Vorteile durch Testosteron

Neue Regeln für transgeschlechtliche Leichtathletinnen: Wann ist eine Frau eine Frau?

Soll sich einer Hormontherapie unterziehen: Caster Semenya.

Kämpft gegen die Regeln des Leichtathletik-Weltverbands: Läuferin Caster Semenya.

Bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft 2009 in Berlin liefen zwei Lauf-Stars zu Gold. Zum einen stellte Usain Bolt über 100 Meter einen Weltrekord auf. Sein Erfolgsgeheimnis: 1,96 Meter Körpergröße, ein optimales Oberschenkel-Unterschenkel-Verhältnis und laut mancher Experten eine perfekte Zehenlänge. Zum anderen gewann Caster Semenya ihren ersten großen internationalen Wettbewerb über 800 Meter. Ihr Kapital: Ein kräftiger Körperbau und hoher Testosteronspiegel.

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Über einen unfairen Wettbewerbsvorteil diskutierten Fans und Leichtathletik-Funktionäre aber nur in einem der beiden Fälle. Caster Semenya, so vermuteten sie, sei intergeschlechtlich. Der internationale Leichtathletikverband World Athletics (WA, früher IAAF) legte daraufhin eine Obergrenze für Testosteron bei Sportlerinnen fest - eine Obergrenze für Köpergröße und Zehenlänge war nie im Gespräch.

14 Jahre später hat WA nun die Regeln weiter verschärft: Intergeschlechtliche Athletinnen dürfen seit dem 31. März noch weniger Testosteron im Blut haben, nämlich pro Liter maximal 2,5 Nanomol des wichtigsten männlichen Sexualhormons. Transgeschlechtliche Sportlerinnen dürfen künftig gar nicht mehr in Frauenwettbewerben antreten, wenn sie die männliche Pubertät durchlaufen haben, unabhängig vom Testosteronspiegel.

Wann ist eine Frau eine Frau?

Der Weltverband will damit endlich Gerechtigkeit schaffen: Die Entscheidung sei „im besten Interesse unseres Sports“, sagte WA-Präsident Sebastian Coe in einem Statement zur neuen Regel. „Wir müssen die Fairness für weibliche Athletinnen über alle anderen Überlegungen stellen.“ Der Deutsche Leichtathletik-Verband sieht das ähnlich. Viele seien mit den alten Regeln unzufrieden gewesen, deshalb „war es richtig, hier neue Regeln zu schaffen mit denen versucht wird, dem binären Wettkampfsystem gerechter zu werden“, teilt der Verband auf Anfrage des RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) mit.

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Diese Äußerungen sorgen deshalb für Aufsehen, weil sich daraus zwei sehr grundsätzliche Fragen ergeben: Wann ist eine Frau eine Frau? Und was ist gerecht im Sport?

Die Antwort auf die erste Frage hat der Leichtathletik-Weltverband für sich nun klar beantwortet: Eine Frau ist demnach, wer über einen Zeitraum von mindestens 24 Monaten weniger als 2,5 Nanomol Testosteron im Blut hat und die weibliche Pubertät durchlaufen hat. Der niedrige Grenzwert ist für Claudia Wiesemann allerdings „Willkür und damit diskriminierend“. Sie ist Direktorin des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universitätsmedizin Göttingen und forscht zu Inter- und Transgeschlechtlichkeit.

Die eigene Regele relativiert

„Die Untersuchungen, auf die sich World Athletics stützt, weisen selbst darauf hin, dass ungefähr eine von 10.000 Frauen über diesem Wert liegt. Der Weltverband schließt von einer Mehrheitsverteilung auf eine absolute Regel, wer Frau ist“, sagt Wiesemann dem RND. Zudem sei es absurd, dass WA seine Regel gleich wieder selbst relativieren muss: Frauen mit dem Polycystische Ovarialsyndrom, einer Hormonstörung, dürfen über dem Grenzwert liegen - und trotzdem in Frauenwettbewerben antreten. Vier bis zwölf Prozent der Frauen im gebärfähigen Alter betrifft diese Störung.

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Die Diskussion um Testosteronwerte ist entbrannt, weil das Hormon eine doppelte Rolle spielt: Zum einen soll bei einer Geschlechtsangleichung von trans Frauen das männliche Sexualhormon im Körper reduziert werden. Das ist aber mit einer aufwändigen Therapie verbunden, die den Körper belastet. Zum anderen steigert das Hormon die Leistungsfähigkeit. Deshalb ist es als Dopingmittel verboten.

Wie groß ist der Leistungsvorteil?

Wie Therapien, die Testosteron unterdrücken, bei Spitzensportlerinnen wirken, haben bisher nur wenige Studien untersucht. Timothy Roberts, Mediziner an der Universität Missouri-Kansas City, kommt zum Schluss, dass trans Frauen vor einer Hormonbehandlung 21 Prozent schneller laufen als sogenannte Cis-Frauen. Durch eine Hormonbehandlung gleiche sich das zwar an, sie bleiben zwei Jahre nach der Therapie im Schnitt aber 12 Prozent schneller. Andere Studien zeigen nicht nur Vorteile bei der Ausdauer, sondern auch im Bereich der Kraft. Vorteile können nach der Therapie bleiben, weil sich zum Beispiel das Lungenvolumen oder die Knochenstruktur durch sie nicht ändern.

Wie groß die Vorteile im Wettbewerb sind, hängt aber stark von den Anforderungen der jeweiligen Disziplin ab. Kugelstoßen, Sprint, Hochsprung: In jedem Wettbewerb gibt es spezifische körperliche Vorteile. Medizinethikerin Wiesemann findet es deshalb falsch, dass die neue WA-Regel für alle Disziplinen gilt. „Der Leichtathletik-Verband hätte genügend Ressourcen, um detailliert zu untersuchen, wie sich das jeweils auswirkt. Eigentlich verlangt das Internationale Olympische Komitee auch differenzierte Regeln, der Leichtathletik-Verband kommt dem aber nicht nach.“

Eine Studie zu konzipieren, die das untersucht, dürfte gar nicht so einfach sein: Die Zahl der Transathletinnen ist gering. Der deutsche Verband spricht von „einigen wenigen“, die sich im Jahr melden würden. Zahlen für den Leistungssport liegen nicht vor. International werden zwar Fälle wie die von Caster Semenya oder der amerikanischen Schwimmerin Lia Thomas prominent diskutiert - aber auch in der Weltspitze finden sich nur wenig Trans-Sportlerinnen. Wäre es also vielleicht einfacher, auf einem anderen Weg Gerechtigkeit herzustellen?

Neues Wettkampfsystem als Lösung

Denn die Kategorisierung von Wettbewerben nach Geschlecht ist künstlich. „Dass man das Geschlecht und nicht andere Merkmale für die Einteilung heranzieht, ist in der Geschichte des Sports begründet“, erklärt Wiesemann. „Frauen waren lange vom Leistungssport ausgeschlossen - und als sie teilnehmen durften, wollte man sie dann in eigene Wettbewerbe stecken.“

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Alison Heather, Physiologin an der Universität Otago in Neuseeland, will dieses historisch gewachsene System aufbrechen. Ihr Vorschlag: Ein Algorithmus, der für jede Disziplin anhand körperlicher Gegebenheiten errechnet, welche Sportler und Sportlerinnen zusammen in einer Kategorie antreten können. So sollen die Wettbewerbe fair und spannend bleiben. Der Algorithmus könnte zwar den Testosteronspiegel einbeziehen, Heathers Vorschlag zufolge aber auch, ob man sich als Mann oder Frau fühlt. Größe, Lungenvolumen und andere körperliche Eigenschaften sollen ebenfalls einbezogen werden.

Die individuelle Prüfung jedes Sportlers und jeder Sportlerin ist sogar schon etabliert: im paralympischen Bereich. Menschen mit Behinderung werden danach kategorisiert, wie stark sie bei einer Disziplin eingeschränkt sind. Daraus ergeben sich verschiedene Kategorien. Der Deutsche Leichtathletik-Verband will sich zu dieser Idee nicht äußern. Man wolle zunächst das Ergebnis einer Expertengruppe abwarten, die World Atheltics im Zuge der Regelanpassung eingesetzt hat. Medizinethikerin Wiesemann hingegen zeigt sich offen für kreative Vorschläge.

Fairness steht nicht über allem

Sie weist aber auch darauf hin, dass Fairness im Sport nicht über allem stehe, wie es WA-Präsident Coe formuliert hat. „Der Verband vergisst, dass es bei den Regeln auch um Persönlichkeitsrechte geht.“ In die werde mit den Regeln eingegriffen. Zum Beispiel werde die Privatsphäre verletzt, wenn die Athletinnen medizinische Details offenlegen müssen. Und auch die freie Berufsausübung werde eingeschränkt.

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Caster Semenya wird ihren Kampf gegen die Regeln des Weltverbands wahrscheinlich weiterführen. Weil sie nicht bei Wettkämpfen antreten durfte, bekam sie vor allem wegen Klagen gegen die Regularien der Sportverbände Aufmerksamkeit. Usain Bolt hingegen hütete bis zuletzt das Geheimnis, wie vorteilhaft seine Zehenlänge ist, und beendete die Karriere als gefeierter Superstar.

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