Wahlkampf in Brasilien: Die große Angst vor dem Putschversuch
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Anhänger vom aktuellen Präsidenten Bolsonaro verteilen Propaganda auf der Straße. Die Präsidentschaftswahlen finden im südamerikanischen Land am 2. Oktober statt.
© Quelle: Myke Sena/dpa
Am Ende werfen die großen Rivalen sogar die brasilianischen Superstars in die Waagschale: Während der linksgerichtete Luiz Inácio Lula da Silva (76) auf die Unterstützung von Sängerin Anitta (63 Millionen Follower) bauen kann, überraschte Fußballer Neymar (179 Millionen Follower) unmittelbar vor den Wahlen mit seiner Unterstützungserklärung für den rechtspopulistischen Amtsinhaber Jair Bolsonaro. Ob das noch einmal die Kräfteverhältnisse verändern wird, bleibt abzuwarten.
Eigentlich sagen die Umfragen einen Wahlsieg Lulas voraus, einige Institute halten sogar einen Erfolg des ehemaligen Präsidenten (2003–2011) im ersten Wahlgang für möglich. Als wahrscheinlicher aber gilt ein Sieg Lulas in einer Stichwahl Ende Oktober. Ganz entscheidend ist im ersten Durchgang, ob die Wähler der gemäßigten Mitte-Links und Mitte-Rechts-Kandidaten Ciro Gomes und Simone Tebet, die zusammen auf etwa 14 Prozent der Stimmen kommen, noch an ihren Kandidaten festhalten oder schon jetzt ins Lager der Favoriten überwechseln. Aus dem Lula-Lager kam deshalb ein Appell an die Gomes-Wähler, ihre Stimme im ersten Durchgang nicht zu „verschenken“, das sorgte für scharfe Kritik im Lager von Ciro Gomes.
Im Lula-Lager geht die Angst um
Zwischen Umfragen und Wahrnehmungen klafft derzeit vor allem beim Präsidenten eine große Lücke: Geht es nach dem rechtspopulistischen Amtsinhaber Jair Bolsonaro, dann ist eine Niederlage im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen am Sonntag in Brasilien ohnehin ausgeschlossen. Bolsonaro sieht sich auf der Siegerstraße. Dass er bewusst das Narrativ einer Wahlmanipulation schürt, sorgt für Nervosität und Furcht. Die Angst, es könnte sich ein ähnliches Szenario wiederholen wie in den USA am 6. Januar 2021, als Wahlverlierer Donald Trump indirekt zum Sturm auf das Parlament aufforderte und eine gewaltbereite aufgeputschte Masse das Kapitol stürmte, geht im Lula-Lager um.
Bolsonaro spielt mit dieser Angst. Mal sagt er, im Falle einer Niederlage ziehe er sich aus der Politik zurück, mal suggeriert er, die elektronischen Wahlurnen seien manipulierbar und fehlerhaft. Wie bereits bei seiner Aussage, er hätte die Wahlen 2018 bereits im ersten Durchgang gewonnen, kann er keine Beweise für seine Behauptungen vorlegen. Stattdessen forderte er eine parallele Auszählung der Stimmen durch die Militärs. Seit Wochen liegt er wegen seiner umstrittenen Wahlkampfführung im Clinch mit der Wahlbehörde und dem Obersten Gerichtshof, was er wiederum als Einmischung und Manipulation interpretiert.
Es würden „betrügerische und beleidigende Informationen gegen den demokratischen Rechtsstaat und die Justiz, insbesondere die Wahljustiz“ verbreitet, um den Wahlprozesses zu diskreditieren und zu stören, hieß es dazu vor wenigen Tagen vom Obersten Wahlgericht TSE, nachdem in den letzten Tagen vor der Wahl erneut Fake News aus Kreisen des Bolsonaro-Lagers über die Fehleranfälligkeit der Wahlurnen verbreitet wurden. Aus den USA kommen wegen des Trump-Traumas deswegen Forderungen, die Biden-Administration solle das Ergebnis sofort anerkennen. EU-Parlamentarier bringen Sanktionen gegen Brasilien ins Spiel, falls Bolsonaro eine Niederlage nicht anerkennen werde.
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„Hassreden und Belästigungen haben vielen Brasilianern Angst gemacht, ihre politische Meinung zu äußern“
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch appelliert unterdessen an die Institutionen: „Wahl- und Justizbehörden, Polizeikräfte und andere Behörden sollten ihr Möglichstes tun, um die Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu schützen und sicherzustellen, dass die Brasilianer sicher wählen können“, sagt die Amerika-Direktorin Juanita Goebertus. „Hassreden und Belästigungen online und offline sowie schwere politische Gewalt haben vielen Brasilianern Angst gemacht, ihre politische Meinung zu äußern und ihre politischen Rechte auszuüben.“ Drei Anhänger des Präsidentschaftskandidaten Luiz Inácio Lula da Silva seien mutmaßlich wegen ihrer politischen Ämter getötet worden, einer im Juli und zwei im September, Präsident Jair Bolsonaro wurde im Wahlkampf 2018 Opfer eines Messerattentats, heißt es in einer Erklärung von Human Rights Watch zu den Wahlen am Sonntag.
Einhergehend mit der Furcht vor der Eskalation des Klimas vor den Wahlen ist in Brasilien auch eine Debatte über den Waffenbesitz entbrannt. Das Bolsonaro-Lager hatte sich für eine Liberalisierung des Waffengesetzes eingesetzt, dadurch ist der private Waffenbesitz in Brasilien stark angestiegen. Auch das befeuert die Furcht, dass sich radikale Bolsonaro-Anhänger im Falle einer Niederlage zusammentun und einen ähnlichen Sturm wie in Washington im Januar 2021 planen könnten. Allerdings ist Brasilia weit weg von den bevölkerungsreichen Metropolen São Paulo und Rio de Janeiro oder dem Nordosten des Landes. Die Militärs haben bereits klargemacht, dass sie das Wahlergebnis akzeptieren werden. Tatsächlich ist die Zahl der Morde in Brasilien in der Amtszeit Bolsonaros deutlich gesunken. Laut einer Statistik der Mediengruppe Globo, der Universität von São Paulo und dem „Forum für öffentliche Sicherheit“ verzeichnete das Jahr 2021 mit 41.100 Morden die niedrigste Mordrate seit dem Jahr 2007.