Viele Fragen bleiben ungeklärt – zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU
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Das Trio Beate Zschäpe (v. l.), Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos bildete die Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) die für eine Serie von zehn Morden, Banküberfällen und Sprengstoffanschlägen verantwortlich gemacht wurde.
© Quelle: Frank Doebert/Ostthueringer Zeit
Berlin. Im Februar 2012, drei Monate nach der Selbstenttarnung des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU), gab Angela Merkel ein Versprechen ab: „Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen“, sagte sie vor den Hinterbliebenen der Mordopfer. „Sie hat ihr Versprechen gebrochen“, sagt Seda Başay-Yıldız heute. Sie hat die Familie des NSU-Opfers Enver Şimşek als Nebenklage-Anwältin im Münchener NSU-Prozess vertreten.
Vom „gefährdeten Staatswohl“
Auch nach der internen Aufarbeitung bei Polizei und Verfassungsschutz, nach dem NSU-Prozess in München und Untersuchungsausschüssen im Bundestag und mehreren Landtagen sind viele Fragen offen. „Wir konnten so viele Punkte nicht aufklären, weil wir die Akten nicht bekamen oder weil Zeugen, besonders V-Leute, keine umfassende Aussagegenehmigung hatten“, beklagt Başay-Yıldız im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Stets sei das Geheimhaltungsinteresse des Staates angeführt worden. „Zu Recht fragen sich die Familien: Was steht denn in diesen gesperrten Akten, was das Staatswohl gefährden könnte?“, sagt die Frankfurter Rechtsanwältin.
Eine der vielen offenen Fragen betrifft den Mord an İsmail Yaşar am 9. Juni 2005. Fünf Schüsse aus der Česká-Pistole der NSU-Mörder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos trafen Yaşar, der in seinem Imbiss in Nürnberg arbeitete, und töteten ihn. Wie die Rechtsterroristen ausgerechnet auf Yaşars Imbiss kamen, ist wie bei mehreren der NSU-Morde bis heute nicht geklärt.
Ermittler gingen Hinweisen nicht nach
Doch es gibt einen Ansatz: Einige Monate vor der Tat hatte Ismail Yaşar eine Auseinandersetzung mit dem Nürnberger Neonazi Jürgen F. Der Mann hatte eine Statue vor dem Imbiss zerstört, wurde daraufhin zu einer kurzen Freiheitsstrafe verurteilt. Neun Jahre zuvor hatte F. gemeinsam mit Uwe Mundlos an einer rechtsextremen Veranstaltung in Nürnberg teilgenommen.
Kannten sie sich etwa? Könnte Jürgen F. Ismail Yaşar zur Zielscheibe gemacht haben? Beantworten lassen sich diese Fragen nicht – weil die Behörden ihnen nicht nachgegangen sind. „Das BKA stellte fest, dass ein Zusammenhang nicht erkennbar sei. Aber Jürgen F. wurde nicht einmal befragt“, erklärt die Anwältin Başay-Yıldız.
Auch im Fall des NSU-Mordes an Halit Yozgat am 6. April 2006 in Kassel bleiben bis heute wichtige Fragen offen, weil Behörden nur widerwillig zu ihrer Klärung beitrugen. Die wichtigste: Warum befand sich während des Mordes der Verfassungsschutzmitarbeiter und V-Mann-Führer Andreas Temme am Tatort?
Dass diese und viele andere Fragen noch beantwortet werden, erwartet Başay-Yıldız nicht. „Wenn ein Prozess, der 438 Tage gedauert hat, mit so einer Öffentlichkeit nicht zur Aufklärung dieses Sachverhaltes beigetragen hat, dann wüsste ich jetzt nicht, was da jetzt noch kommen sollte“, sagt sie.
Dadurch sei viel Vertrauen verloren gegangen – „bei mir, bei meinen Mandanten, ich würde sagen, bei allen Deutschen mit Migrationsgeschichte, die sich mit diesem Thema beschäftigt haben“.
Hat der Staat gelernt?
Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) erklärt, der Staat habe aus den Fehlern der NSU-Ermittlungen gelernt, aus dem langen Nichtbeachten der Hinweise auf rechtsextreme Täter. „Daraus haben wir Konsequenzen gezogen, die wichtig und überfällig waren“, sagt sie dem RND. „Wir haben rassistische und andere menschenverachtende Motive im Strafgesetzbuch ausdrücklich als Motive benannt, die zu schärferen Strafen führen.“ Die Fehler von damals dürften nie wieder passieren.
„Damit sich etwas ändert, muss man erst mal einsehen, dass man Fehler gemacht hat“, sagt die Anwältin Başay-Yıldız. Diese Aufarbeitung habe bei der Polizei aber nie stattgefunden. „Die vielen rassistischen Chatgruppen in der Polizei haben gezeigt, dass Rassismus anscheinend als normal aufgefasst wird“, sagt sie. „Dazu kommen die Fälle von Extremismus in der Bundeswehr und in den Geheimdiensten.“
In den vergangenen Jahren geriet die Anwältin auch selbst ins Visier von Rechtsextremen, wurde vom selbst ernannten „NSU 2.0″ bedroht – mit persönlichen Daten, die aus Frankfurter Polizeicomputern abgerufen worden waren. Auch in ihrem eigenen Fall wirft Başay-Yıldız den Ermittlern Versagen vor. „Frankfurter Kollegen haben gegen Kollegen ermittelt. Das ist unprofessionell.“ Auch hier erwartet die Anwältin keine weitere Aufklärung.
Fehlende Fehlerkultur, mangelnder Aufklärungswille, Rechtsextremismusskandale in Sicherheitsbehörden. Başay-Yıldız bereitet das große Sorge. „Unser Staat kann sich das nicht leisten“, sagt sie. „Wir sind alle vor dem Gesetz gleich, und wir haben alle denselben Anspruch, geschützt zu werden.“