Wachsende Radikalisierung einer nervösen Gesellschaft
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Hessen, Wiesbaden: Ein Demonstrant zeigt mit seinen Händen ein Herz an, während er in einer Gruppe von rund 300 Menschen steht, die sich nach Ende einer Kundgebung der "Querdenken"-Bewegung entgegen der Auflagen in die Stadt bewegen wollten und dann von der Polizei eingekesselt wurden.
© Quelle: Frank Rumpenhorst/dpa
Was zu erwarten war, trat am Dienstag ein: Bundesinnenminister Horst Seehofer verkündete erneut einen Anstieg der politisch motivierten Kriminalität. Dabei diagnostizierte der CSU-Politiker „klare Verrohungstendenzen“ im Land.
Er hat recht. Tatsächlich findet die Verrohung auf zwei Ebenen statt. Das stellt die Sicherheitsbehörden vor wachsende Probleme.
Auf der einen Seite sieht der Extremismus aus wie immer: Es gibt ihn als Islamismus, Rechtsextremismus und Linksextremismus. Während die Zahl der islamistischen Gefährder aufgrund des Niedergangs des „Islamischen Staates“ zuletzt schwand, verzeichnet die Polizei bei links- und rechtsextremistischer Gewalt enorme Zuwächse.
Dabei – und das ist der große Unterschied – schrecken Rechtsextremisten auch vor Mord nicht zurück. Die zunächst als Amoklauf apostrophierte Mordserie am Olympia-Einkaufszentrum in München belegt dies ebenso eindrücklich wie die tödlichen Schüsse auf Kassels Regierungspräsidenten Walter Lübcke sowie die Attentate von Halle und Hanau.
Radikalisierung dürfte zunehmen
Neu ist, dass parallel zur Corona-Pandemie binnen eines Jahres eine extremistische Bewegung aus dem Boden schoss: die „Querdenker“ – die überwiegend rechtsextremistisch orientiert sind.
Hier wiederholt sich ein Szenario, das wir von der Flüchtlingskrise kennen. Eine Situation, die von Teilen der Bevölkerung als bedrohlich empfunden wird, löst bisweilen irrationale Ängste und Polarisierungen aus, die sich wiederum teilweise in Gewalt entladen.
Bereits vor der Flüchtlingskrise gab es die Finanzkrise mit ähnlichem Radikalisierungspotenzial. Parallel zu alldem entwickelt sich die Megakrise schlechthin: die Klimakrise. Ja, viel spricht dafür, dass das Zeitalter der Radikalisierung gerade erst begonnen hat.
Die treibenden Kräfte ähneln sich: ein mindestens als solcher empfundener Mangel an Überschaubarkeit und Kontrolle wie auch ein Mangel an Hoffnung, dass sich die Kontrolle rasch wiederherstellen lässt.
Wir befinden uns, zusätzlich getrieben durch die Digitalisierung, in einer hochnervösen und vielfach überforderten Gesellschaft, deren Mitglieder oft nur noch auf sich selbst schauen und in der jede Nichtigkeit zur Explosion führen kann. Die Nervosität bildet sich nicht zuletzt in den digitalen Netzwerken ab; die dort entstehenden Aggressionen schwappen ins analoge Leben über.
Schon der Konsum des „Tatort“ mit Jan Josef Liefers kann mittlerweile in die Mühlen der Polarisierung geraten. Früher ergab sich die Radikalisierung aus den Konflikten. Heute, so scheint es, liegt die Radikalisierung in der Luft und haftet sich beliebigen Konflikten an. Dessen lässt sich schwer Herr werden.
Herkömmliche Mittel versagen
Gewiss, die bekannten Neonazis und Steinewerfer vom 1. Mai lassen sich mit den üblichen Instrumenten der Sicherheitsbehörden bearbeiten. Man kann sie in Dateien aufnehmen, überwachen und bei Bedarf einsperren.
Die eigentliche Herausforderung besteht darin, dass die Übergänge vom scheinbar Normalen zum manifest Radikalen fließend geworden sind. Bei „Querdenker“-Demos findet man führende Köpfe der neuen Rechten ebenso wie Impfgegner, die John-Lennon-Lieder singen. Dies ist irritierend real.
Derlei lässt sich mit dem Instrumentenkasten des Staates bloß noch bedingt in den Griff bekommen. Ziel müsste es sein, die Übergänge zwischen Normalität und Radikalität zu kappen, indem man die Nervosität der Gesellschaft selbst reduziert. Das ist eine politische Aufgabe. Und sie ist gigantisch.