Aus der Geschichte lernen: Wie umgehen mit Kriegsverbrechern?
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Forensiker heben Ende September ein Grab in einem Kiefernwald am Stadtrand der befreiten ostukrainischen Stadt Izyum aus.
© Quelle: IMAGO/VXimages.com
Ungebrochen ist im Westen die Entschlossenheit, Kriegsverbrechen, wie sie im Angriffskrieg gegen die Ukraine an der Tagesordnung sind, zu sanktionieren und Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen. „Wir werden einen langen Atem haben“, kündigte der Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) im Vorfeld des Treffens mit seinen Amtskollegen aus den wichtigsten sieben Industrienationen (G7) an. Und präzisierte das gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“: „Wir wollen erreichen, dass zwischen unseren unterschiedlichen Rechtssystemen Beweismittel einfacher ausgetauscht werden können.“
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Derzeit ermitteln neben mehrere Nationen, darunter auch Deutschland, vor allem der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Scheveningen, einem Stadtbezirk der niederländischen Stadt Den Haag, umgangssprachlich auch „Weltstrafgerichtshof“ genannt. Der anspruchsvolle Name beschreibt die derzeit einzige Institution, der zugetraut wird, individuelle Schuld an Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zu verfolgen, denn der IStGH wurde von einer breiten Mehrheit der Weltgemeinschaft legitimiert.
Daneben gibt es seit 1946 noch den Internationalen Gerichtshof (IG), das Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen mit Sitz im Haager Friedenspalast. Während vor dem Internationalen Gerichtshof Konflikte zwischen verschiedenen Staaten verhandelt werden, widmet sich der Internationale Strafgerichtshof einzelnen Verantwortlichen dieser schweren Verbrechen.
Voraussetzung für die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs war die Verabschiedung des sogenannten Römischen Statuts im Jahr 1998. Unter dem Eindruck der grausamen Bürgerkriege im zerfallenden Jugoslawien sowie dem Völkermord im ostafrikanischen Ruanda reifte in der internationalen Staatengemeinschaft die Entschlossenheit, dass schwerste Verbrechen nicht unbestraft bleiben dürfen. Eine wirksame strafrechtliche internationale Zusammenarbeit war dafür zwingend erforderlich. 2002 konnte der Internationale Strafgerichtshof seine Arbeit dann endlich aufnehmen.
Fast alle Angeklagten waren Afrikaner
Gegenwärtig erkennen 124 Staaten die Kompetenz des Internationalen Strafgerichtshofes an. Russland, China, die Türkei, aber auch die USA gehören nicht dazu, was zwar ein großes Manko ist, den Einsatz des Strafgerichtshofs aber nicht völlig verhindert. Auch die Ukraine ist kein Vertragsstaat, hat aber nach der Annexion der Krim in zwei Erklärungen 2014 und 2015 dem Gerichtshof eine sogenannte Ad-hoc-Anerkennung ausgesprochen.
Die erste Verhandlung am IStGH fand im Januar 2009 statt, angeklagt wurde Thomas Lubanga, Gründer und Führer einer bewaffneten Miliz in der Demokratischen Republik Kongo. Die Liste der bisher Verurteilten dokumentiert die Grenzen des IStGH, denn alle kommen aus afrikanischen Staaten. Aus Ländern also, deren Möglichkeiten, ihre Staatsbürger vor einem Zugriff durch die Strafverfolger wirksam zu schützen, begrenzt sind.
Was ich sehe, sind Anzeichen für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit – auch das sind sehr schwere Vorwürfe.
Christoph Safferling,
Professor für Internationales Strafrecht und Völkerrecht an der Universität Erlangen-Nürnberg
Die Ermittlungen beim IStGH begannen bereits wenige Tage nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine am 24. Februar. „Was ich sehe, sind Anzeichen für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit – auch das sind sehr schwere Vorwürfe“, sagte Safferling. „Die Angriffe auf die Zivilbevölkerung, zum Beispiel Geschehnisse in Orten wie Butscha, legen das nahe. Der Internationale Gerichtshof kennt zwar auch die lebenslange Freiheitsstrafe, kann aber, anders als das deutsche Strafrecht, auch lange Freiheitsstrafen von bis zu 30 Jahren verhängen. Für die Hauptverantwortlichen solcher Straftaten in der Ukraine könnten also durchaus 20 bis 30 Jahre Gefängnis drohen“, so Christoph Safferling, Professor für Internationales Strafrecht und Völkerrecht an der Universität Erlangen-Nürnberg, gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).
Vorbild Jugoslawien-Tribunal
Die Kriegsverbrechen, die man heute am ehesten mit Den Haag in Verbindung bringt, sanktionierten indes Vorgängereinrichtungen, beispielsweise das Internationale Straftribunal für Ex-Jugoslawien (ICTY). Das wurde im Mai 1993 durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ins Leben gerufen – also auch mit den Stimmen Russlands und Chinas.
Das Jugoslawien-Tribunal war das erste von den Vereinten Nationen geschaffene Kriegsverbrechertribunal. Vor dem Tribunal mussten sich die hochrangigsten Verbrecher der postjugoslawischen Kriege verantworten – insgesamt wurden 161 Menschen angeklagt. Darunter der ehemalige serbische Staatspräsident Slobodan Milosevic, der ehemalige bosnische Serbenführer Radovan Karadzic und der Ex-Oberbefehlshaber der Armee der bosnischen Serben Ratko Mladic. Letztlich wurden 84 der schlimmsten Kriegsverbrecher verurteilt. Das Massaker an mehr als 8000 Bosniern in Srebrenica stufte der Gerichtshof nicht nur als Massenmord und Verbrechen gegen die Menschheit ein, sondern als Völkermord.
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Musste sich 2004 in Den Haag verantworten: der frühere serbische Präsident Slobodan Milosevic.
© Quelle: picture-alliance / dpa/dpaweb
Ein Jahr nach dem Jugoslawien-Ttribunal war durch eine Resolution des UN-Sicherheitsrates der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda (kurz ICTR) ins Leben gerufen worden. Hintergrund: Im April 1994 war es in Ruanda zu äußerst brutalen, von Milizen der mehrheitlichen Hutu-Bevölkerung verübten systematischen Übergriffen gegen die Tutsi-Minderheit gekommen. Trotz deutlicher Warnsignale und frühzeitiger Voraussagen zeigte sich die Staatengemeinschaft unfähig und unwillig, den Völkermord zu verhindern. Innerhalb weniger Monate wurden mindestens 800.000 Menschen ermordet.
Der ICTR erhob gegen 93 Personen Anklage. 61 wurden für schuldig befunden, 14 freigesprochen. Rund vier Fünftel der mutmaßlichen Hauptverantwortlichen für den Genozid 1994 konnten festgenommen und vor Gericht gestellt werden.
Nürnberg 1945: Vorwurf von „Siegerjustiz“
Doch auch für das Jugoslawien- sowie das Ruanda-Tribunal gab es ein historisches Vorbild: die internationalen Strafgerichtshöfe von Nürnberg und Tokio nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Grundgedanke der internationalen, alliierten Justiz war es, dass Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie der Völkermord an den Juden Europas nicht ungesühnt bleiben dürften. Auch sollte einer Kollektivschuld der Gesamtbevölkerung entgegengewirkt werden, vielmehr das Konzept der individuellen, kriminellen Verantwortung greifen. Darauf basiert bis heute die aktuelle Rechtspraxis internationaler Tribunale.
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Vorbild Nürnberger Prozess nach 1945: Die Hauptangeklagten (auf der Anklagebank von links) Hermann Göring, Joachim von Ribbentrop und Rudolf Heß während der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesse am 13. Februar 1946 in Nürnberg.
© Quelle: picture alliance / dpa
Die größten Schwäche des Nürnberger Tribunals bildete der Vorwurf der Siegerjustiz, dem man bei vergleichbaren Strafverfahren heute aber damit begegnet, dass Richtergremien international besetzt werden. Um dem Prinzip „keine Strafe ohne Gesetz“ gerecht zu werden, stützt man sich auf das Völkergewohnheitsrecht. Zudem betont man, das Verhalten der Mitglieder aller Konfliktparteien zu untersuchen – im Fall des gegenwärtigen Krieges also neben russischen auch mögliche ukrainische Kriegsverbrechen.
RND/stu