Kriegsverbrechen in der Ukraine: Weltstrafgericht will gegen Putins Gräueltaten vorgehen
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Karim Khan, Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (Archivbild)
© Quelle: Sergio Acero/colprensa/dpa
Den Haag. Der Chefankläger des Weltstrafgerichts, Karim Khan, hat die internationale Gemeinschaft dazu aufgerufen, sich für die strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechen in der Ukraine stark zu machen.
„Das Recht kann kein Zuschauer sein.“
Karim Khan,
Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs
Das Recht dürfe keine zweitrangige Rolle spielen, sagte Khan bei der Eröffnung einer internationalen Konferenz zur Verfolgung von Kriegsverbrechen in der Ukraine am Donnerstag in Den Haag. „Das Recht kann kein Zuschauer sein.“
Der niederländische Außenminister Wopke Hoekstra bekräftigte die Notwendigkeit einer gemeinsamen Strategie. Angesichts der Berichte über Vergewaltigungen, Morde und Folter sei Handeln geboten. EU-Kommissar Didier Reynders sprach von einer „Riesenaufgabe“, für deren Bewältigung ein starkes Justizsystem in der Ukraine notwendig sei.
Großes Ermittler-Team im Krisengebiet
Mehr als 30 Minister und Ankläger Europas sowie anderer westlicher Staaten beraten in Den Haag über gemeinsame Strategien, Kriegsverbrechen in der Ukraine strafrechtlich zu verfolgen. Die Konferenz wurde von der EU-Kommission, dem niederländischen Außenministerium und dem Ankläger des Internationalen Strafgerichtshof einberufen.
Nach den ersten Berichten über mutmaßliche Kriegsverbrechen nach der russischen Invasion am 24. Februar hatte das Weltstrafgericht Ermittlungen eingeleitet und das bisher größte Team von Ermittlern ins Kriegsgebiet geschickt. Die Justiz in der Ukraine ermittelt nach eigenen Angaben zu mehr als 15.000 mutmaßlichen Fällen.
Der Internationale Strafgerichtshof, der seit 2002 in Den Haag tagt, verhandelt nicht abstrakt gegen Institutionen, sondern konkret gegen bestimmte Tatverdächtige. Es ist zuständig für schwerste Verletzungen des Völkerrechts, nämlich Angriffskrieg, Kriegsverbrechen und Genozid. Inzwischen haben 123 Staaten das Statut ratifiziert.
Angriffskrieg und Kriegsverbrechen
Es sind vor allem zwei Delikte, die bei Putins Invasion in Betracht kommen: Der Angriffskrieg und Kriegsverbrechen. Was den Angriffskrieg betrifft, so liegt nach nahezu einhelliger Auffassung eine eklatante Verletzung der UN-Charta von 1945 vor.
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Die Vollversammlung der Vereinten Nationen verurteilte am 2. März 2022 mit einer klaren Mehrheit von 141 Staaten die russische Aggression - bei 34 Enthaltungen.
© Quelle: IMAGO/Pacific Press Agency
Sie verbietet jedwede Androhung oder Anwendung von Gewalt, die gegen die „territoriale Unversehrtheit“ oder „politische Unabhängigkeit“ eines Staates gerichtet ist. So hat denn auch die Vollversammlung der Vereinten Nationen mit einer klaren Mehrheit von 141 Staaten die Aggression verurteilt - bei 34 Enthaltungen.
Für Putins Angriffskrieg nicht zuständig
Während die Fakten offenkundig sind, gibt es juristische Probleme, die Invasion vor den Strafgerichtshof zu bringen. Russland hatte dessen Statut zunächst gebilligt, 2016 aber nach der Annexion der Krim seine Unterschrift zurückgezogen und ist somit kein Vertragsstaat.
Auch die Ukraine ist das nicht, hat aber immerhin im Nachhinein das Statut anerkannt. Weil aber beide Konfliktparteien Vertragsstaaten sein müssen, ist der Internationale Gerichtshof für Putins Angriffskrieg nicht zuständig.
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Für mutmaßlichen Kriegsverbrechen müsste sich Wladimir Putin, Präsident von Russland, vor dem Internationalen Strafgerichtshof sehr wohl verantworten, falls man seiner habhaft würde.
© Quelle: Alexander Zemlianichenko/Pool AP
Zum zweiten Punkt, den mutmaßlichen Kriegsverbrechen: Das humanitäre Völkerrecht basiert auf der grundlegenden Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten. Es definiert Kriegsverbrechen als Gewalt gegen Unbewaffnete, etwa die Misshandlung und Tötung, die Zerstörung von Schulen und Krankenhäusern, die Bombardierung von Wohngebieten, Raub und Plünderung, Vergewaltigung und Verschleppung.
Putin könnte sich nicht auf Immunität berufen
Der Strafgerichtshof ist in diesen Fällen zuständig. Denn es genügt, dass die mutmaßlichen Kriegsverbrechen auf dem Territorium der Ukraine verübt werden. Ermittlungen können sich also auch gegen die Angehörigen eines Nichtvertragsstaates richten. Und zwar gegen alle Soldaten der russischen Streitkräfte bis hin zu deren Oberbefehlshaber. Präsident Putin, dem als Staatsoberhaupt Immunität zusteht, könnte sich in dieser Konstellation nicht darauf berufen.
Nach Massaker in Butscha: Behörden rechnen mit mehr Opfern in anderen ukrainischen Städten
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj will eine lückenlose Aufklärung der Verbrechen gegen Zivilisten in Butscha und anderen ukrainischen Städten.
© Quelle: dpa
Geht es Kriegsverbrechen in diesem Angriffskrieg, der am 24. Februar begann, wird immer wieder Butscha genannt. Vor dem Krieg war Butscha ein familienfreundlicher Vorort von Kiew mit rund 37.000 Einwohnern.
Die ersten russischen Soldaten erreichten die Stadt am 27. Februar, am 5. März brachten sie den Ort unter ihre Kontrolle, wie die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch berichtet. Zu diesem Zeitpunkt hielten sich schätzungsweise noch 4.000 Einwohner dort auf. Am 31. März zog die russische Armee aus Butscha ab.
AFP-Journalisten entdeckten am 2. April über mehrere hundert Meter verstreut 20 Leichen in Zivilkleidung. Ein Mann war mit seinem Fahrrad gestürzt, anderen waren die Hände auf dem Rücken gefesselt. Mindestens zwei schienen Kopfwunden aufzuweisen. Laut dem Polizeichef von Butscha,
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Ursula von der Leyen (M), Präsidentin der Europäischen Kommission, betrachtet gemeinsam mit Josep Borrell (rechts hinter von der Leyen), Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, abgedeckte Leichen getöteter Zivilisten.
© Quelle: Rodrigo Abd/AP/dpa
Witaly Lobass, wurden nach dem Truppenabzug etwa 400 Leichen entdeckt, unter anderem in zwei Massengräbern. Die meisten seien erschossen worden. In der gesamten Region wurden nach Angaben der stellvertretenden ukrainischen Ministerpräsidentin Olha Stefanischyna mehr als 1.000 tote Zivilisten gefunden.
Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Khan, reiste am 13. April dorthin und nannte die gesamte Ukraine einen „Tatort“. Ein Team von Ermittlern aus Litauen, Polen und der Ukraine solle vor Ort Beweise sammeln und werde dabei von der EU-Justizbehörde Eurojust unterstützt, kündigte Khan an.
Human Rights Watch fand Beweise für Kriegsverbrechen
Human Rights Watch nahm eigene Untersuchungen vor und fand nach eigenen Angaben Beweise für Kriegsverbrechen wie Folter, Hinrichtungen im Schnellverfahren sowie das Verschwindenlassen von Menschen. Ermittler des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte dokumentierten am 9. April den Tod von 50 Zivilisten in Butscha, darunter Hinrichtungen im Schnellverfahren.
„Der Spiegel“ zitierte aus vom Bundesnachrichtendienst (BND) abgehörten Funksprüchen zwischen russischen Soldaten, in denen diese sich über die Gräueltaten unterhielten. In einem Gespräch erzählte demnach ein Soldat einem anderen, dass er und seine Kollegen einen Mann auf einem Fahrrad getötet hätten.
Kiew macht die 64. motorisierte Infanteriebrigade Russlands für die Taten verantwortlich. Die Truppe war in Butscha stationiert. Putin unterzeichnete am 18. April ein Dekret, in dem er die Brigade für ihren „Heldenmut und ihre Tapferkeit“ lobte.
RND/dpa/stu