Der Overtourismus ist zurück
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Ein von Menschen überfüllter Platz.
© Quelle: Getty Images/iStockphoto
Manche Probleme lösen sich gewissermaßen über Nacht. Und genauso schnell entstehen neue. Tony Wheeler etwa erinnert sich an jenen Tag, an dem er Anfang 2020 im japanischen Wakayama an einer Konferenz über das Phänomen des Overtourismus teilnahm. Über das Phänomen also, wenn ein Ort von zu vielen Touristinnen und Touristen besucht wird – und das zu Konflikten mit Einheimischen führt. Der Wahlaustralier ist Gründer der weltweiten Reiseführermarke Lonely Planet und auch nach dem Ausstieg aus seinem Unternehmen als Reiseexperte gefragt.
Der Zeitpunkt der Konferenz, sagt er heute rückblickend, entpuppte sich als jener, an dem das Problem des Overtourismus auf überraschende Weise unwichtig wurde – zumindest für eine kurze Zeit. Denn das Coronavirus brachte beinahe über Nacht den Stillstand des weltweiten Tourismus.
Lockdowns und Reiseverbote führten im Frühjahr 2020 dazu, dass das Thema der Überfüllung in den Hintergrund geriet. Der Markusplatz in Venedig – dort, wo sich sonst Menschenmassen durch die Lagunenstadt schoben – war plötzlich menschenleer. Die Ramblas, Barcelonas Prachteinkaufsstraße: verlassen. Das Amsterdamer Partyviertel: ruhig wie eine Kirche.
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Touristenmassen auf dem Markusplatz in Venedig.
© Quelle: Andrea Warnecke/dpa-tmn
Von einem Extrem ins andere
„Haben wir Overtourismus also gelöst?“, überlegt Wheeler – und gibt gleich darauf selbst die Antwort: „Nun, wir taten es eine Zeit lang, aber viele Orte, die sich über zu viele Touristen beschwert hatten, sagten plötzlich: ‚Aber wir meinten nicht, dass wir überhaupt keine Touristen wollen!‘“ So ziemlich alle Topreiseziele schlitterten von einem Extrem ins andere. Orte, die früher über zu viele Gäste geklagt hatten, wollten plötzlich die Besuchermassen zurück. Es ging ums finanzielle Überleben.
Bereits seit einigen Monaten ist deutlich: Die Urlauberinnen und Urlauber sind zurück – und mit ihnen das Phänomen des Overtourismus. „Der Nachholeffekt ist schon im vergangenen Jahr eingetreten“, sagt Torsten Kirstges, Direktor des Instituts für innovative Tourismus- und Freizeitwirtschaft (ITF) an der Jade-Hochschule in Wilhelmshaven und Autor des Buches „Tourismus in der Kritik: Klimaschädigender Overtourismus statt sauberer Industrie?“ (UTB Verlag). Und er werde auch in diesem Jahr spürbar sein, das zeigten die aktuellen Zahlen. Die Menschen wollen reisen.
Am Montag beginnt in Berlin die weltgrößte Reisemesse ITB – zum ersten Mal seit dem Corona-Ausbruch in Präsenz. Und auch hier schaut man bereits im Vorfeld optimistisch auf das Tourismusjahr.
Reisen wie vor Corona
Die Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen (FUR) untersucht einmal jährlich das Reiseverhalten der Deutschen. Ihre aktuelle Reiseanalyse spiegelt eine deutliche Entspannung in der Tourismusbranche wider. Im vergangenen Jahr lag der wichtige Wert der Ankünfte internationaler Gäste demnach bei rund 920 Millionen. Das sind zwar nach wie vor deutlich weniger als im letzten Vor-Corona-Jahr 2019 (1,47 Milliarden), aber erheblich mehr als während der Pandemie (2021: 448 Millionen, 2020: 409 Millionen).
Und der Trend geht laut FUR weiter: „Das Gesamtbild der Urlaubsreisen wird 2023 wieder ähnlich sein wie vor der Corona-Pandemie, sowohl bei den Reisezielen als auch bei den Reisearten“, erläutert der wissenschaftlicher Berater der FUR, Martin Lohmann, in der Reiseanalyse.
Also werden wir uns wieder an volle Ramblas, überquellende Plätze in Venedig und Partys in Amsterdam gewöhnen müssen? Die Antwort lautet grob gesagt: ja, aber.
Overtourismus ist immer nur ein temporäres Problem.
Torsten Kirstges,
Direktor des Instituts für innovative Tourismus- und Freizeitwirtschaft an der Jade-Hochschule in Wilhelmshaven
„Overtourismus ist immer nur ein temporäres Problem“, betont Reisewissenschaftler Kirstges. Selbst Venedig etwa sei nicht zu jeder Jahreszeit überfüllt. Außerdem habe die Urlauberflaute während der Lockdowns auch in den Destinationen selbst zu einem Umdenken geführt: „Corona hat auch gezeigt, was am Tourismus gut ist.“
Das Phänomen des Overtourismus ist vergleichsweise neu, auch wenn bereits vor Jahrzehnten einzelne Reiseziele über einen Massenansturm klagten. Die Welttourismusorganisation (UNWTO) definierte ihn 2018 als „die Auswirkungen des Tourismus auf ein Reiseziel oder Teile davon, die die wahrgenommene Lebensqualität der Bürger und/oder die Qualität der Besuchererlebnisse in negativer Weise übermäßig beeinflussen“.
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Wieder voll: die Ramblas in Barcelona.
© Quelle: IMAGO/ZUMA Wire
Der Wohnungsmarkt vor Ort wird kleiner
Erst waren es die Ferienveranstalter, die für den Massentourismus verantwortlich gemacht wurden, dann kamen die Billigflieger und Kreuzfahrtschiffe. Vor einigen Jahren schritten Behörden mancherorts bei der Vermietung von Privatunterkünften an Reisende ein, weil Airbnb und Co. mitunter dazu führten, dass Wohnungen gleich dauerhaft zu Ferienbleiben wurden. Für die Bewohnerinnen und Bewohner vor Ort wurde der Wohnungsmarkt dadurch immer kleiner – und teurer.
Immer mal wieder bemühen sich Destinationen, Maßnahmen gegen Overtourismus zu entwickeln. Venedig etwa verbannte vor Jahren Kreuzfahrtschiffe aus dem historischen Stadtzentrum. Seit vergangenem Jahr diskutiert die Stadtverwaltung zudem einen viel radikaleren Schritt: Sie will die Zahl der Tagesbesucher beschränken. Eigens dafür hat sie im vergangenen Jahr ein Buchungssystem entwickelt, über das der Zustrom zur Lagunenstadt gelenkt werden soll. Wer nach Venedig will, muss den Plänen nach Eintritt zahlen.
Doch die Maßnahme ist nicht unumstritten – und wohl deswegen noch nicht in Kraft getreten. Eigentlich sollte das Buchungssystem in diesem Januar eingeführt werden, heißt es aus der Italienischen Zentrale für Tourismus. Nun aber sei beschlossen worden, zunächst noch die Einwohnerinnen und Einwohner zu dem Thema zu befragen.
Mit einer App gegen Overtourismus
Auch Barcelona – seit Jahrzehnten eines der ersten Beispiele, das vielen zum Thema Overtourismus einfällt – hat während der Pandemie an Lösungen gearbeitet. Eine eigens entwickelte App namens Check Barcelona sollte helfen, Besucherströme zu lenken. Sie zeigt in Echtzeit an, wie voll es an beliebten Sehenswürdigkeiten der Stadt ist und gibt Vorschläge für Alternativen.
Im Allgäu stemmten sich Einwohner kürzlich gegen Pläne, durch deren Umsetzung sie Overtourismus befürchteten. Sie protestierten gegen eine neue geplante „Bergwelt“ – mit Erfolg: Investoren wollten die touristische Infrastruktur am Grünten erheblich ausbauen, um mehr Besucherinnen und Besucher anzulocken. Mehr als 5,5 Hektar Fläche sollten versiegelt und 3,3 Hektar Wald gerodet werden.
Dem stellten sich Eigentümerinnen und Eigentümer, Naturschützerinnen und Naturschützer entgegen. Am Ende gaben die Investoren ihr Vorhaben auf, wie der Bürgermeister von Rettenberg, Nikolaus Weißinger (CSU), Ende Januar bekannt gab. Er wolle nun mit den Beteiligten „einvernehmliche Entwicklungsmöglichkeiten für den Tourismus“ erarbeiten.
Wir wachsen im Tourismus im Einklang mit der Bevölkerung.
Walter Straßer,
Sprecher von Wien-Tourismus
Auch in Wien setzt man auf Einvernehmlichkeit: In einer Studie befragt die Tourismusorganisation Wien-Tourismus seit 2016 einmal jährlich die Einwohnerinnen und Einwohner. Neun von zehn Wienerinnen und Wienern bewerteten darin den Fremdenverkehr als durchaus positiv für ihre Stadt, sagt Walter Straßer, Sprecher von Wien-Tourismus. „Wir wachsen im Tourismus im Einklang mit der Bevölkerung.“
Vorteile beim Städtetourismus
Die österreichische Hauptstadt gehörte vor einigen Jahren zu den ersten, die eine sogenannte Visitor-Economy-Strategie für den Tourismus erarbeitete. „Früher war die Menge der Gästenächtigungen wichtigste Kennzahl“, so Straßer, „heute sind es Indikatoren zur Qualität des Tourismus.“ In enger Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung betrachtet die Fremdenverkehrsorganisation auch neuralgische Entwicklungen im öffentlichen Raum, etwa die Zahl der Ticketverkäufer und Souvenirgeschäfte. Gleichwohl habe der Städtetourismus aus Sicht Straßers einen entscheidenden Vorteil: „Die Infrastruktur, die dafür notwendig ist, wird zugleich von den Einwohnern genutzt.“
Ist das Erfolgsrezept also ein geregelter Tourismus im Einklang mit der Bevölkerung? Das Problem ist komplizierter – weil es nicht mehr nur die klassischen Hotspots betrifft. Soziale Medien wie Instagram und Tiktok ziehen Reisende auch zu früher unbekannten Zielen. Und manchmal sind es mehr, als diese Ziele vertragen. Walker Canyon in Kalifornien, die Gumpen am Königssee, Maya Bay in Thailand – immer wieder sperren Behörden Fotopunkte von Influencern, weil diese Gegenden nicht für einen Massenansturm ausgelegt sind.
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Tony Wheeler ist der Gründer von Lonely Planet und auch heute noch ein leidenschaftlicher Reisender.
Zugangsbeschränkungen in Venedig
Ein Pauschalrezept gegen Overtourismus scheint es bis heute nicht zu geben. „Zugangsbeschränkungen wie in Venedig sind nur für geschlossene Bereiche sinnvoll“, sagt Reisewissenschaftler Kirstges. Vieles lasse sich zudem über den Preis regeln – höhere Kosten bewirken einen Rückgang der Nachfrage. Und auch Verbote seien eine Möglichkeit – etwa für zu große Gruppen, für Reisebusse oder Kreuzfahrtschiffe.
Globetrotter Tony Wheeler bleibt skeptisch beim Thema Overtourismus. Er hoffe, dass die Verantwortlichen in der langen Phase der Pandemie darüber nachgedacht haben, wie sie das Problem lösen können. „Aber ich bin nicht davon überzeugt, dass dies geschehen wird.“ Doch er sehe auch Fortschritte. Die Menschen suchten seit der Pandemie ernsthafter nach „besseren“ Reisealternativen, sie begeisterten sich mehr für die Bahn und weniger für das Fliegen. Auch Wanderungen, Radtouren, individuelle Hotels und Erkundungen am Heimatort seien in den Fokus gerückt. Wheeler bezeichnet dies als das „gute Reisen“.
Der US-Reisebuchverlag Fodor’s stellt der Flut der jährlichen Reisetrendlisten inzwischen eine eigene entgegen: die No-List, eine Sammlung jener Ziele, die Reisende besser nicht ansteuern sollten – unter anderem, weil sie überlaufen sind, aber auch, weil sie der Natur schaden. Für 2023 rät Fodor’s unter anderem von Cornwall und der Amalfi-Küste ab – beide könnten die Zahl der Besucher schlichtweg nicht mehr bewältigen.