Frachterstau in Südchina: Wie Corona das deutsche Weihnachtsgeschäft bedroht
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Die mit 399 Metern Länge zu den größten Containerschiffen der Welt gehörende „Cosco Shipping Libra“ erreicht den Hamburger Hafen.
© Quelle: imago images/Chris Emil Janßen
Berlin/Hannover. St. Pauli, Landungsbrücken, am letzten Freitag: Es ist Mittag, und die Schiffshörner dröhnen. Der Lärm ist ohrenbetäubend, und er ist weit mehr als ein alljährliches Ritual zum internationalen Tag der Seefahrer. Das Konzert der Hörner im Hafen scheint ein Warnsignal zu sein. Es warnt vor den Gefahren der Corona-Pandemie. Und die sind nach wie vor groß – für Seeleute, Reeder und Spediteure.
„An Land fühlt es sich vielleicht so an, aber auf See ist die Pandemie nicht vorbei“, sagt Matthias Ristau. Als Seemannspastor der Nordkirche umsorgt er diejenigen, die Waren aus aller Welt nach Deutschland bringen – oder es zumindest derzeit versuchen.
Hunderte Schiffe stauen sich
Auf den Weltmeeren reiht sich seit Ausbruch des Virus Krise an Krise: Erst mangelte es in Asien an Containern, weil zu viele Schiffe während des Lockdowns in Europa blieben. Dann blockierte der havarierte Frachter „Ever Given“ über Tage den Suezkanal, eine der wichtigsten Schifffahrtsstraßen überhaupt. Es folgte der massive Corona-Ausbruch in Indien, dem Heimatland vieler Seeleute, die deshalb auf den Schiffen fehlten.
Und dann, Ende Mai, machten mehrere chinesische Städte ihre Häfen aus Angst vor dem Virus dicht. Das gewaltige Containerterminal von Yantian, dem viertgrößten Hafen der Welt, stand über Wochen still. Hunderte Schiffe stauten sich im Südchinesischen Meer.
Die Auswirkungen auf den Welthandel sind enorm, und das nicht nur, weil Produkte aus der chinesischen Industriemetropole Shenzhen nicht rechtzeitig auf die Reise nach Europa und Amerika gehen.
Ein Schiff, das auf seine Abfertigung länger als geplant wartet, erreicht auch den nächsten und übernächsten Hafen zu spät, was dort wiederum zu Problemen führt. Den Reedereien bleibt irgendwann keine andere Wahl, als Häfen aus ihren Fahrplänen zu streichen, um die Verspätung wieder aufzuholen. Und plötzlich gibt es Containerstaus und verstopfte Terminals in allen Teilen der Welt.
Von einem globalen Chaos ist inzwischen die Rede. Und die Auswirkungen sind spürbar – auch für Konsumenten in Deutschland. Als Erstes sind die Frachtraten explodiert. Die Kosten für den Transport eines Containers von Ostasien nach Europa haben sich binnen eines Jahres verfünffacht. Dadurch steigen die Preise der importierten Güter.
Verbraucherpreise steigen
Zwar sind die Transportkosten bei den meisten Produkten nicht der entscheidende Faktor, angesichts der massiven Steigerung allerdings machen sie sich durchaus bemerkbar. Nach Schätzungen der Industrieländerorganisation OECD könnte allein der bis zum Frühjahr verzeichnete Anstieg der Frachtraten die Verbraucherpreise um durchschnittlich 0,2 Prozent steigen lassen. Der Anstieg zwischen Frühjahr und Sommer kommt noch hinzu.
Höhere Preise sind das eine, wenn aber Container ihr Ziel zu spät oder gar nicht erreichen, fehlen plötzlich Konsumgüter – die Regale bleiben leer. Einige Discounter haben bereits angekündigt, Aktionswaren später ins Programm nehmen zu wollen. Auch IT-Ausrüster und Elektronikhändler rechnen mit längeren Lieferzeiten.
Kettenreaktion droht bei Verspätung
Noch folgenreicher ist es, wenn Vorprodukte für die Industrie ausbleiben. Moderne Fertigungsstraßen sind auf Just-in-time-Produktion ausgelegt. Kommen Schrauben, Elektronikbauteile oder Kunststoffkomponenten nicht rechtzeitig, stehen die Bänder still. Wenn dann noch Produkte betroffen sind, auf die wiederum andere Hersteller warten, droht eine Kettenreaktion.
Beim ersten Corona-Lockdown war dieses Phänomen zu besichtigen. Viele Autobauer fuhren damals die Produktion nicht in erster Linie wegen des Virus herunter, sondern vor allem, weil Teile der Zulieferer fehlten. Inzwischen wächst die Sorge, dass der Stau auf den Meeren die gerade einsetzende Erholung der Konjunktur nach den langen Corona-Monaten gefährden könnte.
Das Chaos kostet
„Die logistischen Probleme sind erheblicher Sand im Getriebe der wirtschaftlichen Erholung“, sagt Klaus-Jürgen Gern vom Kieler Institut für Weltwirtschaft. In Industrie und Handel sei die internationale Verflechtung enorm. Damit Produktionsketten funktionieren, sei eine reibungslose Logistik zentral. „Die Lieferengpässe führen dazu, dass die Konjunktur in Deutschland weniger Schwung entwickelt, als sie es sonst tun würde“, glaubt der Ökonom.
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Die Pandemie und wir
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Gern hat berechnet, welche Kosten das Chaos auf den Weltmeeren verursacht. Ihm zufolge wären ohne Lieferschwierigkeiten 5 Prozent mehr Industrieproduktion drin, etwa ein Prozent des Bruttosozialprodukts gehe gerade flöten. Welcher Teil der Lieferschwierigkeiten auf den Stau der Schiffe und welcher auf noch knappe Produktionskapazitäten bei Computerchips und Rohstoffen zurückgehe, sei aber schwer zu beziffern. An Aufträgen jedenfalls mangele es nicht und gäbe es keine Lieferschwierigkeiten, könnte die deutsche Wirtschaft 2021 etwa 38 Milliarden Euro mehr verdienen, schätzt der Experte.
Selbst Auswirkungen auf das Weihnachtsgeschäft hält Gern für denkbar. Es bestehe die Gefahr, dass die für die nächsten Monate anstehende Produktion und Auslieferung von Konsumgütern für Weihnachten nicht wie geplant umgesetzt werden könne und es in einigen Bereichen Engpässe geben werde, warnt er.
Ende der Turbulenzen ist nicht in Sicht
Ein Ende der Turbulenzen ist nicht in Sicht – auch wenn der Warenumschlag am chinesischen Hafen Yantian inzwischen wieder läuft. „Selbst wenn es keine zusätzlichen neuen Störungsimpulse gibt, wird es viele Wochen dauern, bis die Logistik wieder weitgehend reibungslos funktioniert“, sagt Ökonom Gern.
Auch große Reeder sind skeptisch. „Ich wünschte, ich könnte sagen, dass wir das Gröbste hinter uns haben“, sagte jüngst Hapag-Lloyd-Chef Rolf Habben Jansen in der „Financial Times“. „Aber wir haben Yantian nicht kommen sehen, und in den vergangenen Monaten gab es noch einige Überraschungen mehr“, so der Chef der fünftgrößten Reederei der Welt.
Seemannsmissionar Ristau ist hingegen weniger überrascht. Längst ist seine Seemannsmission im Pandemiemodus und organisiert Quarantäneunterkünfte für eintreffende Seeleute ebenso wie einen Lieferservice für Mannschaften, die ihr Schiff nicht verlassen dürfen. Die Crews seien zunehmend am Limit, sagt Ristau. „Es kommen immer noch Leute an, die 18 bis 20 Monate auf See waren“, schildert er. Normal seien neun Monate. „Man merkt denen an, dass sie viel zu lange auf See waren, denen drohen bleibende psychische Schäden“, warnt der Geistliche.
Häfen und Regierungen weltweit machten sich weniger Sorgen um die körperliche und seelische Gesundheit der Besatzungen als um eine mögliche Einschleppung des Coronavirus. China sei nur ein besonders rigides Beispiel, vergleichbare Fälle gebe es allerdings in vielen Ländern, sagt Ristau.
Und gänzlich unberechtigt, das räumt der Geistliche ein, sind die Ängste vor dem Coronavirus nicht. „Auch wegen der Delta-Variante scheinen auf einmal ganze Crews anstatt einzelner Seeleute zu erkranken“, sagt Ristau.
Seeleute bräuchten Impfungen
Eigentlich müsste die Seeschifffahrt ihre Arbeit einstellen, findet der Gottesmann, auch wenn er weiß, dass das nur wenig realistisch ist. Die einzige Alternative: zügige und flächendeckende Impfungen für alle. Doch auch das ist nicht so leicht. Einerseits, weil die Seeleute ständig unterwegs sind und deshalb kaum Gelegenheit zur Impfung haben. Andererseits, weil viele von ihnen aus ärmeren Ländern stammen, in denen es an Impfstoff mangelt.
Eine Lösung wären länderübergreifende Impfzentren für Seeleute, die Internationale Organisation für Arbeit (ILO) fordert diese schon länger. Eine entsprechende Resolution setzen aber nur wenige Länder um. Auch Deutschland hält bislang nur Impfdosen für Deutsche, hier arbeitende oder hier wohnhafte Menschen bereit – Kriterien, die auf die meisten Crewmitglieder nicht zuträfen, sagt Ristau.
Der Hamburger Hafen immerhin hat nun den Anfang gemacht. Am Tag der dröhnenden Schiffshörner verabreichte der hafenärztliche Dienst die ersten Impfdosen an eintreffende Crews. Es ist ein Beitrag zur Verbesserung der Lage, aber nur ein kleiner. Weltweit fahren 1,7 Millionen Männer und Frauen zur See. Viele von ihnen werden wohl noch lange mit der Corona-Gefahr leben müssen – und die Weltwirtschaft mit ihnen.