Wie sich die Sanktionen auf die russische Gesellschaft auswirken
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/UWXYIQOYLNAK3MN6ZRLD6WM2FQ.jpg)
Lange Schlangen an einem Fahrkartenautomaten in einer Moskauer U-Bahn-Station. Zahlungen mit westlichen Dienstleistungen wie Apple Pay, Google Pay und Samsung Pay funktionieren wegen der Sanktionen nicht mehr.
© Quelle: imago images/ITAR-TASS
Moskau. Es stimmt: Die Bürger Russlands sind, von einigen Ausnahmen abgesehen, nicht „reich“ im traditionellen Sinne des Wortes, aber zumindest das Leben in den russischen Großstädten – mit Supermärkten, die rund um die Uhr geöffnet sind, einer hoch entwickelten Gastronomie, einer der besten Finanztechnologien der Welt, einem zugänglichen Internet, neben erschwinglichen Flügen, günstigen Hypotheken und einer Fülle von importierten Geräten und Autos – ist doch recht kommod.
Allerding sind Komfort und Lebensstandard nun erheblich infrage gestellt – zumindest für einen großen Teil der Bevölkerung.
Das ist in Moskau seit Beginn der Woche mit den Händen zu greifen, seit die Sanktionen, die der Westen als Vergeltung für Russlands Einmarsch in der Ukraine verhängt hat, die Grundfesten des russischen Finanzsystems erschüttern: Der Rubel stürzte in der Nacht auf Montag von circa 90 auf 120 Rubel pro Euro ab und verlor vorübergehend ein Drittel seines Wertes.
Die Zentralbank setzte den Aktienhandel in Moskau bis Dienstag aus, und Zentralbankchefin Elvira Nabiullina entschied sich zu einer massiven Erhöhung des Leitzinses von 9,5 auf 20 Prozent, um Rubel-Einlagen attraktiver zu machen und der einsetzenden Kapitalflucht etwas entgegenzusetzen.
Lange Schlangen an den Bankfilialen
Die Menschen versuchten, sich in aller Eile an den Geldautomaten mit Bargeld zu versorgen. An etlichen Bankfilialen bildeten sich lange Schlangen, was aufgrund bestehender Ängste im kollektiven Bewusstsein nur allzu verständlich ist. Denn die russische Bevölkerung hat in den vergangenen 30 Jahren mehrere schwere Währungskrisen durchgemacht.
Die Erinnerung an den Rubel-Absturz vor acht Jahren, als sich dessen Außenwert im Zuge der damals einsetzenden Ukraine-Krise zeitweise mehr als halbierte, nachdem der Westen Sanktionen verfügt und die russische Zentralbank den Rubel-Kurs freigegeben hatte, ist immer noch in den Gedächtnissen. Die Menschen stürmten damals die Geschäfte, um ihre immer wertloseren Geldscheine schnell noch in Ikea-Möbel oder iPhones einzutauschen.
Was die augenblickliche Situation des Rubels angeht, äußerten sich Währungsexperten pessimistisch: „Abhängig von der Entwicklung der geopolitischen Ereignisse“ unkte Jelena Koschuchowa vom Moskauer Vermögensverwalter Veles Capital, „könnte sich der Absturz fortsetzen“.
Das Geld vor einem weiteren Wertverlust noch rasch zu konsumieren ist allerdings nicht mehr so leicht wie 2014, denn die westlichen Sanktionen sind noch viel schärfer als damals: Die Fluggesellschaft Aeroflot sagte etwa alle Flüge nach Europa ab, nachdem die EU russischen Flugzeugen die Nutzung ihres Luftraums verboten hatte. Die Befürchtung, dass der Reiseverkehr bald ganz erliegen könnte, bewog etliche Russen dazu, sich rasch mit Tickets für die wenigen internationalen Flügen einzudecken, die noch nicht storniert waren.
Die gewaltigen Devisenreserven Russlands sind blockiert
„Es ist alles so furchtbar“, sagte die Architektin Nailja Talipowa dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Ich habe versucht, die Ersparnisse abzuheben, die ich in Euro angelegt habe. Doch die Bank hat mich angerufen und vertröstet, weil sie angeblich nicht über ausreichende Bargeldbestände verfügt. Meine Beraterin sagte: ‚Die Kunden wollen alle Bargeld.‘ Immerhin haben sie mir in Aussicht gestellt, dass es am 3. März klappen könnte.“
Ob es den Banken gelingt, in kurzer Frist wieder anhaltend flüssig zu werden, darf allerdings bezweifelt werden. Denn zu den westlichen Sanktionen gehört auch der Beschluss, US-Bürgerinnen und -Bürgern sowie Institutionen Transaktionen mit der russischen Zentralbank zu verbieten, die zudem weltweit keine Geschäfte in US-Dollar mehr durchführen kann.
Zusammen mit den Sanktionen der europäischen Verbündeten ist der Großteil der russischen Devisenreserven im Wert von rund 643 Milliarden US-Dollar nun de facto blockiert. Das beeinträchtigt die Bemühungen des Kremls, die Auswirkungen der Sanktionen abzumildern, wie er es bei den Sanktionen noch konnte, die 2014 zu Beginn der Ukraine-Krise vom Westen verhängt worden waren.
Der eingeschränkte Zugriff auf die Devisenreserven erschwert der Notenbank zudem die Stützung des Rubels. Erschwerend kommt hinzu, dass eine Reihe russischer Finanzinstitute nun vom Banken- und Kommunikationsnetzwerk Swift ausgeschlossen wurden, was den internationalen Zahlungsverkehr für diese Geldhäuser erheblich kompliziert.
Und auch die russische Realwirtschaft ist von den westlichen Sanktionen schmerzlich betroffen: Der britisch-niederländische Mineralöl- und Erdgasriese Shell erklärte, dass er alle seine Joint Ventures mit Gazprom, Russlands größtem staatlichem Erdgasunternehmen, aufgeben werde. Schmerzhaft für Russland, denn das technologische Know-how Shells versetzte das Land in die Lage, von seinem Energiereichtum in maximaler Weise zu profitieren.
Exodus westlicher Investments
Und Shell war nur einer von etlichen Weltkonzernen, die ihren Rückzug aus Russland ankündigten: Kurz zuvor hatte BP bereits mitgeteilt, seinen Anteil am staatlichen russischen Ölriesen Rosneft zu verkaufen. Volvo gab bekannt, die Produktion in seiner Lkw-Fabrik in Russland einzustellen, und Daimler-Truck, der größte Lkw-Hersteller der Welt, erklärte, dass er seine Partnerschaft mit dem russischen Nutzfahrzeug-Hersteller Kamaz beenden werde.
Westliche Exportbeschränkungen in Bezug auf Ausrüstungen für Ölraffinerien, Flugzeugteile und Halbleiter werden zudem Russlands Fähigkeit verringern, die dringend notwendige Modernisierung und Diversifizierung seiner Wirtschaft voranzubringen. Und sogar das, was heute in Russland schon Standard ist, könnte gefährdet sein.
Ilja Massuch, der die staatliche Agentur leitet, die Russlands Bemühungen koordiniert, bis 2030 von westlicher Halbleitertechnologie unabhängig zu werden, bekannte in der Öffentlichkeit erstaunlich offenherzig, dass Russland bei seinen diesbezüglichen Anstrengungen noch nicht sehr weit gekommen sei: „Nehmen wir zum Beispiel Aeroflot“, sagte er der RBK-Mediengruppe. „Ihre größte Verletzbarkeit weist unsere staatliche Fluggesellschaft auf, wenn es um Technologie geht. Ihre Flugzeuge können blitz und blank auf einem russischen Flughafen bereitstehen, aber ohne SAP oder Oracle werden sie nicht abheben.“
Westliche Exportbeschränkungen und die Abwertung des Rubels lösen auch in der Bevölkerung Befürchtungen aus. Als Diabetikerin ist Anna Eyramdjan etwa auf Insulin aus dem westlichen Ausland angewiesen. „Bisher verwende ich Präparate aus Dänemark und Deutschland“, sagt sie. „Gegen russisches Insulin bin ich höchstwahrscheinlich allergisch.“