür allen daran beteiligten Staaten gehören. Aber bei alledem dürfen wir nicht vergessen: Es geht hier nicht um ein blindes Hochrüsten, es geht um die notwendige Wehrfähigkeit. Und das Ganze muss mit einer sehr strikten Rüstungsexportkontrollpolitik einhergehen. Nach wie vor gilt, dass wir sehr genau schauen müssen, wohin Rüstungsgüter exportiert werden dürfen, in wessen Hände sie gelangen und was damit angerichtet wird. Deshalb arbeiten wir auch weiter an einem strikten Rüstungsexportkontrollgesetz. Das gehört genauso zu einem Sicherheitsdenken.

Besteht nicht die Gefahr, dass der Klimaschutz angesichts der plötzlich so hohen Priorität der Rüstung unter die Räder kommt?

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Wir setzen uns dafür ein, dass der Klimaschutz nicht unter die Räder kommt – bei uns und in Europa. Ich möchte aber eines in Erinnerung rufen: Die Klimakrise ist eine Sicherheitskrise. Eine ungebremste Erderwärmung verschärft Konflikte und Bedrohungslagen weltweit. Daher ist es zwingend, Energie- und die Rohstofffragen als Sicherheitsfragen zu verstehen. Wir müssen klären, mit wem wir bei den Themen Energie und Rohstoffe Partnerschaften eingehen wollen. Welchen Beitrag können wir selbst leisten und wie organisieren wir eine Kreislaufwirtschaft?

Und dann auch noch die Digitalisierung.

Bei der Digitalisierung sollten wir auf die Stärke, die wir schon in Europa haben, setzen und wie wir diese weiterentwickeln können. Beim 5G-Mobilfunk etwa gehören Ericsson und Nokia weltweit zu den Marktführern. Europäisches Cloudcomputing und ein souveränes europäisches Datenökosystem müssen wir gemeinsam voranbringen. Auch das hat eine Sicherheitskomponente, weil wir dort von außereuropäischen Konzernen abhängig sind.

USA: Vorbild in der Industriepolitik und in Krisensituationen

Die USA fördern und subventionieren seit Jahrzehnten Unternehmen mit staatlichen Aufträgen – vielfach fürs Militär. So wurde auch die weltweit dominierende IT-Industrie aufgebaut. Ein Vorbild für die EU?

Die US-Regierung füllt ihre Funktion als Auftraggeber sehr gut aus. Da werden nicht fünf Förderprogramme gestartet. Der Staat schreibt stattdessen etwa eine Cloudlösung für Regierungsorganisationen aus. Das spornt die Anbieter an und bringt natürlich auch das Unternehmen, das zum Zuge kommt, voran. Wir sitzen daran, dass wir uns in diese Richtung auch auf europäischer Ebene künftig bewegen.

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Diese Technologien werden aber auch von Geheimdiensten genutzt, um Daten über unbescholtene Bürger zu sammeln.

Digitalisierung ohne Datenschutz wird keine europäische Zukunft haben. Wir müssen unsere eigenen Datenräume schaffen, die unseren Kriterien zum Schutz von personalisierten privaten Daten entsprechen. Das muss uns gelingen. Mit der Datenschutzgrundverordnung und dem Digital Services Act der EU haben wir schon ein weltweit einmaliges und normativ hohes Schutzniveau erreicht.

Dennoch können wir von den USA noch mehr lernen?

In Krisensituation kann die US-Regierung Lieferketten für kritische Produkte sicherstellen. In Europa schaffen wir uns in jeder Krise neue Instrumente. Wir haben uns zunächst gefragt, ob wir gemeinsam Impfstoffe einkaufen. Jetzt fragen wir uns, wie wir gemeinsam Gas beschaffen. Gut wäre, eine Art Basisinstrumentenkasten für Krisen zu installieren. Denn wir leben in einer sehr krisenhaften Zeit.

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