E-Paper
Entlassung von Patrick Graichen

Habecks bitterste Stunde

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen).

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen).

Artikel anhören • 7 Minuten

Berlin. Robert Habeck holt tief Luft, als er an diesem Mittwoch in seinem Ministerium vor die Kameras tritt. Man hört seinen schweren Atem durch die Mikrofone. Es ist ein Auftritt, den Habeck nicht gewollt, gegen den er lange gekämpft hat, und der am Ende doch unvermeidbar war. Der Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz trennt sich von seinem wichtigsten Mann, Energiestaatssekretär Patrick Graichen. Das sei eine weitreichende, schwere und sehr harte Entscheidung, sagt Habeck. „Weitreichend für mein Haus, schwer für mich und sehr hart für Patrick Graichen.“

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Habeck begründet seien Sinneswandel mit einem neuen Sachverhalt, der bei internen Prüfungen des Ministeriums aufgefallen sei. Es gehe um einen Vorgang im Rahmen der Nationalen Klimaschutzinitiative, für die sich 29 Organisationen mit Förderprojekten beworben hätten. Ein Dienstleister habe drei Projekte ausgewählt, darunter eines des Berliner Landesverbands des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND) mit einer Fördersumme von knapp 600.000 Euro. Im November 2022 habe Graichen eine Liste mit Skizzen dieser drei Projekte gebilligt und damit als „förderwürdig“ eingestuft. Die finale Entscheidung sei damit reine Formsache gewesen, so Habeck, gleichzeitig betont er aber, dass bislang kein Geld geflossen sei.

„Der eine Fehler zu viel“: neuer Compliance-Verstoß besiegelte das Ende

Das Problem: Im Vorstand des BUND Berlin sitzt Verena Graichen – die Schwester des Staatssekretärs. Bis Mai 2022 war sie sogar Landesvorsitzende. Der Vorgang hätte Graichen wegen dieser Verbindung niemals vorgelegt werden – und schon gar nicht hätte der Staatssekretär ihn abzeichnen dürfen. Es ist ein Compliance-Verstoß, eine Missachtung der internen Verhaltensregeln der Bundesregierung. Oder, wie Robert Habeck es sagt: „Es ist der eine Fehler zu viel.“

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Graichen hatte bereits zuvor massiv in der Kritik gestanden, weil er an der Auswahl seines Trauzeugen für den Geschäftsführungsposten bei der staatlichen Energieagentur Dena beteiligt gewesen war. Hinzu kommt ein weiterer möglicher Interessenkonflikt bei der Besetzung einer Expertenkommission zum Monitoring der Energiewende. Mit Felix Matthes wurde ein Mitarbeiter des Öko-Instituts ausgewählt, einer privaten Forschungseinrichtung, für die auch Graichens Schwester Verena sowie sein Bruder Jakob tätig sind. Eigentlich hätte Graichen wegen dieser Verbindung von Vergaben an das Öko-Institut ausgeschlossen sein müssen – war er aber offenbar nicht.

Die Entlassung ist Habecks bitterste Stunde als Minister

Letzteren Vorgang bewertet Habeck zwar als weniger schwerwiegend, aber die Fehler ließen sich nicht mehr einzeln betrachten. „In der Gesamtschau hat sich Patrik Graichen zu angreifbar gemacht, sein Amt noch wirkungsvoll ausüben zu können“, sagt Habeck. Er werde deshalb den Bundespräsidenten bitten, Graichen in den einstweiligen Ruhestand zu versetzen.

Den einstweiligen Ruhestand sieht das deutsche Beamtenrecht für politische Beamte vor, wenn das Vertrauensverhältnis zum Dienstherren gestört ist. Beamte im einstweiligen Ruhestand bekommen für drei Jahre rund 72 Prozent ihrer ruhestandsfähigen Bezüge, danach berechnet sich die Höhe an der Dienstzeit.

Hauptstadt-Radar

Der Newsletter mit persönlichen Eindrücken und Hintergründen aus dem Regierungsviertel. Immer dienstags, donnerstags und samstags.

Mit meiner Anmeldung zum Newsletter stimme ich der Werbevereinbarung zu.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Robert Habeck wirkt bei seinem Statement ernst und konzentriert, allerdings weniger angefasst als in letzter Zeit. Es ist seine bitterste Stunde als Minister und Vizekanzler, aber es ist auch die Chance auf einen Neuanfang. Hinter ihm liege ein „intensiver und fordernder Abend“, sagt er. In dessen Verlauf musste er nicht nur mit seinen Beratern und Graichen selbst reden, sondern auch mit Bundeskanzler Olaf Scholz, der am Randes des Europarats in Island intensiv telefonierend gesichtet wurde.

Scholz äußert sich am Mittwoch denkbar knapp. „Ich bin informiert worden über die Entscheidung und habe das zur Kenntnis genommen“, sagt er. „Ich habe mit Graichen gut zusammengearbeitet.“

Energiebranche nimmt die Entscheidung mit gemischten Gefühlen auf

In der Energiebranche wird die Personalentscheidung mit gemischten Gefühlen aufgenommen. „Man kann davon ausgehen, dass die Mehrheit der kommunalen Energieversorger nicht unglücklich über den Abgang von Graichen ist“, sagte ein Brancheninsider dem RND. Graichen habe für einen „All-Electric-Ansatz“ gestanden und die gesamte Energieversorgung von der Heizung bis zum Stahlwerk auf Strom umstellen wollen. Viele Stadtwerke sorgen sich deshalb darum, was aus ihren Gasnetzen werden soll und machen sich deshalb für Biomethan und Wasserstoff als Alternative stark. Graichen hatte in den vergangenen Monaten mehrfach deutlich gemacht, was er von solchen Ideen hält: nichts.

„Der eine Fehler zu viel“: Habecks Staatssekretär Graichen verlässt Bundeswirtschaftsministerium
ARCHIV - 10.05.2023, Berlin: Robert Habeck (r, Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, und Patrick Graichen, Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, nehmen an der gemeinsamen Sitzung der Ausschüsse für Wirtschaft und Klimaschutz und Energie des Bundestages teil. Der umstrittene Wirtschaftsstaatssekretär wird seinen Posten räumen. Das erfuhr die Deutsche Presse-Agentur in Berlin am Mittwoch, auch der «Spiegel» berichtete darüber. Der Top-Mitarbeiter von Bundeswirtschaftsminister Habeck (beide Grüne) war zuletzt wegen seiner Beteiligung an der Auswahl seines Trauzeugen für den Chefposten der bundeseigenen Deutschen Energie-Agentur (Dena) in die Kritik geraten. Foto: Kay Nietfeld/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Bundeswirtschaftsminister Habeck verwies am Mittwoch auf neue Ungereimtheiten in Bezug auf seinen Energie-Staatssekretär.

Selbst unter Herstellern erneuerbarer Energien sammelte der Mann zuletzt Kritiker. Die Hauruckaktion mit den Wärmepumpen habe gezeigt, dass es an politischem Feingefühl gefehlt habe und dass die Ängste von Millionen Hausbesitzern nicht ernst genug genommen wurden, sagt ein Insider. „Der Versuch, sich mit einem spektakulären Coup bei der Wärmewende als Speerspitze des Klimaschutzes zu profilieren, ist gründlich schiefgegangen.“ Was das Ministerium jetzt brauche, sei eine neue Strategie, die sich stärker auf Infrastruktur und die Umsetzung von angestoßenen Projekten fokussiere. Dazu könnte neben der Förderung kommunaler Wärmeplanungen auch gehören, die Ausweisung von Flächen für Windräder und Solarparks gemeinsam mit Städten und Landkreisen zu forcieren.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Es gibt ehrliches Bedauern für Graichen

Doch es gibt nicht nur Genugtuung, sondern auch ehrliches Bedauern. So zollen viele Geschäftsführer Graichen und Habeck Respekt für das Management der Energiekrise und das Abwenden eines Engpasses bei der Gasversorgung. „Wir ziehen den Hut“, sagt einer dem RND. Graichen und Habeck hätten angepackt, was 20 Jahre versäumt worden sei, weil sich die Politik zu sehr auf das billige russische Gas verlassen hätte.

Auch von Kerstin Andreae, Chefin des Energiedachverbande BDEW, kommt zum Abschied Lob: „Mit Patrick Graichen verliert die Bundesregierung einen ausgewiesenen und international hoch anerkannten Energiewendeexperten. Und an die Adresse Habecks fügt sie hinzu: „Die zahlreichen großen Aufgaben und Themen der Energiewende dürfen jetzt trotz alledem nicht liegen bleiben.“

Der grüne Wirtschaftsminister steht nun vor der schwierigen Aufgabe, schnell eine Person zu finden, die nicht nur enorme Stressresistenz, fundiertes Wissen über die Energiewirtschaft, politisches Gespür und Verhandlungsgeschick mitbringt, sondern auch politisch weitgehend unbelastet ist und auf gar keinen Fall zum Graichen-Umfeld gehört. Eine „Bild“-Meldung, wonach Netzagenturchef Klaus Müller Habecks Favorit sein soll, wird in der Bonner Behörde als „Stochern im Nebel“ eingeschätzt.

Habeck selbst beantwortet die Frage nach dem neuen Staatssekretär mit einem Witz. „Ich werde sicherlich nicht meinen Trauzeugen berufen.“


Mehr aus Wirtschaft

 
 
 
 
 
Anzeige
Anzeige

Letzte Meldungen

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Spiele entdecken