Als der Profifußball in Deutschland scheiterte

Im Mai 1920 trat der 1. FC Nürnberg gegen Titania Stettin an (o.).

Im Mai 1920 trat der 1. FC Nürnberg gegen Titania Stettin an (o.).

Das erste professionelle Fußballspiel in Deutschland begann mit einem Spießrutenlauf. Damit hatten wohl die wenigsten Fans gerechnet, die sich am 21. August 1920 auf den beschwerlichen Weg hinaus nach Lichtenberg machten: Sie mussten sich vor dem neuen Stadion erst einmal eine Gasse durch eine Demonstration bahnen. “Kein Pfennig den Berufsspielern” hieß es auf Plakaten der Gegner. “Kein Pfennig den Leuten, die aus dem Sport Kapital schlagen wollen.” Die Atmosphäre vor dem Stadion? Gereizt und angespannt.

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Bevor an diesem Samstagnachmittag vor den Toren Berlins der Anpfiff in eine neue Ära erfolgte, verbreiteten sich auf den Rängen viele Gerüchte. Berliner Millionäre wollten sich den deutschen Fußball unter den Nagel reißen, hieß es, sie hätten die unglaubliche Summe von 3 Millionen Mark in ihr Projekt einer Fußball-GmbH investiert. Das Ende des Amateurfußballs, den der Deutsche Fußball-Bund (DFB) seit seiner Gründung 1900 proklamierte, schien besiegelt. Ihr Ideal dürfe nicht dem “Profithunger gewissenloser Spekulanten” geopfert werden, schimpfte August Bosse, der Präsident des Norddeutschen Fußball-Verbandes.

Wem gehört der Fußball?

Schon die Premiere des professionellen Fußballs wies also die Merkmale jener Debatte auf, die in den folgenden Jahrzehnten (und bis zum heutigen Tag) bei Fans, Funktionären und Beobachtern den Blutdruck erhöhte: Wem gehört der Fußball? Wer bestimmt über seine Moral? Dürfen die Manager und die Fußballer überhaupt Geld mit dem Spiel der Deutschen verdienen? Und wenn ja: wie viel? Umso interessanter sind die Umstände der Premiere vor 100 Jahren – und der Blick auf den seltsamen europäischen Sonderweg, den der DFB beschritt, indem er erst 1972, also zu den Glanzzeiten von Franz Beckenbauer, Günter Netzer und Co., den professionellen Fußball offiziell einführte.

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Die Idee, den Fußball zu professionalisieren, war nach dem Ende des Ersten Weltkrieges 1918 logisch: Viele Soldaten, die in die Heimat zurückkehrten, hatten das Spiel an der Front kennengelernt und strömten in Massen in die Fußballvereine. Die Zahlen im DFB verfünffachten sich von 1914 bis 1920 auf rund 750.000 Mitglieder. Parallel dazu entwickelten sich die Zuschauerzahlen rasant. Zum Städtespiel Berlin gegen Budapest im Mai 1920 im Deutschen Stadion kamen 40.000 Fans – neuer Rekord.

Selbstverständlich wollten die Hauptfiguren – die Spieler – angesichts dieser stürmischen Nachfrage ihren gerechten Anteil an den Ticketerlösen. Und so kam es bald zu zahlreichen Verstößen gegen den Amateurparagrafen. Schon 1919 waren deshalb Funktionäre und Spieler von Hertha BSC gesperrt worden. Im selben Sommer bezahlte der 1. FC Nürnberg, so der Vorwurf der Fachpresse, seinen Aufstieg zur führenden Mannschaft der Zwanzigerjahre mit 40.000 Mark, die er in die Transfers der ungarischen Profis Alfréd Schaffer und Peter Szabó investierte. Und im Jahr 1921 wurde ein Stürmer namens Sepp Herberger gesperrt, weil er durch 10.000 Mark zu einem Vereinswechsel motiviert worden war – ein Thema, das der Trainer später gern ausklammerte, wenn er auf dem Weg zum WM-Titel 1954 die gute alte Zeit beschwor.

Bei einem Spiel in Leipzig 1922 war die Tribüne voll besetzt, manche Zuschauer standen sogar auf Leitern.

Bei einem Spiel in Leipzig 1922 war die Tribüne voll besetzt, manche Zuschauer standen sogar auf Leitern.

Das Problem des “verkappten Berufsspielertums”, wie die Schwarzzahlungen an die Spieler genannt wurden, hatte es schon vor dem Ersten Weltkrieg gegeben. Deshalb hatte der DFB damals intern bereits eine Satzung für die Organisation des Profifußballs unter seiner Regie ausgearbeitet. Nun, im Frühjahr 1920 plädierte der Kopf des Verbandes Brandenburgischer Ballspielvereine (VBB), Fritz Boxhammer, offen für die Einführung des Profifußballs. Aber der DFB lehnte das im Juni 1920 mit dem Argument ab, seine Vereine würden dann für die Spiele erheblich durch die Vergnügungssteuer belastet, die von den Kommunen erhoben wurde. So entstand das, was die zeitgenössischen Zeitungen “Scheinamateurismus”nannten.

In dieses Vakuum stießen im Sommer 1920 drei Männer, die bis dahin im deutschen Fußball völlig unbekannt waren: die Brüder Otto und Ernst Eidinger sowie ihr Schwager Josef Rosenblüth. Das Unternehmertrio aus Berlin witterte ein gutes Geschäft, reagierte aber offenbar erst auf den Wunsch einiger Berliner Fußballer, den Profifußball zu managen. Motor des Projekts war der erst 23-jährige Ingenieur und Kaufmann Otto Eidinger, der aus der Nähe Zagrebs stammte und im Ersten Weltkrieg für Österreich-Ungarn gekämpft hatte.

Eidinger, dessen Schwester lange Zeit in London wohnte, mag als Vorbild den Fußball in England betrachtet haben, wo schon seit 1888 eine professionelle Liga existierte. Er reiste konspirativ nach Budapest, wo er ein Team aus Topspielern verpflichtete, die jeweils 4000 Mark Monatsgehalt erhielten. Ein zweites Team akquirierte er mithilfe von Erich Amsel, einem VBB-Auswahlspieler, in Berlin. Eidingers Idee war, diese beiden Mannschaften zunächst bei einer Europatournee gegeneinander antreten zu lassen und später mit Teams aus allen Großstädten eine Liga im Deutschen Reich aus der Taufe zu heben.

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Erinnerungsbild 1917: Ernst und Otto Eidinger ließen sich mit ihren Eltern fotografieren.

Erinnerungsbild 1917: Ernst und Otto Eidinger ließen sich mit ihren Eltern fotografieren.

Spektakulär daran war, dass sich der Manager nicht im Geringsten für das Monopol interessierte, das der DFB für den Fußball in Deutschland beanspruchte. Eidinger schaute nur auf das Geschäftsmodell. “Er sprach von Zahlen, sein Hirn war nichts als eine Zahl”, so charakterisierte ihn der Herausgeber der Dresdner Fußballzeitschrift “Kampf”. Aber als das Unternehmen Ende Juli 1920 ruchbar wurde, schlug die Nomenklatura des Fußballs mit voller Wucht zu.

Der DFB und seine Regionalverbände bekämpften den “wilden” Profifußball. Der VBB sorgte dafür, dass die Vorverkaufsstellen die Premiere in Lichtenberg boykottierten. Auch rief der DFB die Zeitungen dazu auf, von Eidinger keine Inserate anzunehmen. Hinzu kam, dass der Arbeitersport, der kommerziellen Fußball kategorisch ablehnte, das Projekt ebenso scharf attackierte. Und so verfolgten nur rund 5000 Fans die Premiere des 1. Deutschen Professional-Berufsfußball-Club gegen die Ungarn – viele davon hatten das Stadion zudem ohne Ticket geentert.

Auf dem Spielfeld ging es bunt zu: Die deutschen Profis trugen Lila-Weiß, die Ungarn grelles Grün. Aber die Partie entwickelte sich zu einer Farce. Da der DFB auch seine Schiedsrichter mit Sanktionen bedroht hatte, übernahm Otto Eidinger diesen Part in seiner Not selbst, was hämische Kommentare provozierte. Als er das umstrittene Tor des 1. DPBC zum 1:1-Endstand anerkannte, kam es zu Tumulten, Zuschauer stürmten das Spielfeld. Es sei gerade noch mal “ohne Blutvergießen” abgegangen, berichtete die Zeitschrift “Rasensport”. Die Fachpresse warf Eidinger “Schiebung” vor, um die Spannung für die nächsten Partien aufrechtzuerhalten.

Nur ein einziges weiteres Spiel veranstaltete das Unternehmertrio noch

Diese Vorwürfe gegen das private Projekt waren teils auch durch den Antisemitismus motiviert, der nach dem Weltkrieg zunehmend an Boden gewann. Man dürfe sich, wenn man nach dem Namen des Financiers frage, “nicht wundern, dass er Rosenblüth lautet”, schrieb das VBB-Organ “Der Fußballsport” in Anspielung auf den jüdischen Namen. Auch in anderen Blättern war von gierigen Spekulanten die Rede. Damit bedienten sie das Klischee vom “geldversessenen Juden”, der nichts von Idealen wie Selbstlosigkeit und Solidarität hielt.

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Auch die Eidingers waren Juden, wie sich freilich erst jetzt herausgestellt hat. Aber im Fall des Otto Eidinger kam sicher noch der Generationenkonflikt dazu: Die altgedienten Funktionäre, die den DFB seit Jahrzehnten gegen viele Widerstände in den Schulen und in der Politik aufgebaut hatten, verkrafteten es wohl nicht, dass ein 23-Jähriger glaubte, kurzerhand den Profifußball in eigener Regie organisieren zu können.

Nur ein einziges weiteres Spiel veranstaltete das Unternehmertrio noch: am 12. September 1920 in der Olympia-Radrennbahn in Berlin-Plötzensee. Dann war das Geld weg, und Otto Eidinger war pleite. Es existierte nämlich keine Fußball-GmbH, sondern Eidinger hatte die Fußballer sämtlich auf eigene Rechnung verpflichtet. Der Prozess, den die Ungarn daraufhin anstrengten, dauerte bis Mai 1921. So schnell, wie die Eidingers auf die Bühne des deutschen Fußballs gehüpft waren, verschwanden sie nun wieder. Otto Eidinger emigrierte 1924 in die USA, wohin ihm sein Bruder Ernst 1939 folgte. Josef Rosenblüth wanderte 1939 nach Australien aus.

Josef Rosenblüth

Josef Rosenblüth

Und so ließ der DFB sein Konzept vom Profifußball unter seinem Dach, das er im Zuge des öffentlichen Drucks kurz nach der Premiere im Lichtenberger Stadion erarbeitete, wieder in der Schublade verschwinden. “Ist die Entwicklung zum Berufsspielertum unaufhaltsam, dann sollte es der Bund in seine Regie nehmen und nach seiner glänzenden Organisation aufbauen”, hatte der zweite DFB-Vorsitzende Felix Linnemann im “Fußballsport” geschrieben. “Ob Amateur- oder Professionalsport – Fußball bleibt Fußball.” Verzichte der DFB auf die Profis, bekannte er offen, werde er auf “wichtige Einnahmen” für seine Vereine verzichten.

Von Amateuridealen war in diesen Ausführungen wenig die Rede. Das änderte sich wieder, als der erste Versuch, den Profifußball auf dem Kontinent zu installieren, finanziellen Schiffbruch erlitt. Linnemann, der von 1925 bis 1945 den DFB führte, stilisierte sich fortan als Amateurverfechter. Verstöße gegen die Statuten ließ er gnadenlos verfolgen. So wurde der FC Schalke 04, der in den Zwanzigerjahren mit Ernst Kuzorra und Fritz Szepan zu einer Großmacht aufgestiegen war, 1930 für ein Jahr gesperrt, nachdem Buchprüfer festgestellt hatten, dass der Klub seine Spieler bezahlt hatte. “Ich weiß, was zu tun ist”, soll der Kassierer, der Bankbeamte Willi Nier, damals gesagt haben: Er ertränkte sich im Rhein-Herne-Kanal.

Nach dem Zweiten Weltkrieg flackerte die Debatte um die Profifußball immer wieder auf

Im August 1932, als ein süddeutscher Verband für Berufs-Fußballspiele die Einführung einer Reichsliga unter Profibedingungen plante, zählte Linnemann ebenfalls zu den Gegnern – und wieder machte er steuerrechtliche Argumente geltend. Gestoppt wurde dieses Projekt erst von den Nazis, die fürchteten, die Abwanderung der besten Fußballer zu den Profis könne den Erfolg bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin gefährden. Linnemann, nun deklariert als “Fußballführer””, hatte gewarnt, “dass bei der Schwächung der Amateurvereine durch die Abwanderung von Spielern mit dem Verlust einer sicheren Goldmedaille gerechnet werden müsse”. Umso peinlicher war die sensationelle 0:2-Niederlage im olympischen Turnier gegen Norwegen.

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Nach dem Zweiten Weltkrieg flackerte die Debatte über die Einführung des Profifußballs immer wieder auf, wie der Historiker Nils Havemann in seiner Geschichte der Bundesliga (“Samstags um halb vier”) eindrucksvoll demonstriert. Fritz Walter, Präsident des VfB Stuttgart, prophezeite 1949 den “Vollprofessionalismus” mit Einführung einer Bundesliga. Ein anderer Befürworter war der Präsident des FC Bayern München, Kurt Landauer.

Bis Ende der Fünfzigerjahre scheute sich jedoch der DFB wegen des heiklen Themas der Gemeinnützigkeit der Fußballvereine, deren Verlust auch steuerliche Vorteile bedrohte. Selbst nach der Euphorie durch das “Wunder von Bern” 1954 fürchtete das “Sportmagazin” den Ruin durch die Manager und malte die Schreckensvision an die Wand, wonach die Finanzämter die Klubs zu “Geschäftsbetrieben” stempeln könnten.

Der Weg zur Gründung der Bundesliga 1963 war erst frei, als der DFB im Dezember 1961 eine Einigung mit den Finanzministern des Bundes und der Länder erzielte. Demnach durften die Klubs nun Fußballer als bezahlte Vereinsangestellte führen – aber nicht als Profis, sondern unter dem wortakrobatischen Begriff des Lizenzspielers, für den, wie auch für den vorherigen Vertragsspieler, der maximal 320 Mark erhielt, eine Gehaltsobergrenze definiert wurde. DFB-Präsident Hermann Gösmann erklärte offenherzig, “dass bei der vielfach geforderten Einführung des Professionalismus die Gemeinnützigkeit der Vereine entfallen würde, während die Verhandlungen mit den zuständigen Stellen des Bundesfinanzministeriums über die Einführung von Lizenzspielern dem Deutschen Fußball-Bund die Brücke geebnet hätten”.

Erst 52 Jahre nach dem ersten Versuch wurde in Deutschland der Profifußball eingeführt

Der Lizenzspieler durfte ab 1963 knapp 1000 DM verdienen und zudem 20 Prozent der Transfersumme kassieren. Als Stars wie Netzer, Beckenbauer oder Gerd Müller mit ihren Künsten eine enorme Nachfrage produzierten, blühte freilich wieder der Schwarzmarkt. Aber erst, als der Bundesligaskandal von 1970/1971 die Praktiken der verdeckten Zahlungen offenbarte, “kapitulierten die DFB-Offiziellen”, wie es die Fußballhistorikerin Christiane Eisenberg formuliert. Nachdem mit dem Bundesfinanzministerium geklärt war, dass die Amateurvereine nicht unter dem Professionalismus in der Bundesliga leiden würden, gab der Dachverband den Markt am 8. Mai 1972 offiziell frei – es war der Beginn einer stürmischen Entwicklung bei Transfers und Spielergehältern, deren Ende bis heute nicht absehbar ist.

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Es dauerte also geschlagene 52 Jahre, bis das Geschäftsmodell des Otto Eidinger in Deutschland offen praktiziert wurde. Wir wissen nicht, ob der Pionier des Profifußballs diese Zäsur aus der Ferne wahrgenommen hat. Eidinger, der in den USA erfolgreich in der Möbelbranche arbeitete, starb 1976 in Illinois. Von seinem geschäftlichen Fiasko, das er als junger Unternehmer im Fußball erlebte, hat er seinen Kindern nie erzählt.

André Bialk arbeitet als Genealoge und Erbenermittler in Berlin. Der Sportpublizist Erik Eggers hat unter anderem das Buch “Fußball in der Weimarer Republik” geschrieben.

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