Boykott mit Glühwein und Bier: Ein WM-Abend mit Andreas Rettig
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Profiboykotteur: Andreas Rettig vor dem Eingang des „Lotta“ in Köln.
© Quelle: Christian Palm
Niclas Füllkrug schießt dem Torwart von Costa Rica aus wenigen Metern gegen den Kopf, als Andreas Rettig die vermutlich schwerste Entscheidung dieser Fußball-WM treffen muss. Bleiben oder gehen? „Kommen Sie, wir trinken draußen einen Glühwein“, entscheidet er – mit dem Rücken zum Fernseher.
Also wieder raus aus der wohlig warmen Kölner Kneipe, wo Rettigs Frau das Spiel verfolgt. Zurück auf den kalten Weihnachtsmarkt. WM-Boykott ist kein Ponyhof. Es sind noch wenige Minuten zu spielen in der Wüste – die letzten für das DFB-Team.
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Andreas Rettig ist seit drei Jahrzehnten im Fußballgeschäft – als die WM nach Katar vergeben wurde, war er Geschäftsführer der Deutschen Fußballliga. Davor und danach kämpfte er als Vertreter kleinerer Bundesligaklubs für eine gerechtere Fußballwelt. Zuletzt arbeitete er für Viktoria Köln in der Dritten Liga – und verpflichtete die Spieler zu gemeinnütziger Arbeit. Wenn er sich zu Wort meldet, bekommt er noch immer böse Anrufe von Uli Hoeneß, den er als „Katar-Lobbyisten“ bezeichnete.
Der FC Bayern lässt sich von einem katarischen Staatsunternehmen sponsern, absolvierte mehrere Trainingslager im Emirat und hat Probleme, das seinen eigenen Mitgliedern zu erklären. Selbst Bayern-Profi Leon Goretzka hätte nichts dagegen, kein Geld mehr aus Katar zu bekommen.
Hoeneß und Co. argumentieren, dass durch die Präsenz in Katar Menschrechte und Frauenfußball gefördert werden könnten. „Das ist eine naive Vorstellung“, meint Rettig. Seit Jahren hat die Frauennationalmannschaft kein Spiel mehr bestritten. Der Verdacht liegt nahe, dass sie nur gegründet wurde, um die offiziellen Fifa-Kriterien für eine WM-Vergabe zu erfüllen. Ohnehin habe sich die Fifa noch nie so offensichtlich demaskiert wie mit der WM in Katar, sagt Rettig.
Seinen persönlichen Boykott hat Rettig akribisch geplant: Während des ersten deutschen Spiels eine Katar-Podiumsdiskussion. Zum Spanien-Spiel Weihnachtsmarkt und Musical mit der Frau. Statt „Kicker“-Sonderheft las er Bücher über Korruption, Menschrechte und den Nahen Osten. Selbst um seine eigene Stammkneipe macht er derzeit einen Bogen. „Da läuft die WM.“
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Für das letzte Vorrundenspiel hat sich Rettig die Kölner Südstadt ausgesucht. Ein Italiener, zwei Kneipen und dann Weihnachtsmarkt in gut zwei Stunden: „Schaffen wir, oder?“ Mit dabei hat Rettig ein Trikot von Altona 93 – auf der Brust eine Boykottbotschaft.
Im „Lotta“ breitet er es vor sich auf dem Tisch aus. In der Szenebar interessiert sich kaum jemand für das Schicksal der deutschen Mannschaft. Wenn in Doha das Endspiel angepfiffen wird, suchen sie hier ein Meisterteam am Kickertisch.
Nur im Fall von Lukas Podolski kommen die Kölner Boykotteure an ihre Grenzen. Der Kölner Nationalheld ließ sich mit der Aussage zitieren, ein Boykott bringe eh nichts. „Am Ende ist ganz viel heiße Luft dabei.“ Eine übereifrige Kneipenkraft habe daraufhin das Poldi-Porträt abgehängt, erzählt der Chef des „Lotta“. Es folgten Diskussionen, nun hängt der Kölner Nationalheld wieder an der Wand – mit einem Boykottaufkleber auf der Brust. „Wir mögen ihn ja nicht für seine politischen Ansichten.“
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Kölner Kompromiss: Poldi darf hängen bleiben – aber nur mit Botschaft auf dem Trikot.
© Quelle: Christian Palm
Auf dem Weg zum nächsten Stopp spitzt sich die Lage zu. Rettig selbst schaut nicht mal auf dem Handy nach den Zwischenständen, erfährt aber trotzdem, dass Japan gegen Spanien führt. „Nä, hömma auf!“, entfährt es dem gebürtigen Rheinländer. „Jetzt muss ich sagen, dass es mich doch ein bisschen interessiert“, gibt Rettig später zu und nippt am Glühwein.
Glühwein zur WM. Als das Turnier vergeben wurde, sollte es eigentlich im Sommer stattfinden. Dass das kaum klappen würde, ahnte nicht nur der damalige DFL-Geschäftsführer Andreas Rettig sofort. Seinerzeit konzentrierte sich die Kritik vor allem auf den Termin, erinnert sich Rettig. Er hat seine eigenen Aussagen im Archiv nachgeschlagen. Menschenrechte und Regenbogenflaggen spielten damals auch für ihn noch nicht die entscheidende Rolle.
„Japan führt noch?“, fragt Rettig? Das Altona-Trikot hängt aus seiner Jackentasche. Auf dem Weihnachtsmarkt werden schon die Rollläden runtergelassen, die Eismaschine bereitet die Laufbahn für den nächsten Tag vor.
Nach dem Abpfiff ein letztes Kölsch im Stehen. Rettig bläst die Backen auf. „Zeigen Sie noch mal, kann doch nicht sein!“ Doch, kann sein. Zumindest wird es jetzt noch einfacher, diese WM nicht zu schauen.