Heißer Herbst 2022: Kommt er – oder kommt er nicht?
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Bei einer Dialogveranstaltung in Neuruppin Mitte August wurde Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ausgebuht.
© Quelle: Carsten Koall/dpa
Liebe Leserin, lieber Leser,
wer wissen will, was ein „heißer Herbst“ ist, der kann im Duden nachschauen. Dort ist zu lesen, dies sei „eine gefährliche, durch Konflikte gekennzeichnete Zeit nach den ereignislosen Sommermonaten“. Nun weiß niemand, wie gefährlich der kommende Herbst infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine sowie steigender Energiepreise tatsächlich wird und vor allem: für wen? Doch dass Konflikte ins Haus stehen, das lässt sich schwer bestreiten. Sie sind ja längst da. Und auch das ist gewiss: Der „heiße Herbst“ ist eine seit Jahrzehnten bemühte Metapher.
Im September 1960 überschrieb das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ einen Text mit der Zeile „Heißer Herbst“. Darin ging es um Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard (CDU), der mit einer durchschnittlichen Inflationsrate von mindestens 5 Prozent rechnete. Die Regierenden grübelten, was sich dagegen unternehmen ließe.
Zehn Jahre später wurde der Begriff verwendet, um die anstehenden Tarifauseinandersetzungen in der Metallindustrie zu kennzeichnen. Da waren die beiden Wörter längst von einer Zustandsbeschreibung zu einer Drohung geworden. Gewerkschafter oder andere Interessengruppen stellten einen „heißen Herbst“ in Aussicht für den Fall, dass Arbeitgeber und Regierung dieses täten oder anderes unterließen. Meist wollten sie höhere Löhne und Gehälter.
Bundeskanzler Scholz: Wollen gemeinsam durch diese schwierige Zeit kommen
Das von den Spitzen der Koalition aus SPD, Grünen und FDP vereinbarte dritte Entlastungspaket soll Maßnahmen im Volumen von über 65 Milliarden Euro umfassen.
© Quelle: Reuters
Der „heiße Herbst“ 1983 fiel insofern aus dem Rahmen. Seinerzeit stritt die Republik, ob die Nato mit der Stationierung von Pershing‑2-Raketen auf die Stationierung von SS‑20-Raketen des Warschauer Pakts reagieren sollte. Hunderttausende lehnten genau das ab und gingen auf die Straße.
Schließlich gibt es noch die Beschreibung „Deutscher Herbst“ für jene Monate 1977, in denen die Rote-Armee-Fraktion (RAF) reihenweise Menschen umbrachte oder entführte. Dieses mörderische Treiben als „heißen Herbst“ zu etikettieren, wäre der Sache nicht gerecht geworden. Ohnehin hat die ritualisierte Verwendung der Wortschöpfung nicht wirklich gutgetan; denn oft blieben die Taten hinter den Worten zurück.
Für 2022 trifft der Terminus „heißer Herbst“ bestenfalls bedingt zu. Gesellschaftliche Auseinandersetzungen wegen der galoppierenden Inflation könnten sich bis ins Frühjahr hinziehen. Nicht umsonst war ja bereits von einem „Wutwinter“ oder bei Außenministerin Annalena Baerbock von „Volksaufständen“ die Rede. Überdies speist sich der anziehende Protest nicht allein aus der Sorge, dass vielen Bürgerinnen und Bürgern das Geld ausgehen könnte, sondern rührt ebenso daher, dass Herbst und Winter eben nicht heiß werden, sondern wegen ausbleibender Gaslieferungen bitterkalt.
Überhaupt hat sich das öffentliche Klima unter anderem durch das Aufkommen von Social Media so verschärft, dass es in allen Jahreszeiten heiß her geht. Das spiegelt sich auf den Straßen wider. So wurde Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck zuletzt in Bayreuth als „Kriegstreiber“ und „Volksverräter“ tituliert – Ende Juli, also im Hochsommer. Kanzler Olaf Scholz musste sich in Neuruppin ebenfalls lautstarker Attacken erwehren. Altkanzlerin Angela Merkel ging es während der Flüchtlingskrise regelmäßig so. Von den Corona-Protesten ganz zu schweigen.
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Während des Bürgerdialogs von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck in Bayreuth hielten Demonstranten und Demonstrantinnen hinter einer Absperrung Plakate mit der Aufschrift „Ja zum Frieden“, „Verräter“ oder „Wir demonstrieren gegen diese Klimapolitik! Mach mit“ hoch.
© Quelle: Soeren Stache/dpa
Der Soziologe Dieter Rucht, der sich seit Jahrzehnten mit sozialen Bewegungen beschäftigt, stellt fest, manchmal sei ein „heißer Herbst“ prophezeit worden und nicht eingetreten – so im Zuge der Finanzkrise 2008/2009. Umgekehrt habe es im September 1969 plötzlich große Streiks aus heiterem Himmel gegeben, die niemand vorhergesehen hatte. „Es kann jetzt so kommen, wie es manch düstere Prognosen sagen“, sagt er. „Es kann aber auch anders kommen. Ich weiß es nicht.“
Bittere Wahrheit
Früher waren Dick und Doof zwei Personen.
Till Backhaus
SPD-Landwirtschaftsminister von Mecklenburg-Vorpommern, über Grünen-Chefin Ricarda Lang
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Till Backhaus (SPD) ist der Landwirtschaftsminister von Mecklenburg-Vorpommern.
© Quelle: Jens Büttner/dpa-Zentralbild/dp
Eine Variante der Frauenfeindlichkeit ist seit jeher die Abwertung des Äußeren. Die Vorsitzende der Grünen, Ricarda Lang, weiß das aus Erfahrung. Mecklenburg-Vorpommerns Landwirtschaftsminister Till Backhaus (SPD) hat sich jetzt dort eingereiht. Allerdings ist ihm die Entschuldigung mindestens ebenso sehr missraten wie die Beleidigung. „In meiner frei gehaltenen Rede habe ich Formulierungen genutzt, die möglicherweise missverstanden werden konnten“, sagte Backhaus, nachdem der öffentliche Zorn angeschwollen war. „Wenn sich Personen wegen meiner Äußerungen verletzt fühlen, bitte ich dafür um Entschuldigung und werde Äußerungen dieser Art nicht wiederholen.“
Tatsächlich konnte die Äußerung nicht bloß „möglicherweise“ missverstanden werden, weil sie offenkundig genau so gemeint war, wie sie gesagt worden ist. Zudem liegt auf der Hand, dass sich jemand, über den so geredet wird, verletzt fühlt. Und schließlich ist es kein Akt der Großzügigkeit, derlei nicht zu wiederholen. Es versteht sich einfach von selbst.
Wie das Ausland auf die Lage schaut
Zum dritten Entlastungspaket der Ampelkoalition meint die „Neue Zürcher Zeitung“ aus der Schweiz:
„In dem Bestreben, möglichst niemanden zu vergessen und eskalierende Bürgerproteste zu vermeiden, hat die Ampelkoalition eine Vielzahl von Maßnahmen vereinbart. Darunter sind gezielte Schritte wie die Ausweitung des Wohngeldes für einkommensschwache Haushalte und Selbstverständlichkeiten wie der Abbau der kalten Progression. Aber auch dieses Paket neigt zum Gießkannenprinzip.
So sollen alle Rentner und alle Studierenden Einmalzahlungen in Höhe von 300 beziehungsweise 200 Euro erhalten. Auch wenn die Zahlung an die Rentner einkommenssteuerpflichtig ist und deshalb Bezüger geringer Renten netto mehr erhalten, sind beide Maßnahmen wenig zielgenau. Schließlich gibt es auch begüterte Rentner und Studenten aus gutbetuchten Familien, die keine Almosen brauchen.“
Zum selben Thema schreibt der Schweizer „Tages-Anzeiger“:
„Die wichtigste, zugleich heikelste Maßnahme des Pakets besteht in einem beherzten Eingriff in den Strommarkt. Die aufgrund des Krieges in der Ukraine vervielfachten Gaspreise haben wegen eines eigentümlichen Mechanismus dazu geführt, dass auch die Strompreise explodiert sind. Erzeuger, die mit Wind, Sonne oder Kohle billig Strom produzieren, machen derzeit ohne eigenes Zutun Milliardengewinne. Diese Mittel in ‚zweistelliger Milliardenhöhe‘ (Bundesfinanzminister und FDP-Chef Christian Lindner) will die Regierung nun abschöpfen und damit den ‚Grundbedarf‘ privater Haushalte und kleiner Unternehmen künstlich verbilligen.
Weil Lindner eine ‚Übergewinnsteuer‘, wie sie Italien oder Großbritannien eingeführt haben, aus steuerpolitischen und verfassungsrechtlichen Gründen unbedingt vermeiden wollte, musste die Ampelkoalition ein anderes Instrument finden: Die Erlösobergrenze für Stromerzeuger und der ‚Preisdeckel‘ für private Haushalte sollen nun auf dem Energie-, nicht auf dem Steuerrecht basieren. Spanien und Portugal haben solche Preisbremsen bereits eingeführt, die EU-Kommission denkt in dieselbe Richtung.“
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