Was ein Fluglotse über die Zwangslandung von Ryanair-Flug 4978 berichtete
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Mai 2021: Eine Sicherheitskraft inspiziert mit einem Spürhund das Gepäck eines Ryanair-Flugzeuges. Belarussische Behörden hatten das Flugzeug auf dem Weg von Athen nach Vilnius zur Landung gebracht. Dieses Flugzeug musste am Flughafen in Minsk landen, obwohl es ein anderes Ziel hatte. Dann wurde das Gepäck untersucht. Foto: Uncredited/ONLINER.BY/AP/dpa - ACHTUNG: Nur zur redaktionellen Verwendung im Zusammenhang mit der aktuellen Berichterstattung und nur mit vollständiger Nennung des vorstehenden Credits. Verwendung nur bis zum 06.06.2021. ACHTUNG: Dieses Bild hat dpa auch im Bildfunk gesendet - Honorarfrei nur für Bezieher des Dienstes dpa-Nachrichten für Kinder +++ dpa-Nachrichten für Kinder +++
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Berlin. Unter den Tausenden Migranten, denen in diesem Sommer die Flucht über die belarussisch-polnische Grenze gelang, soll auch ein „Überläufer“ gewesen sein. Er wurde vom polnischen Geheimdienst freundlich empfangen, weil er hochinteressante Dinge zum Ryanair-Flug 4978 zu berichten wusste. Dieser Flug, der eigentlich von Athen nach Vilnius führte, war am 23. Mai zur Zwischenlandung in der belarussischen Hauptstadt Minsk gezwungen worden.
Unter den 125 Passagieren an Bord der Boeing 737 war auch der belarussische Journalist Roman Protassewitsch und seine Freundin, die Studentin Sofia Sapega. Der ehemalige Chefredakteur des oppositionellen Telegram-Kanals Nexta wurde nach der Zwangslandung in Minsk verhaftet und verschwand wie auch Sapega in den Verhörkellern des Geheimdienstes von Diktator Alexander Lukaschenko.
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Das vom belarussischen staatlich kontrollierten ONT-Kanal zur Verfügung gestellte Videostandbild zeigt den regimekritischen Aktivisten und Blogger Roman Protassewitsch, der während seines Interviews mit dem belarussischen Journalisten Marat Markau weint (Archivfoto).
© Quelle: -/ONT Channel/AP/dpa
Schon damals tauchte im Westen die Vermutung auf, dass die Sache von langer Hand durch Lukaschenkos Geheimdienst KGB organisiert worden war, um Protassewitsch in die Hände zu bekommen und zum Schweigen zu bringen. Diese These wird jetzt erhärtet durch einen Bericht der „New York Times“ und Einlassungen des polnischen Geheimdienstes.
Demnach hatte der „Überläufer“, ein Georgier namens Oleg Galegov, zum Zeitpunkt des Ryanair-Vorfalls im Kontrollturm von Minsk als Fluglotse Dienst. Ihm kam die Aufgabe zu, dem Piloten des Flugzeugs mitzuteilen, dass sich angeblich eine Bombe an Bord befinde, er die Reise nach Vilnius stoppen und in Minsk aus „Sicherheitsgründen“ landen müsse, berichtete die Zeitung. Der polnische Inlandsgeheimdienst, die Agentur für Innere Sicherheit (ABW), bestätigt das indirekt, indem sie von einem „direkten Zeugen“ der Geschehnisse im Kontrollturm von Minsk berichtet.
Nach Angaben der ABW hat sich am 23. Mai ein belarussischer KGB-Offizier im Tower befunden, der im entscheidenden Moment die Kontrolle über den Fluglotsen übernahm. Er wies den Lotsen an, den Ryanair-Piloten zur Landung in Minsk zu drängen. Gleichzeitig hielt der KGB-Mann ständigen Telefonkontakt mit jemandem, dem er das aktuelle Geschehen in Zusammenhang mit dem Flugzeug meldete, heißt es in einem Statement des Sprechers der polnischen Geheimdienste, Stanislaw Zaryn.
Die „New York Times“ schreibt, der belarussische „Überläufer“ habe detaillierte Beweise vorgelegt, dass der Ryanair-Flug Ziel einer vom KGB orchestrierten Operation war, um mittels einer fingierten Bombendrohung die Maschine zur Landung zu zwingen und Protassewitsch zu ergreifen. Dementsprechend stuften polnische Ermittler die Umleitung des Passagierflugzeugs nach Minsk jetzt auch offiziell als Staatsterrorismus ein. Zaryn sagte, die Ergebnisse der polnischen Untersuchung kommen klar zu dem Schluss, dass es keine Bombe gab.
Nach Einschätzung des aus Minsk stammenden Analysten und Zeithistorikers Alexander Friedman verschafft das jetzt bekannt gewordene Material den polnischen Staatsanwälten eine gute Grundlage, um den Fall eines Tages vor Gericht zu bringen. „Ich vermute, dass die Polen noch mehr Beweise in der Hinterhand haben und zu gegebener Zeit damit herauskommen“, sagte Friedman dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Ein abschließender Bericht der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) mit Sitz in Montreal liegt noch nicht vor, kommt nach Friedmans Worten möglicherweise im Februar heraus.
Roman Protassewitsch wurde damals nach seiner Verhaftung tagelang verhört und schließlich vor eine laufende TV-Kamera gesetzt, um zu bekennen, dass er zu Massenprotesten in Minsk aufgerufen habe und dass Diktator Lukaschenko eigentlich ein guter Mensch sei.
Wer in das Gesicht des Opfers sah, erkannte sofort, dass da kein Mensch aus freien Stücken spricht. Der 26-jährige Journalist wirkte hochgradig angespannt und nervös, redete mit teilweise zitternder Stimme, hatte deutlich sichtbare Verletzungen an den Handgelenken und brach am Ende in Tränen aus.
Später wurde er aus dem Gefängnis entlassen und in Minsk unter Hausarrest gestellt. Über seinen weiteren Verbleib und den seiner Freundin ist nichts Genaues bekannt.