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Warum die Nato einen baldigen Angriff auf die Ukraine befürchtet

Ein Soldat bezieht seine Position in einem Graben an der Trennungslinie in der Nähe des ukrainischen Dorfes Yasne, das von den von Russland unterstützten Separatisten kontrolliert wird.

Ein Soldat bezieht seine Position in einem Graben an der Trennungslinie in der Nähe des ukrainischen Dorfes Yasne, das von den von Russland unterstützten Separatisten kontrolliert wird.

Im Nato-Hauptquartier in Brüssel gibt es eine Abteilung, die ähnlich funktioniert wie der Newsroom in großen Medienhäusern. Im Situation Centre (Sitcen) sitzen Militärs und zivile Beschäftigte nebeneinander und lassen Nachrichten aus beiden Welten massenhaft auf sich einströmen, 24 Stunden am Tag.

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Aufgesaugt wird hier aus öffentlichen und nicht öffentlichen Quellen alles, was von Belang sein könnte, von militärisch relevanten Nachrichten auf Spezialportalen und in sozialen Netzwerken bis hin zu regionalen Polizeimeldungen.

In Schweden zum Beispiel tauchten dieser Tage über gleich drei Kernkraftwerken Drohnen auf. Auffallend stabil hielten die Maschinen im Wind ihre Position – um dann mit unbekanntem Ziel wieder zu verschwinden. Der Vorgang blieb im Sieb von Sitcen hängen. War das irgendein ziviler Streich? Oder der Gruß eines staatlichen Akteurs?

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Rätselhafte Dinge ereigneten sich jüngst auch in Norwegen. Ein im Meer verlegtes Glasfaserkabel, das das Nato-Land mit einer arktischen Satellitenstation verbindet, wurde plötzlich durchtrennt. In den Tiefen der Barentssee geschieht so etwas nicht von selbst. Misstrauische Blicke fallen auf Norwegens Nachbarn im Osten: Russland macht sich schon seit einigen Jahren in der Arktis militärisch breit wie noch nie.

Das Sitcen ist angewiesen, Vermutungen und Fakten strikt zu trennen. Deshalb wurden diese beiden Puzzlestücke, die schwedischen Drohnen und das norwegische Kabel, erst mal als unentschieden wegsortiert. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg wünscht in seinem Hauptquartier keine Hektik.

Das Bündnis verzichtet, bislang jedenfalls, nach außen hin auf eine „show of force“ – anders als das Nicht-Nato-Mitglied Schweden.

Die Regierung in Stockholm ließ auf Gotland schon mal Panzer auffahren und Großraumtransporter landen, um den Russen Schwedens Gefechtsbereitschaft zu demonstrieren. Moskau hatte zum Entsetzen der Schweden zuvor drei große Landungsboote gleichzeitig durch die Ostsee schippern lassen.

„Leider häufen sich die schlechten Zeichen“

Was ist nur Drohgebärde, was bereits Vorbereitung zum Krieg? Die Übergänge sind da fließend: Panzer, die zu Übungszwecken rollen, können plötzlich auch über Grenzen vorstoßen, die eben noch beachtet wurden.

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Russlands Staatschef Wladimir Putin betont derzeit, es könne doch wohl niemand etwas dagegen haben, wenn sein Land auf seinem eigenen Territorium seine Truppen trainiere. Tatsächlich gab es in Russland in den vergangenen Jahrzehnten immer mal wieder Manöver von gigantischem Ausmaß. Im aktuellen Fall jedoch gewinnt die Nato von Tag zu Tag stärker den Eindruck, dass es nicht mehr um eine Übung geht, auch nicht um ein wie auch immer geartetes politisches Signal, sondern um die konkrete Vorbereitung eines Angriffskriegs.

Auch in den einzelnen Nato-Hauptstädten trübt sich derzeit die Stimmung ein. „Leider häufen sich die schlechten Zeichen“, seufzt in Berlin ein Militärexperte und Russland-Kenner, der wegen seiner Tätigkeit für die Bundeswehr namentlich nicht genannt werden will. In London zitierten am Mittwoch mehrere Zeitungen einen – ebenfalls namenlosen – Insider aus Militärkreisen mit der Einschätzung, ein „Albtraum“ nehme jetzt Gestalt an.

Das übelste Szenario für Kiew

Drei Puzzleteile aus der jüngsten Sammlung von Sitcen geben den Insidern zu denken:

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  • Obwohl der Aufmarsch östlich der Ukraine längst ein beispielloses Format erreicht hat, werden die russischen Truppen dort täglich weiter verstärkt – mittlerweile auch durch Transporte aus dem pazifischen fernen Osten Russlands. Sogar Reservisten werden inzwischen eingezogen. In Russland kursieren Videos, in denen sich wie zu Zeiten der Weltkriege Soldaten winkend von ihren Familien verabschieden und in Züge steigen.
  • Seit Anfang dieser Woche verlegt Russland – ebenfalls auf Zügen, die durch den Schnee rauschen – Truppen, Fahrzeuge, Panzer und Kurzstreckenraketen erstmals auch nach Weißrussland. Den Vorstoß ins einst auf Unabhängigkeit bedachte Nachbarland bewimpelte Moskau als gemeinsames Manöver mit der Militärführung in Minsk („United Resolve“). Zivilisten stellten Fotos ins Netz, die russische Truppen etwa in Gomel zeigen, im Südosten von Belarus. Die ukrainische Drei-Millionen-Einwohner-Metropole Kiew ist von hier noch 175 Kilometer Luftlinie entfernt.
  • Als Alarmsignal gilt auch die personelle Ausdünnung der russischen Botschaft in Kiew auf ein Mindestmaß. Laut „New York Times“ haben in den letzten Tagen 48 russische Diplomaten und Familienangehörige das Land verlassen.

Westlichen Beobachtern schlägt derzeit vor allem die russische Präsenz in Weißrussland auf den Magen. Denn für die Ukraine wird damit ein Worst-Case-Szenario wahrscheinlicher.

Putin nutzt ein alarmierendes Codewort

Anfangs meinten in der Nato viele, Russland wolle womöglich nur eine Landverbindung zur Krim schaffen. In diesem Fall hätten die Ukrainerinnen und Ukrainer unter anderem die Hafenstadt Mariupol aufgeben müssen. Den massiven russischen Panzerverbänden, die im nahen Rostow am Don zusammengezogen sind, könnte die Ukraine nur wenig entgegensetzen.

In einem weiteren, mittleren Szenario geht es um die mögliche Abtrennung der bereits an pro russische Rebellen gefallenen ukrainischen Regionen Luhansk und Donezk.

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Sollten russische Truppen aber zugleich auch von Norden vorstoßen, aus Weißrussland, wäre die maximale militärische Machtanwendung möglich: der Griff nach der kompletten Ukraine.

In Nato-Planspielen werden „Hilferufe“ von bedrohten Russen in der Region erwartet. Was sich in der Ostukraine abspiele, sehe schon jetzt aus „wie Völkermord“, orakelte Putin bereits im Dezember.

Die Russland-Kenner in der Nato zuckten zusammen: Völkermord. Soeben hatte Putin ein Codewort benutzt, mit dem sich so ziemlich alles rechtfertigen lässt. Besorgnis erregte im Westen auch eine Bemerkung des russischen Außenministers Sergej Lawrow, der über „Territorien“ sprach, „die zu Waisen wurden“, als die Sowjetunion zerbrach. Will Mütterchen Russland die armen Waisenkinder nun wieder zu sich holen?

Neue Waffen schaffen neue Fakten

Man könnte sich an die Stirn tippen angesichts dieser Moskauer Betrachtungsweisen – wenn nicht Putin in den vergangenen Jahren alles Geld und alle Energie seines Landes in die Rüstung gesteckt hätte. In Teilbereichen, bei den Überschallraketen etwa, hat Russland sich sogar einen technologischen Vorsprung erarbeitet. Große Teile der westlichen Öffentlichkeit betrachten Rüstungswettläufe als Ausdruck eines gestrigen Denkens, das endlich überwunden werden müsse. Dabei wird übersehen, dass neue Waffen auch neue Fakten schaffen können.

„Dies ist ein großer Tag in der Geschichte unseres Landes“: Test des Systems Tsirkon auf See. Russlands neue Raketen fliegen mit siebenfacher Schallgeschwindigkeit.

„Dies ist ein großer Tag in der Geschichte unseres Landes“: Test des Systems Tsirkon auf See. Russlands neue Raketen fliegen mit siebenfacher Schallgeschwindigkeit.

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Ausgerechnet am 24. Dezember verkündete Putin im Staatsfernsehen eine aus seiner Sicht frohe Botschaft: Soeben habe seine Marine die neue Überschallrakete Tsirkon erfolgreich getestet: „Dies ist ein großer Tag in der Geschichte unseres Landes.“ Putin rechnet die Tsirkon zu Russlands „unaufhaltsamen“ neuen Waffen.

Westliche Fachleute sagen, Russland werde die aktuelle militärische Stärke im Laufe der nächsten fünf Jahre wieder verlieren, schon durch verbesserte und schnellere Abwehrsysteme im Westen. Da geht es immer auch um Taktfrequenzen und Megabyte, irgendwann vielleicht gar um künstliche Intelligenz und Quantencomputer. Doch diese nur langfristig tröstlichen Aussichten für den Westen helfen in der Gegenwart nicht weiter. Im Gegenteil.

Sie komplettieren ein Bild, das aus Putins Sicht für einen Krieg sprechen könnte: nicht irgendwann, sondern jetzt.

Wer sollte Putin noch davon abhalten – und wie?

16 Jahre lang schien Angela Merkel von Berlin aus dem Russen mitunter wenigstens das Schlimmste ausreden zu können; sie ist nicht mehr auf der Bühne. In Frankreich ringt Emmanuel Macron um seine Wiederwahl. In London hat sich Boris Johnson wohl endgültig unmöglich gemacht. Und in Washington regiert ein Präsident, dessen jüngster öffentlicher Auftritt der Autorität des Westens mehr schadete als nützte.

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Biden verwirrt Freund und Feind

In der Nacht zu Donnerstag, bei einer live übertragenen Pressekonferenz im Weißen Haus, äußerte sich der 78-Jährige zum Thema Ukraine mit beklemmender politischer und sprachlicher Unklarheit. So sagte Biden voraus, nach seiner Einschätzung werde Putin wohl „reingehen“. Sodann spekulierte er über ein mögliches „geringfügiges Eindringen“ („minor incursion“) – bei dem es dann wohl Debatten unter den westlichen Alliierten über die genaue Antwort geben werde.

Geringfügiges Eindringen? Diese Vokabel ist neu – und sorgt in der Ukraine für Entsetzen. Prompt zitierte der amerikanische Fernsehsender CNN einen ungenannten ukrainischen Regierungsvertreter mit den Worten, in Kiew sei man schockiert: Biden habe Putin jetzt praktisch „grünes Licht gegeben“.

Berichte wie diese flimmern immer auch über die Schirme im Sitcen der Nato in Brüssel. Bittere Ironie der Geschichte: In der Nacht zu Donnerstag blickten Teams, die ständig auf der Suche sind nach Gefahren für die freie Welt, auf einen schwach wirkenden amerikanischen Präsidenten.

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