Warum Spitzenpolitiker nie mehr allein sind
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Nie allein unterwegs: Baerbock in New York vor der Teilnahme an der Notstands-Sondertagung der Generalversammlung und der Sondersitzung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen.
© Quelle: IMAGO/photothek
Liebe Leserin, lieber Leser,
kürzlich war Annegret Kramp-Karrenbauer in der Münchner Innenstadt unterwegs. Es war ein Sonntagmorgen, Straßen und Gehwege waren so leer, wie sie nur an einem Sonntagmorgen leer sein können, selbst in einer Stadt, die sich für die nördlichste Stadt Italiens hält. Die ehemalige CDU-Vorsitzende und Bundesministerin der Verteidigung, die eine Zeitlang als potenzielle Kanzlerin galt und wegen ihres menschlichen Umgangs sehr geschätzt wurde, war so allein, dass es fast schon irritierend wirkte. Niemand war ihr zu Diensten. Konnte das wirklich Annegret Kramp-Karrenbauer sein? Die Stimme ließ dann keinen Zweifel mehr zu.
Die Saarländerin war wegen der Münchner Sicherheitskonferenz gekommen. Sie wohnte dort einem der zahlreichen Side-Events bei. 2020 hatte Kramp-Karrenbauer bei derselben Konferenz noch auf der Hauptbühne gesessen. Wurde damals jede ihrer Anmerkungen notiert und gewogen, so sagt Kramp-Karrenbauer seit ihrem Rückzug kaum noch ein öffentliches Wort. Ein kurzes, sehr freundliches Gespräch mit dem Reporter am Sonntagmorgen. Dann ging sie ihrer Wege.
Der Erfolg hat viele Väter, sagt man. Der Misserfolg ist ein Waisenknabe. So ist es wohl.
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Das waren noch andere Zeiten: die Münchner Sicherheitskonerenz 2020. Annegret Kramp-Karrenbauer, damals Verteidigungsministerin, neben und Mark Esper, Verteidigungsminister der USA.
© Quelle: Sven Hoppe/dpa
Wenn Karrieren in der Hauptstadt beginnen, dann beginnen sie ebenfalls allein. Ein neuer Bundestagsabgeordneter muss sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erst noch suchen: eine Sekretärin, einen Büroleiter, ein oder zwei Referenten für Berlin, dazu Kontaktleute im Wahlkreis. Steigen Abgeordnete auf, sagen wir zum Ausschuss- oder zur stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden, dann wächst die Zahl der Mitarbeitenden. Das gilt erst recht, wenn ein Ministeramt winkt. Sie wirken – bisweilen ergänzt durch Sicherheitsbeamte mit Knopf im Ohr – wie eine Mauer, hinter der man eine Ministerin oder einen Minister kaum mehr einfach so zu sehen oder zu sprechen bekommt. Schreibt man eine SMS, auf die man früher noch eine Antwort erhalten hätte, schreibt nun der Pressesprecher zurück und bittet darum, sich doch beim nächsten Mal an ihn zu wenden. Der Terminkalender ist ohnehin gnadenlos. Oben winkt die Unfreiheit.
Noch kurz bevor Annalena Baerbock Grünen-Vorsitzende wurde, konnte sie im Zug von Hamburg nach Berlin fahren, ohne dass Normalsterbliche sie erkannten. Baerbocks Büro im Bundestag maß vielleicht zwölf Quadratmeter. Eine kleine Sitzecke, ein Schreibtisch, das war’s. Jetzt bestellt sie sich bei Bedarf ein Flugzeug, um nach Neu-Delhi oder Bagdad zu jetten, und zieht stets eine Karawane von Angestellten hinter sich her. Feiert die Grünen-Bundestagsfraktion wie im vorigen Spätsommer ein Fest, dann findet man die Ministerin dort, wo sich die größte Menschentraube gebildet hat. Sie könnte auch das Telefonbuch vorlesen. Das ist die Erotik der Macht.
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Auch im Irak von einem Tross begleitet: Außenministerin Annalena Baerbock.
© Quelle: Michael Kappeler/dpa
Der Rückzug vollzieht sich meist leiser. Baerbocks Vorgänger Heiko Maas etwa hielt es ähnlich wie seine saarländische Landsfrau Kramp-Karrenbauer. Auch er gab kaum noch Interviews und verließ das Hohe Haus. Als man Maas das letzte Mal in der Parlamentslobby sah, lief niemand neben ihm. Kein Fernsehteam stellte sich Maas in den Weg. Die Gefolgschaft gilt immer dem Amt, selten der Person. Das ist der Zynismus der Macht.
Erst wenn ein Politiker den Zenit seiner Laufbahn überschritten hat, ist er wieder ansprechbar – zumindest theoretisch. In dem Moment kann er wieder tun und lassen, was er will, und auch mal mutterseelenallein an einem Sonntagmorgen durch München laufen, ohne dass ein Hahn danach kräht.
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Ist immer noch quietschfidel: Theo Waigel 2023 im Schloss Bellevue in Berlin beim Abendessen zu Ehren von Bundespräsident a. D. Horst Köhler anlässlich seines 80. Geburtstages.
© Quelle: IMAGO/Bernd Elmenthaler
Schön ist in diesem Zusammenhang die Episode, die der einstige Bundesfinanzminister Theo Waigel der „Augsburger Allgemeinen“ erzählt hat. „Vor zwei Jahren war ich in Tirol, da kam ein Mann auf mich zu, schaute mich an und sagte: Sie sind aber nicht der Theo Waigel? Ich sagte: Nein.“ Der Mann habe daraufhin gesagt, dass Waigel ja schon gestorben sei, woraufhin der CSU-Mann erwiderte: „Sie haben recht – vor drei Jahren oder so.“
Mehr Freiheit geht nicht.
Bittere Wahrheit
Wir können unser Land nur mit konkreten Vorschlägen voranbringen und nicht mit Klimablabla.
Volker Wissing,
Bundesverkehrsminister, FDP
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Volker Wissing, Bundesminister für Verkehr und Digitales und Antiheld der Klimabewegung.
© Quelle: Sebastian Gollnow/dpa
Gesellschaftliche und politische Konflikte – zumal, wenn sie komplex sind – neigen früher oder später zur Personalisierung. Nirgends lässt sich das so trefflich beobachten wie beim Kampf um den Klimaschutz. Luisa Neubauer von Fridays for Future ist die Heldin. Bundesverkehrsminister Volker Wissing von der FDP ist der Antiheld. Wer Wissing kennt, der weiß, dass ihm an Streit eigentlich nicht gelegen ist. Das scheint sich nun zu ändern. Beim rheinland-pfälzischen Landesparteitag der Liberalen ging er auf die Grünen los. Die werden gewiss mit gleicher Münze heimzahlen.
Wie das Ausland auf die Lage schaut
Zur Russland-Politik der SPD schreibt die italienische Zeitung „Corriere della Sera“:
„Die Geste war identisch, die Botschaft aber eine ganz andere. Als der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil vor dem Mahnmal für den Aufstand im Warschauer Ghetto in der polnischen Hauptstadt kniete, musste man sofort an Willy Brandt denken. Die Folge dieser Geste, die in die Geschichte einging, war die Ostpolitik, die Politik der Offenheit gegenüber dem kommunistischen Osten, die so sehr zur DNA der deutschen Sozialdemokratie wurde, dass sie nach dem Ende des Kalten Krieges in die privilegierte Beziehung zu Russland mündete. Selbst um den Preis, dass man die Anliegen und Interessen der mittel- und osteuropäischen Länder ignorierte.
Doch Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine hat gezeigt, dass dieser Ansatz nicht tragfähig ist. Klingbeils Reise nach Warschau beendet eine Ära und öffnet eine neue. Also nicht mehr „Russland first“, sondern „Mitteleuropa first“. Das ist ein wichtiges Signal. Die SPD löst sich vom falsch interpretierten Erbe Willy Brandts und von Jahrzehnten falscher Entscheidungen, die dazu geführt haben, dass Deutschland in der Energieversorgung weitgehend von Moskau abhängig ist.“
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Lars Klingbeil in Warschau.
© Quelle: Fionn Große
Deutschland darf weiterhin keine Schweizer Panzermunition an die Ukraine liefern. Bemühungen um eine entsprechende Lockerung des Schweizer Kriegsmaterialgesetzes sind im Parlament in Bern gescheitert. Dazu meint die „Neue Zürcher Zeitung“:
„Wer die Schweiz konsequent als Teil der freien Welt positionieren will, muss einen Schritt vorwärtsmachen. Natürlich kommen eine Aufgabe der Neutralität und ein Nato-Beitritt nicht infrage. Mutig, befreiend und konsequent wäre aber eine Orientierung an dem Modell, das Schweden nach 1989 praktizierte: Die Schweiz bleibt militärisch bündnisfrei, pflegt weiterhin eine ausgeprägte Neutralitätspolitik, verzichtet aber auf die fixe Bindung an das Neutralitätsrecht.
Dieser fortschrittlichere Standpunkt erhöhte die außen- und sicherheitspolitische Handlungsfreiheit, auch was militärische Kooperationen angeht. Jetzt auf einer Neutralität mit Satzungen von 1907 zu beharren, ist das Gegenteil einer bewahrenden Haltung. Die Zirkeldiskussion um das Schweizer Kriegsmaterial schadet dem Ruf der Schweiz und ihrer Rolle als neutrales Land. Eine fortschrittliche Neutralität ist wohl noch nicht mehrheitsfähig, aber doch das Gegenmodell zum neutralen Stillstand.“
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