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Freiwillige in der Ukraine

Die Hilfe kennt keine Grenzen: Ein Stuttgarter unterstützt Flüchtende in Lwiw

Sowohl ukrainische als auch ausländische Helfer und Helferinnen organisieren an vielen Orten in Lwiw Hilfe.

Sowohl ukrainische als auch ausländische Helfer und Helferinnen organisieren an vielen Orten in Lwiw Hilfe.

Lwiw. Die Regale in der Großapotheke am Stadtrand von Lwiw leeren sich schnell. So schnell, dass man zuschauen kann. Die Apotheker greifen routiniert hier nach einer Pillenschachtel, dort nach einem Fläschchen oder einem Tablettenblister.

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Mitarbeiter scannen pausenlos die Preise ab, während immer mehr Menschen den Raum der Apotheke füllen. Draußen vor der Tür bilden die Wartenden eine Schlange, eine, die immer länger wird. Die Menschen wollen sich eindecken mit allem, was sie für eine unbestimmte Zeit an Arzneimitteln benötigen.

Viele Geflüchtete sind verletzt

Serkan Eren, Gründer der Hilfsorganisation Stelp (Stuttgart helps) aus Stuttgart, wird zu einer hinteren Kasse gelotst. Mit 2000 Euro in der Tasche will er möglichst viele Medikamente kaufen. Sie sollen an jene Ukrainer verteilt werden, die in einem anschwellenden Strom in überfüllten Zügen aus Kiew und anderen bombardierten Städten in der westukrainischen Großstadt ankommen. Lwiw gilt – gelegen in maximaler Entfernung zu den russischen Raketenbasen und Flughäfen in Russland und Belarus – noch als vergleichsweise sicher.

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Nahe der Stadt, nur 70 Kilometer entfernt, befindet sich ein Grenzübergang nach Polen. Das Problem: Die Straßen dorthin sind seit Tagen durch eine endlose Blechlawine verstopft. Unzählige Menschen sind auf der Flucht. Und nicht nur auf den Straßen herrscht Chaos.

„Aus Kiew kommen jetzt so viele mit den Zügen hierher. Darunter sind Kinder, und viele Flüchtende sind verletzt. Wir brauchen die Medikamente für sie“, sagt Eren. Der 37-Jährige hält den Rucksack mit den Bündeln an Bargeld in Euro und der ukrainischen Währung Hrywnja in den Händen.

Die Apothekerin packt nur eine Handvoll Schachteln und Fläschchen in zwei kleine Pappkartons. Mehr könne sie beim besten Willen nicht herausgeben, meint sie. Die Lagerräume seien leer. Eren verliert für eine Sekunde die Fassung. Er hat genügend Bares dabei. Doch das reicht nicht. Die leeren Regale der Apotheke lassen sich mit keinem Geld der Welt auffüllen.

Auch Erens ukrainische Kontaktfrau Jelena Komissarowa ist den Tränen nahe. Die freiwillige Helferin aus Lwiw hat den Deal mit der Apotheke eingefädelt. Davon hat sich Eren einen beträchtlichen Vorrat an Medikamenten für die Geflüchteten versprochen. Komissarowa redet auf Eren ein, erklärt ihm, dass die Apotheken in Lwiw immer weniger Ware über die verstopften oder von den Russen zerschossenen Straßen der Ukraine geliefert bekämen. „Ich weiß, das ist nicht deine Schuld. Mir rennt nur die Zeit davon“, sagt er sichtlich enttäuscht.

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Die Zeit läuft allen davon

Die Zeit ist ein limitierender Faktor für den deutschen Helfer – nicht nur für ihn. Für alle wird die Situation im Land von Stunde zu Stunde immer unerträglicher. Serkan Eren ist am zweiten Tag nach dem Beginn der russischen Invasion mit zwei Lastern voller Hilfsgütern in Stuttgart aufgebrochen. Jedes Fahrzeug hatte 2,5 Tonnen an Lebensmitteln, Decken, Medikamenten und Hygieneartikeln geladen.

Der Konvoi erreichte in der Nacht den Lwiw am nächsten gelegenen Grenzübergang vom polnischen Korczowa ins ukrainische Krakowez. Hier der erste Schock: Die polnischen Grenzbeamten verweigerten den Helfern die Durchfahrt. Es fehlten angeblich Papiere.

„Ich habe die Grenzer angebettelt, war den Tränen nahe. Da war nichts zu machen“, erzählt Eren. Und so habe er sich entschieden, gemeinsam mit der Reporterin Sophia Maier von „Stern-TV“ und einem Kameramann sowie seinem Rucksack – gepackt mit 25.000 Euro – die Reise in den Krieg ohne die Lastwagen fortzusetzen.

Die Transporter kehrten stattdessen um und steuerten Aufnahmezentren für Ukrainer in Polen an. Immerhin. So sind all die Spenden den Menschen zugutegekommen, die bei ihrer Flucht vor den russischen Bomben und Raketen das Ziel Polen erreicht haben.

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Eren und die Journalisten bleiben mit ihrem Auto über Stunden im Stau zwischen der Grenze und Lwiw stecken. Männer, die ihre Familien zur Grenze gebracht haben und nun per Gesetz verpflichtet sind, in den Krieg zurückzukehren, verstopfen mit ihren Fahrzeugen die Straße. Erst in den frühen Morgenstunden erreichen die drei Lwiw, die siebtgrößte Stadt der Ukraine.

Dort angekommen, wird es schwierig, eine Unterkunft zu finden. Die Rezeptionisten in jedem Hotel schütteln nur den Kopf auf die Frage, ob es ein freies Zimmer gibt. Die Stadt platzt aus allen Nähten, seitdem die Ukrainer aus anderen Landesteilen hierher flüchten. Ein Hotelier erbarmt sich schließlich und lässt die Deutschen auf dem Boden eines Konferenzraums übernachten. Am folgenden Tag finden Eren und seine Begleiter über ihre ukrainischen Kontakte ein freies Apartment.

Drama am Bahnhof

Der 37-Jährige sitzt am Steuer seines Audi und steckt nach dem für ihn enttäuschenden Einkauf in der Apotheke auf dem Weg ins Stadtzentrum schon wieder im Stau. Es scheint, als wäre die ganze ukrainische Bevölkerung auf den Straßen unterwegs.

Eren fährt zum Bahnhof von Lwiw. Dort erwartet ihn das nächste Drama. Tausende Menschen strömen von allen Seiten auf den im 19. Jahrhundert im neugotischen Stil errichteten Prachtbau. Es scheint, als würden die Flüchtenden am Bahnhofseingang aufgesaugt und im Gedränge in der Wartehalle wieder ausgespuckt.

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Tausende Flüchtende hoffen, vom Bahnhof von Lwiw mit dem Zug ausreisen zu können.

Tausende Flüchtende hoffen, vom Bahnhof von Lwiw mit dem Zug ausreisen zu können.

In den Gängen ist es noch enger, vor den Treppen bilden sich Menschentrauben. Manche schreien sich ihre Verzweiflung aus dem Leib, ein Geruch von Angst liegt in der Luft. Leute klettern von den Bahnsteigen über die Gleise. Eren greift einer alten Dame unter den Arm und hilft ihr hinüber. Vor dem Gebäude werden Essen und Wasser verteilt.

Nachschub fehlt

Eren entscheidet sich, zunächst mit seinen ukrainischen Kontaktleuten zu sondieren, wo er am besten unterstützen kann. Etwas später am Nachmittag sitzt er einige Kilometer vom Bahnhof entfernt mit zwei baptistischen Pastoren im Konferenzraum der Gemeinde. Einer der Pastoren, Dmytri Kolesnyk, ist auch Stadtrat in Lwiw. Er berichtet, wie sich die Versorgungslage der Stadt Tag um Tag, Stunde um Stunde weiter zuspitzt.

„Die Ukraine kann sich wunderbar selbst versorgen. Aber jetzt sind alle Lieferketten im Land unterbrochen. Straßen sind zerstört, die Transportlaster kommen im Stau nicht vom Fleck“, sagt der Pastor. Er schätzt, dass es in spätestens zehn Tagen Probleme bei der Nahrungsmittelversorgung geben könnte.

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Eren will mit seinen 25.000 Euro Essen kaufen, vielleicht Matratzen für die Geflüchteten, die im Gemeindezentrum ein Obdach finden. Doch wie schon in der Apotheke bekommt er zur Antwort, dass die Vorräte der Supermärkte immer kleiner werden. „Wir können eine Bestellung aufgeben und dann hoffen, dass sie die Sachen auch liefern können“, erklärt Kolesnyk. Sein Pastorenkollege Yaroslaw Nazarkeywitscf fügt hinzu, dass die jetzt wichtigsten Güter schon lange gehamstert seien: Mehl, Zucker, Pflanzenöl, alles, was lange haltbar ist.

Serkan Eren (rechts), Gründer der Hilfsorganisation Stelp (Stuttgart helps) aus Stuttgart, bespricht mit Pastor Yaroslaw Nazarkeywitsch, wie man den Menschen in der Ukraine derzeit am besten helfen kann.

Serkan Eren (rechts), Gründer der Hilfsorganisation Stelp (Stuttgart helps) aus Stuttgart, bespricht mit Pastor Yaroslaw Nazarkeywitsch, wie man den Menschen in der Ukraine derzeit am besten helfen kann.

Humanitärer Korridor

Als das Gespräch mit den Pastoren endet, ist es bereits dunkel geworden. Jeden Abend um 18 Uhr proben die Sirenen in Lwiw. Von 22 Uhr an gilt eine Ausgangssperre.

Eren verbringt die letzten Stunden davor in einem zum Helferstützpunkt umgewandelten Restaurant in der Altstadt von Lwiw. Ukrainische Freiwillige belegen in der Küche der Vinothek Prag Sandwiches mit Käse und Wurst, die Eren gekauft hat. Der Helfer zieht Bilanz seiner ersten Tage in der Ukraine. „Das Problem sind die unterbrochenen Lieferketten. Das macht es schwierig, vor Ort Hilfsgüter zu organisieren. Es ist einfach nicht genug da“, sagt er.

Wir brauchen dringend einen humanitären Korridor von Polen in die Ukraine für die Helfer, damit die Laster mit den Hilfsgütern einfach über die Grenze rollen können.

Serkan Eren,

Gründer der Hilfsorganisation Stelp (Stuttgart helps) aus Stuttgart

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Er erinnert die Europäer und die internationale Gemeinschaft an ihre Verantwortung für die ukrainische Zivilbevölkerung. „Das waren jetzt die ersten chaotischen Tage in diesem Krieg. Wir brauchen dringend einen humanitären Korridor von Polen in die Ukraine für die Helfer, damit die Laster mit den Hilfsgütern einfach über die Grenze rollen können“, sagt er.

Am nächsten Morgen schickt Eren ein Foto. In der Nacht hat er über seine Kontakte zwei Familien aus Kiew vom Bahnhof zu seiner Wohnung gelotst. Es sind auch zwei Neugeborene dabei, eines ist vor einigen Tagen im Raketenhagel in der Hauptstadt auf die Welt gekommen.

Eren gelingt es, noch Lebensmittel in der baptistischen Gemeinde in Lwiw aufzutreiben. Er kauft für 7000 Euro Essen ein. In der folgenden Nacht bringt er die Babys und deren Familien über die Grenze nach Polen. Dorthin, wo es sicher ist.

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