E-Paper

Wie ich mit Olaf Scholz in der DDR mal gemeinsame Sache machte

Olaf Scholz (rechts) 1983 in der DDR.

Olaf Scholz (rechts) 1983 in der DDR.

Berlin. Anfang Januar war ich doch etwas verblüfft. Da stellte ich nämlich fest, dass ich mit unserem neuen Kanzler Olaf Scholz mal gemeinsame Sache gemacht habe – vor über 38 Jahren. Der Sozialdemokrat hatte, wie ich vom Stasi-Unterlagenarchiv bestätigten Berichten entnahm, im September 1983 an einem „Internationalen Jugendlager“ der Freien Deutschen Jugend (FDJ) in der DDR teilgenommen, genauer: in Werder an der Havel.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Motto der einwöchigen Veranstaltung: „Frieden ist unser erstes Menschenrecht! Europa darf kein Euroshima werden!“ Und an eben diesem Jugendlager in einem sogenannten Jugendtouristhotel nahm auch ich teil. Die Parallele, von der ich bis dahin nichts wusste, bringt mich zum Nachdenken.

Die Überschriften galten ja dem Umstand, dass Scholz wegen seiner Aktivitäten als zeitweilig führender Jungsozialist und seiner DDR-Kontakte jahrelang von durchweg westdeutschen Mitarbeitern des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit bespitzelt worden ist. Es waren sieben an der Zahl. Scholz wirkte wie ein Opfer. Und er sagte dann auch bei einer Pressekonferenz: „Ist nicht schön, aber so ist es eben.“

Nur: Wenn der Kanzler Opfer war – wie wurde er dazu? Und warum?

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Mangelnder Abstand

Ich selbst hatte in jenem September 1983 gerade Abitur gemacht, in Borghorst im Münsterland. Kein Sommer war so frei wie dieser. Ich war politisch interessiert und links – aber nicht organisiert. Ich war zudem politisch naiv – aber nicht so naiv, dass ich die DDR nicht als autoritären Staat erkannt hätte. Ich glaubte, Erich Honecker und Seinesgleichen wollten womöglich Gutes, wendeten aber die falschen Mittel an. Schon das war blöd genug.

In jenem Sommer fragte mich ein Freund, der Mitglied der Jungdemokraten, ehemals Jugendorganisation der FDP, und in deren Delegation noch ein Platz frei war, ob ich nicht Lust hätte, mit nach Werder zu fahren. Und ich hatte natürlich Lust. Ich war wahnsinnig neugierig.

An konkrete Personen erinnere ich mich kaum, auch an Scholz nicht – außer an meinen Schulfreund und den Leiter unserer Delegation. Ich erinnere mich dafür an die leeren Straßen, die Stille dort, die FDJ-Funktionäre in ihren blauen Hemden, die mir rückblickend älter erschienen, als ich heute bin. Vor allem erinnere ich mich an die tagelangen Debatten. Dass die Blauhemden dogmatisch sein würden, war zu erwarten. Was ich nicht erwartet hatte, war die dogmatische Stromlinienförmigkeit ihrer westlichen Gäste, bei denen es sich allesamt um Vertreter westdeutscher linker Jugendorganisationen handelte.

Kalter Krieg

Erinnerung kann trügen, gewiss. Ohnehin waren die frühen 1980er-Jahre besonders. Es war die letzte Phase des Kalten Krieges, bevor Michail Gorbatschow das große Tauwetter und die Implosion des Kommunismus herbeiführte. Das östliche Militärbündnis, der Warschauer Pakt, hatte Mittelstreckenraketen des Typs SS20 stationiert. Die Nato wollte mit Pershing-2-Raketen kontern. Dagegen demonstrierten in der alten Bundesrepublik Hunderttausende.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Nur konnte ich zwischen der Argumentation der FDJ und der ihrer Genossinnen und Genossen von jenseits der Mauer – von den Jusos etwa oder vom Marxistischen Studentenbund Spartakus – in Werder zu meinem Erschrecken überhaupt keinen Unterschied erkennen. Der Konsens galt keineswegs allein den Raketen (Ostraketen gut, Westraketen schlecht), sondern den politischen Systemen in Ost und West insgesamt. Demnach war der Kapitalismus die Wurzel allen Übels, und der real existierende Sozialismus war die richtige Antwort darauf. Meiner Erinnerung nach waren es allein die Jungdemokraten, die aus dem Konsens ausscherten.

Unser Autor Markus Decker bei einem Spaziergang am Rande des FDJ-Jugendlagers.

Unser Autor Markus Decker bei einem Spaziergang am Rande des FDJ-Jugendlagers.

An einem der Tage in dieser sonnigen Herbstwoche fuhren wir in die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in der DDR – die, weil der Westen die DDR nicht anerkannte, nicht Botschaft heißen durfte. Die Ständige Vertretung lag in der Hannoverschen Straße, unweit der ehemaligen Wohnung des Liedermachers Wolf Biermann. Dort wimmelte es von Volkspolizisten, weil ausreisewillige DDR-Bürger immer wieder in das Gebäude flohen und sie das verhindern sollten. In der Ständigen Vertretung erfuhren wir, worüber in Werder nicht gesprochen wurde: über Leute, die der Diktatur den Rücken kehren wollten und nicht durften, sowie über andere Formen der Repression.

Ich war damals 19 Jahre alt. Und ich darf sagen, dass mir diese Woche eine Lehre war. Ich war gegen alle Formen von linkem Dogmatismus nun nachhaltig immun. Der sechs Jahre ältere Scholz, der stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender und Leiter der Delegation in Werder war, war hingegen weniger Beobachter als Akteur. Er reiste mehrfach in die DDR, Berichten zufolge ohne größere Kontrollen, und traf sich dabei unter anderem mit einem Mann, der 1989 noch von sich reden machen sollte: mit Egon Krenz.

Krenz war seinerzeit Sekretär des Zentralkomitees der SED. Scholz zählte zum „Stamokap“-Flügel. Stamokap stand für staatsmonopolistischer Kapitalismus. Dessen Theorie besagte, dass der Monopolkapitalismus allein deshalb noch nicht zusammengebrochen sei, weil der Staat aktiv in den Wirtschaftsprozess eingreife und die Sicherung der Kapitalverwertung übernommen habe. Der Sozialismus müsse dem abhelfen.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige
Egon Krenz (rechts), hier zusammen mit Erich Honecker, ehemaliger Staatsratsvorsitzender der DDR.

Egon Krenz (rechts), hier zusammen mit Erich Honecker, ehemaliger Staatsratsvorsitzender der DDR.

Der Scholz von vor 40 Jahren war jedenfalls ein ganz anderer Scholz als der, dem in der SPD später vorgeworfen wurde, nicht links genug zu sein – und der noch dazu in Hamburg zu eng mit Bankern gewesen sein soll.

Opposition vergessen

Dabei waren derlei Jugendlager nicht die Ausnahme, sondern in jenen Jahren die Regel. Sie sollten der Entspannung im Kalten Krieg dienen, gemäß der sozialdemokratischen Formel von Willy Brandt und Egon Bahr: „Wandel durch Annäherung“. Leider klagten DDR-Bürgerrechtler später mit Recht, bei all der Annäherung habe mancher den Wandel und die Opposition vergessen.

Es gibt keinen Grund, aus der Sache einen Skandal zu machen. Der Vorsitzende des Dachverbandes der DDR-Opfer, Dieter Dombrowski, sagte stattdessen, was Menschen, die sich mit der Zeitgeschichte auskennen, bestätigen: „In der Zeit der Entspannungspolitik haben die Jusos die DDR als Vorbild angesehen; das war damals Standard. Olaf Scholz hat also das gemacht, was alle Jusos gemacht haben. Ich finde das nicht gut. Aber so war‘s halt.“ Die meisten Jusos seien „nicht nur blauäugig“, sondern „Fans der DDR“ gewesen. Größere Teile der westdeutschen Linken der 1970er- und 80er-Jahre waren es ebenfalls. Nicht wenige von ihnen wurden Journalisten.

Der Vorsitzende des Dachverbandes der DDR-Opfer, Dieter Dombrowski, im Bundestag bei der Wahl der neuen SED-Opferbeauftragten im Juni 2021.

Der Vorsitzende des Dachverbandes der DDR-Opfer, Dieter Dombrowski, im Bundestag bei der Wahl der neuen SED-Opferbeauftragten im Juni 2021.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Wenn die Sache kein Skandal ist, dann ist sie jedoch eine Frage wert: Hat einer der Beteiligten seine Rolle eigentlich mal öffentlich und wahrhaftig reflektiert?

Politische Irrtümer

Die Dimension des Problems belegt ja nicht zuletzt, wie Scholz im Westen bespitzelt wurde: von den besagten mindestens sieben Westdeutschen mit den Decknamen „Kugel“, „Gustav“, „Giesbert“, „Konrad“, „Holm“, „Heine“ und „Udo“. Sie lieferten zwischen 1978 und 1987 mindestens 19 Berichte über den heutigen Kanzler und seine Juso-Tätigkeit in Hamburg ab – ohne jenen Druck, der auf Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) in der DDR lastete, vielmehr aus Überzeugung oder finanziellen Gründen.

Dombrowski, der in der DDR in Haft saß und später länger in Westberlin lebte, wurde dort nach eigenen Angaben von 15 IM beschattet, beim letzten Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, seien es in Westberlin sogar 50 gewesen, sagt er. Für keinen, so darf man annehmen, hatte dies jene Folgen, die eine IM-Tätigkeit für Ostdeutsche oft hatte: Jobverlust, gesprengte Familien- und Freundeskreise.

Dass Scholz offen und selbstkritisch über diese Zeit sprechen wird, ist unwahrscheinlich. Er ist nicht der Typ dafür und dürfte fürchten, dass dies seine Autorität untergrübe. Als Objekt der Geschichte zu erscheinen, ist einfacher.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Tatsächlich konnte sich eine ganze Generation von Linken in Westdeutschland vor 1989 den Luxus eines politischen Irrtums leisten, den sich in Ostdeutschland niemand leisten konnte, ohne dafür nach 1989 Rechenschaft ablegen zu müssen – obwohl die westdeutschen Irrtümer in Freiheit geschahen und die ostdeutschen in Unfreiheit. Mir kommt das auch im Lichte meiner persönlichen Erfahrung sehr ungerecht vor.

Mehr aus Politik

 
 
 
 
 
Anzeige
Anzeige

Letzte Meldungen

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Spiele entdecken