Waffenruhe am Donnerstagmorgen in Sumy angekündigt – Selenskyj greift Russland für Luftangriff auf Entbindungsklinik an
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Vertriebene Ukrainer fahren am Samstag vom Bahnhof Lwiw in der Westukraine mit dem Bus nach Polen. Auch in Sumy sollen sich heute wieder Menschen in Sicherheit bringen können.
© Quelle: Bernat Armangue/AP/dpa
Kiew. Für Donnerstag sind einem ukrainischen Behördenvertreter zufolge drei Fluchtkorridore zur Evakuierung von Menschen aus der Region Sumy im Nordosten des Landes geplant. In einer Videobotschaft griff der ukrainische Präsident Wolodymyr Selinskyj derweil Russland für seinen Angriff auf eine Geburtsklinik in Mariupol scharf an: „Was für ein Land ist das, die Russische Föderation, die Angst hat vor Krankenhäusern, Angst hat vor Entbindungskliniken und sie zerstört?“
Die Fluchtrouten führten aus den Städten Trostjanez, Krasnopillja und Sumy jeweils in Richtung der zentralukrainischen Stadt Poltawa, teilte der Chef der Gebietsverwaltung von Sumy, Dmytro Schywyzkyj, in der Nacht zu Donnerstag im Nachrichtenkanal Telegram mit. Der Beginn der Waffenruhe für die betreffenden Routen sei für 8 Uhr MEZ geplant.
Schywyzkij zufolge habe man noch andere Orte der Region für Fluchtkorridore eingereicht, diese allerdings noch nicht bestätigt bekommen. Fluchtkorridore sind Routen, über die sich Zivilisten unbehelligt in Sicherheit bringen können.
Mittwoch: 50.000 Menschen fliehen aus Sumy
Die Großstadt Sumy ist laut Angaben des britischen Verteidigungsministeriums eingeschlossen. Nach Angaben von Schywyzkyj sind am Dienstag und Mittwoch fast 50.000 Menschen aus Sumy hinausgekommen. Am Mittwoch alleine hätten rund 10.000 Privatautos und 85 Busse die Stadt verlassen, insgesamt rund 44.000 Menschen.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte am Mittwochabend erklärt, für Donnerstag seien sechs Fluchtkorridore geplant. Es war zunächst unklar, ob die drei in der Region Sumy zu diesen sechs hinzukommen oder diese schon eingeschlossen sind. Bisher ist die Bilanz für die humanitären Korridore durchwachsen. Vor allem um die Evakuierung der südukrainischen Hafenstadt Mariupol wird seit Tagen gerungen. Mehrere Anläufe seit Sonntag waren gescheitert, vereinbarte Feuerpausen hatten nicht gehalten.
Angriff auf Geburtsklinik in Mariupol
Ein russischer Luftangriff auf eine Entbindungsklinik in der belagerten ukrainischen Stadt Mariupol löste weltweit Entrüstung aus. UN-Generalsekretär António Guterres sprach von einer „entsetzlichen“ Tat und forderte, die sinnlose Gewalt müsse aufhören. US-Außenminister Antony Blinken warf Russland gewissenloses Handeln vor. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte in einer Videobotschaft am späten Mittwochabend: „Was für ein Land ist das, die Russische Föderation, die Angst hat vor Krankenhäusern, Angst hat vor Entbindungskliniken und sie zerstört?“
Reporter der Nachrichtenagentur AP in Mariupol erlebten den Angriff auf die Klinik mit, ein AP-Fotograf dokumentierte die Zerstörung. Noch in einer Entfernung von mehr als einem Kilometer bebte die Erde, als das Gebäude mehrmals getroffen wurde. Fenster zersprangen, ein großer Teil der vorderen Fassade eines Gebäudes wurde weggerissen. Polizisten und Soldaten brachten Opfer in Sicherheit. Eine hochschwangere und blutende Frau wurde auf einer Trage weggebracht. Im Hof der Klinikanlage brannten verbeulte Autos. Ein bei den Explosionen entstandener Krater war mindestens zwei Stockwerke tief.
„Heute hat Russland ein gewaltiges Verbrechen verübt“, sagte ein Polizeifunktionär aus Mariupol, Wolodymyr Nikulin, in den Trümmern des Gebäudes. „Es ist ein Kriegsverbrechen ohne Rechtfertigung.“
Nach ukrainischen Angaben wurden 17 Menschen verletzt, darunter mehrere schwangere Frauen. Selenskyj schrieb bei Twitter, unter den Trümmern befänden sich Kinder. Der Angriff sei eine Gräueltat. Als Reaktion forderte er in seiner täglichen Videobotschaft noch härtere Sanktionen des Westens. „Es findet ein Völkermord an Ukrainern statt“, sagte er.
WHO: Mindestens 18 Kliniken im Krieg angegriffen
Nach Zählung der Weltgesundheitsorganisation sind seit Beginn des Kriegs in der Ukraine mindestens 18 Kliniken, andere Gesundheitseinrichtungen oder Krankenwagen angegriffen worden. Mindestens zehn Menschen seien bei diesen Attacken getötet worden, teilte die WHO mit. Unklar war zunächst, ob in die Zahl bereits der Beschuss der Klinik in Mariupol eingerechnet war. Auch der Bürgermeister der ukrainischen Stadt Schytomyr westlich von Kiew berichtete auf Facebook, dass dort am Mittwochabend zwei Krankenhäuser getroffen worden seien, darunter eine Kinderklinik. Die Zahl der Opfer werde noch ermittelt. Seine Angaben konnten unabhängig nicht überprüft werden.
Die US-Regierung warnte davor, dass Russland auch chemische oder biologische Waffen einsetzen könnte. Moskau verbreite selbst Falschinformationen über angebliche Waffenlabors in der Ukraine, um so möglicherweise den Boden für solche Angriffe zu bereiten, sagte die Sprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki, am Mittwoch.
Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, hatte zuvor behauptet, die Ukraine betreibe mit Unterstützung der USA Labors für chemische und biologische Waffen. Beweise dafür legte sie nicht vor. Am Mittwoch legte der stellvertretende russische UN-Botschafter Dmitri Tschumakow nach und forderte westliche Medien auf, über die geheimen Labors zu berichten.
Solche Vorwürfe seien „absurd“, sagte Psaki. Der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, John Kriby, nannte sie einen „Haufen Quatsch“. UN-Sprecher Stéphane Dujarric sagte auf Nachfrage eines russischen Journalisten, er habe keine Informationen, die die russischen Vorwürfen belegen würden.
Invasion langsamer als erwartet
„Jetzt da Russland diese falschen Behauptungen aufgestellt hat und China sich scheinbar hinter diese Propaganda gestellt hat, sollten wir alle die Augen offen halten, ob Russland möglicherweise chemische oder biologische Waffen in der Ukraine einsetzt“, sagte Psaki. Russland könnte einen Vorwand für eine weitere Eskalation des Krieges schaffen wollen.
Denn in den ersten zwei Wochen seit Beginn der Invasion sind die russischen Truppen weniger rasch vorangekommen als erwartet. Zwar würden mehrere Städte heftig beschossen, aber in den vergangenen 24 Stunden habe es wenig Veränderungen an den Positionen der russischen Truppen gegeben, verlautete am Mittwoch (Ortszeit) aus US-Militärkreisen. Einzig in Charkiw und in Mykolajiw seien russische Soldaten vorgerückt.
RND/dpa/AP