Wie es in Griechenland nach dem verheerenden Zugunglück weitergehen soll
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Anfang März sind in Griechenland zwei Züge frontal zusammengestoßen.
© Quelle: Vaggelis Kousioras/AP
Athen. Drei Wochen nach der Eisenbahnkatastrophe in Griechenland sollen von dieser Woche an die ersten Züge wieder rollen. Aber vorerst nur auf wenigen Strecken und mit reduziertem Tempo. Denn das Zugunglück offenbarte haarsträubende Mängel und Versäumnisse.
Bei der griechischen Eisenbahn stehen alle Räder still, seit in der Nacht zum 1. März bei der mittelgriechischen Ortschaft Tempi ein aus Athen kommender Intercity und ein aus Thessaloniki kommender Güterzug mit hoher Geschwindigkeit ineinander rasten. 57 der 350 Fahrgäste des Intercitys wurden getötet, Dutzende verletzt. Nach dem Unglück, dem schwersten in der 127-jährigen Geschichte der griechischen Eisenbahnen, ließ die Regierung den Bahnverkehr komplett einstellen.
Nun soll er in mehreren Schritten wieder aufgenommen werden. Den Anfang macht am Mittwoch die Athener Vorortbahn, die Piräus und Athen mit dem internationalen Flughafen verbindet. Auch in Nordgriechenland sollen am Mittwoch einzelne Strecken wieder bedient werden. Der Verkehr auf der Strecke Athen–Thessaloniki, auf der sich das Unglück ereignete, wird am 27. März wieder aufgenommen, vorerst allerdings nur mit einem Zugpaar täglich.
Die Verbindung wird nicht nur von den Intercity-Zügen zwischen den beiden größten Städten des Landes genutzt. Sie ist auch wichtig für den Güterverkehr vom Hafen Piräus in die Nachbarländer. Seit der Sperrung der Strecke stapeln sich in Piräus die Schiffscontainer, die von hier per Bahn nach Mittel- und Osteuropa transportiert werden sollen. In fünf Schritten sollen bis zum orthodoxen Osterfest Mitte April alle Bahnstrecken wieder bedient werden, kündigte Verkehrsminister Giorgos Gerapetritis an. Allerdings dürfen die Züge vorerst nicht schneller als 80 bis 100 km/h fahren. Außerdem werden die Führerstände der Loks und die Stellwerke doppelt besetzt.
Für Amvrosios, den früheren Bischof von Kalavryta, war das Unglück eine „Strafe Gottes“ für den vorangegangenen Karneval, ein „Fest des Teufels“, wie der Gottesmann meint. Unter den Todesopfern waren viele junge Leute, die in der griechischen Faschingshochburg Patras gefeiert hatten und auf dem Heimweg nach Nordgriechenland waren. Die ersten Untersuchungsergebnisse zu der Katastrophe deuten aber auf sehr weltliche Ursachen der Katastrophe hin. Bei der griechischen Bahn gab es seit vielen Jahren gravierende Sicherheitsmängel. Obwohl die Missstände Insidern bekannt waren, blieben die Bahngesellschaft, die Aufsichtsbehörde RAS und die diversen Regierungen untätig.
Zahl der Toten nach Zugunglück in Griechenland steigt auf mindestens 42
Griechischer Premierminister Mitsotakis spricht von einem „tragischen menschlichen Fehler“.
© Quelle: dpa
Als Hauptverantwortlicher gilt der Fahrdienstleiter im Stellwerk der Stadt Larisa. Er soll mit einer falschen Weichenstellung den Intercity auf jenes Gleis geleitet haben, auf dem ihm der Güterzug entgegenkam. Der 59-Jährige hatte den Posten erst wenige Wochen zuvor übernommen. Er war bis dahin im Bildungsministerium als Bote beschäftigt, dann zur staatlichen Bahngesellschaft OSE versetzt worden, wo er in drei Monaten zum Stationsvorsteher ausgebildet wurde.
Eigentlich hätte der Mann gar nicht ungeschult werden dürfen, die Altersgrenze dafür liegt bei 42. Offenbar war er völlig überfordert. Weil er sich mit dem elektronischen System zur Fahrwegsteuerung nicht auskannte, stellte er die Weichen im Handbetrieb. Dabei machte er wohl den entscheidenden Fehler. Der Mann sitzt in Untersuchungshaft. Auf ihn wartet ein Prozess wegen fahrlässiger Tötung.
Vertuschungsversuche
Aber auch gegen zwei weitere Fahrdienstleiter ermittelt jetzt die Justiz. Sie hätten in der Unglücksnacht eigentlich im Dienst sein müssen, waren aber früher nach Hause gegangen. Einträge im Dienstplan, die den Schichtwechsel dokumentieren, wurden offenbar nach dem Unglück mit weißer Korrekturflüssigkeit vertuscht und verfälscht. Einer der beiden Bahnbediensteten bat wenige Stunden nach dem Unglück telefonisch zwei befreundete Ärzte, ihn rückwirkend krankzuschreiben. Die Ärzte stellten das Attest aus, ohne den Mann zu untersuchen. Einer der Mediziner war Kandidat der sozialdemokratischen Pasok für die bevorstehenden Parlamentswahlen. Die Partei hat ihn inzwischen von der Kandidatenliste gestrichen.
Wir fahren wie in alten Zeiten von einem Streckenabschnitt zum nächsten.
Kostas Genidounias,
Vorsitzender der Gewerkschaft der Lokführer in Griechenland
Automatische Sicherheitssysteme, die den Zusammenstoß hätten verhindern können, waren defekt, abgeschaltet oder wurden nicht benutzt. „Wir fahren wie in alten Zeiten von einem Streckenabschnitt zum nächsten“, berichtet Kostas Genidounias, der Vorsitzende der Gewerkschaft der Lokführer. Die Sicherungstechnik sei „seit Langem außer Betrieb“, auch die Lichtsignale funktionierten nicht. „Die Stationsleiter geben uns per Funk die Fahrerlaubnis“, so der Eisenbahner.
Das Unglück kam nicht aus heiterem Himmel. Frühere Unfälle hätten eine Warnung sein müssen. So fing 2015 ein Güterzug in einem Tunnel bei Tempi Feuer. Dabei zeigte sich, dass die Löschwasserzufuhr im Tunnel nicht funktionierte. 13 Jahre später sind die Mängel immer noch nicht behoben. In vielen der 18 längeren Eisenbahntunnel Griechenlands gibt es keine Rettungswege und keine Entlüftung. Verkehrsminister Gerapetritis ordnete deshalb jetzt an, dass die Bahntunnel bis auf Weiteres nicht von zwei Zügen gleichzeitig befahren werden dürfen.
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Auch ein Untersuchungsbericht der Universität Thessaloniki nach einem Bahnunglück im Jahr 2017 zeigte zahlreiche Sicherheitsmängel und Verfahrensfehler auf. Konsequenzen hatte das Gutachten aber offenbar nicht. Bahnmitarbeitende warnten seit Jahren vor der drohenden Gefahr. Erst Anfang Februar, drei Wochen vor dem Unglück von Tempi, hatten Gewerkschafter in einem Brandbrief an den Verkehrsminister und die Bahngesellschaft auf die seit vielen Jahren bestehenden Missstände hingewiesen. „Worauf warten Sie, um einzugreifen? Was muss noch passieren?“, heißt es in dem Schreiben.
Wie schon bei früheren Katastrophen in Griechenland zeigte sich bei dem Unglück von Tempi wieder einmal ein totales Staatsversagen. Die politischen Folgen könnte Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis bei den im Frühsommer fälligen Wahlen zu spüren bekommen. Jüngste Meinungsumfragen zeigen deutliche Stimmenverluste für die konservative Regierungspartei.