Tarifverhandlungen in der Chemie: Lieber weniger Druck als mehr Geld
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Auch die IG BCE fordert nun eine defacto Arbeitszeitverkürzung
© Quelle: Stratenschulte, Julian
1930 wagte John Maynard Keynes eine optimistische Prognose: Im Jahr 2030 würden die Menschen „von ihren drückendsten wirtschaftlichen Sorgen erlöst“ sein, das größte Problem werde es sein, „wie die Freizeit auszufüllen“ ist, schrieb der später weltberühmte Ökonom – davon ausgehend, dass dann eine 15-Stunden-Woche ausreichen werde, um alle Bedürfnisse zu befriedigen.
90 Jahre später ist davon wenig zu spüren. Die letzten großen Auseinandersetzungen um kürzere Arbeitszeiten liegen mehr als 30 Jahre zurück, als die Gewerkschafter die 35-Stunden Woche in der Metallindustrie erstritten. Und noch länger her ist es, dass Gewerkschaften branchenübergreifend freie Samstage einforderten. „Samstags gehört Vati mir“, skandierten die Mitglieder des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) 1954.
Doch jetzt rückt das Thema wieder auf die Agenda: „Verkürzte Vollzeit“ bei den Metallern, „Zeit statt Geld“ bei der Bahn – und nun fordert die IG BCE als drittgrößte DGB-Gewerkschaft bei den heute beginnenden Tarifgesprächen eine Regelung für flexiblere und verkürzte Arbeitszeiten.
Das kommt bei uns sehr gut an.
Sinischa Horvat, Betriebsratschef bei BASF
„Das kommt bei uns sehr gut an“, ist Sinischa Horvat überzeugt. Er ist Betriebsratschef bei BASF und weiß gut, was die Mitarbeiter in der chemisch-pharmazeutischen Industrie mit dem von der IG BCE geforderten Zukunftskonto machen würden. „Der eine möchte sich individuell freinehmen, andere würden es für die Rente ansparen oder irgendwann ein Sabbatical nehmen“, erzählt Horvat über das Modell, mit dem die Gewerkschaft bei den kommenden Tarifverhandlungen mehr Flexibilität und mehr Freizeit in der Chemiebranche erkämpfen möchte.
Das sogenannte Zukunftskonto ist dafür das zentrale Instrument. In den am Montag beginnenden Chemie-Tarifgesprächen fordert IG BCE, dass künftig jeder der rund 580.000 Beschäftigten ein solches Konto bekommt. 1000 Euro jährlich sollen die Arbeitgeber einzahlen. Die Beschäftigten wiederum dürften dann wählen, ob sie die Summe ausbezahlt bekommen oder in jährlich etwa vier bis sechs freie Tage umwandeln. Oder, ob sie auf dem Zukunftskonto sparen, um sie irgendwann auf einen Schlag zu nutzen.
IG BCE will mehr Entlastung, mehr Flexibilität
„Die Beschäftigten wünschen sich Entlastung und mehr Souveränität bei der Arbeitszeitgestaltung“, erklärt IG-BCE-Verhandlungsführer Ralf Sikorski, warum die Forderung bei der Streikvorbereitung auf so viel Zuspruch stößt – was dem Vernehmen nach aber den ein oder anderen Gewerkschafter überrascht hat.
Für Prof. Nicole Mayer-Ahuja ist es hingegen keine Überraschung. Dass seit den jüngsten Abschlüssen in der Metallindustrie und bei der Bahn die Diskussion über Arbeitszeiten generell an Bedeutung gewonnen hat, sieht auch die Göttinger Arbeitssoziologin. Sie warnt aber davor, das mit den Kämpfen um die 35-Stunden-Woche in der Metallindustrie der 1980er- Jahren zu vergleichen. Zwar gehe es Beschäftigten um „mehr Zeit zum Leben“. Doch für viele stehe eher eine dringend nötige Entlastung im Vordergrund. „Heute ist das auch aus der Not heraus geboren“, ist Mayer-Ahuja überzeugt.
Denn aus ihrer Sicht hat der Druck auf die Beschäftigten in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Mehr Arbeit werde, das belegen nach ihren Angaben zahlreiche Erhebungen, von weniger Mitarbeitern erledigt – Stichwort Arbeitsverdichtung. „Auch Projektarbeit mit Zielvereinbarungen, bessere Software zur Dokumentation von Arbeit oder das stetige Betonen von Standortkonkurrenz und Shareholder-Value haben ihre Spuren bei den Beschäftigten hinterlassen“, fasst die Wissenschaftlerin zusammen.
Beschäftigte sind zu erschöpft, um die Freizeit auszukosten
Sie verweist auf Studien des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Dessen „Index Gute Arbeit“ für das Jahr 2017 zufolge gaben zuletzt 41 Prozent der Befragten an, nach der Arbeit zu erschöpft zu sein, um ihre Freizeit genießen zu können. „Das ist wirklich viel“, sagt Mayer-Ahuja, schließlich kümmerten sich viele Arbeitnehmer nach Feierabend noch um ihre Familie oder weitere Angehörigen.
Mayer-Ahuja hält die Tarifkämpfe um Arbeitszeiten deshalb nicht zuletzt für einen Versuch, kollektive Lösungen an einer Stelle zu finden, an der Beschäftigte bislang individuelle Wege wählen. „Also meist Teilzeit mit Lohnverzicht oder Frühverrentung mit Einkommenseinbußen“, wie Meier-Ahuja es formuliert.
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Betriebsrat Horvat bestätigt, dass das geforderte Zukunftskonto aus diesem Grund nicht zuletzt bei den – auch wegen der Rente mit 67 – älter werdenden Arbeitnehmern gut ankommt. „Die merken, das lange Arbeiten geht in die Knochen.“ Zugleich hebt er hervor, dass das Zukunftskonto auch flexiblere Arbeitszeiten mit sich bringt. „Das Thema wird auch wichtiger, um für junge Talente attraktiv zu sein“, erklärt Horvat angesichts des Fachkräftemangels.
Wenn die Branche schrumpft, können die Löhne nicht steigen.
Klaus-Peter Stiller, Geschäftsführer beim Chemie-Arbeitgeberverbandes BAVC
Der ist aus Sicht der Arbeitgeber allerdings der Hauptgrund für Skepsis gegenüber dem geforderten Zukunftskonto. „Eine Verschärfung des Fachkräftemangels auch noch mit einem ‚Zukunftsbetrag‘ zu finanzieren, geht in die völlig falsche Richtung“, findet Klaus-Peter Stiller, Hauptgeschäftsführer des Chemie-Arbeitgeberverbandes BAVC. Der hat ausgerechnet, dass das Zukunftskonto einer durchschnittlichen Gehaltssteigerung von 1,8 Prozent gleich käme - in Zeiten einer schwächelnden Wirtschaft ein Problem. "Wenn die Branche schrumpft, können die Löhne nicht steigen", sagt Stiller.Arbeitgeber sind skeptisch
Dem Wunsch nach flexibleren Arbeitszeiten kann er durchaus etwas abgewinnen. „Flexibler zu arbeiten bedeutet nicht, weniger zu arbeiten“, betont er allerdings – und geht damit nicht nur zu Sikorski, auf Konfrontationskurs. „Das Thema brennt allen auf den Nägeln“, sagt der Gewerkschafter angesichts branchenübergreifender Umfragen zur Arbeitszeitverkürzung. Das bestätigt auch Mayer-Ahuja: „Insgesamt zeigen Befragungen, dass eine kurze Vollzeit die Idealvorstellung vieler Beschäftigter ist.“
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