Viel Schmerz und wenig Gewissheit in Würzburg: „Das trifft eine Stadt mitten ins Herz“
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Bayern, Würzburg: Blumen und Kerzen vor einem geschlossenen und abgesperrten Kaufhaus in der Innenstadt. In Würzburg hat ein Mann am Vortag wahllos Menschen mit einem Messer attackiert.
© Quelle: Karl-Josef Hildenbrand/dpa
Würzburg. Es geschah am helllichten Tag, an einem der belebtesten Plätze der Stadt, es hätte jeden treffen können – das ist es vor allem, was die Menschen in Würzburg am Tag danach umtreibt.
Die Woolworth-Filiale am Barbarossaplatz, in der tags zuvor drei Menschen starben, ist geschlossen und mit rot-weißem Band abgesperrt, Polizisten wachen davor, und davor legen an diesem Vormittag immer mehr Menschen Blumen ab, zünden Kerzen an.
Eine Frau legt weitere Blumen dazu, hält inne, sie ist mit ihrem Sohn hier, Ulrike Steinmetz heißt sie, Zahnärztin von Beruf. „Ich war gestern selbst kurz zuvor hier“, sagt sie, fast ungläubig wirkt sie dabei. Der Täter tötete wahllos. Wäre sie eine halbe Stunde später hier gewesen, vielleicht wäre sie dann dem Mann in die Arme gelaufen. „Es ist so schwer zu begreifen“, sagt sie. Sie aber wolle deshalb jetzt „ein Zeichen setzen“. Ein Zeichen der Trauer.
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„Ein Zeichen setzen“: Ulrike und Samuel Steinmetz.
© Quelle: Thorsten Fuchs
Es ist in diesem Moment noch keine 24 Stunden her, dass ein 24-jähriger, aus Somalia stammender Mann in der Haushaltsabteilung des Marktes ein Messer nahm und auf Menschen einzustechen begann. Drei Frauen starben hier. Dann stürmte er, das Messer in der Hand, hinaus, auf den Platz in der Würzburger Innenstadt.
Was gegen 17 Uhr auf diesem Platz geschieht, zeigen Dutzende Handyvideos, die kurz danach im Netz kursieren. Sie zeigen den Mann, barfuß, mit Schutzmaske, das Messer in der Hand, wie er über den Platz geht. Zu denen, die diese Szene selbst beobachten, gehört Phan Thi, eine junge Frau mit vietnamesischen Wurzeln, die in ihrem Restaurant Best Friends gerade ihre Schicht begonnen hat.
„Wir hatten Angst“
Auf einmal, sagt sie, seien die Gäste von der Terrasse draußen hereingestürmt. Zusammen mit ihnen habe sie sich dann im Restaurant eingeschlossen. Was sie dann von drinnen beobachtete, lässt sie auch am Tag danach noch wie benommen wirken: Der Mann geht direkt vor ihrem Fenster vorbei, macht wieder kehrt, geht zurück zum Platz, geht in eine Sparkassenfiliale, sticht auf weitere Menschen ein. Kommt heraus, jetzt verfolgt von anderen, die ihn mit Stühlen und allem, was sie greifen können, verfolgen und in Schach zu halten versuchen.
„Meine Füße waren wie gelähmt“, sagt Phan Thi jetzt. „Wir hatten riesige Angst.“
Sie sieht, wie der Mann in eine Gasse geht, wo ihn die Polizei schließlich mit einem Schuss ins Bein stoppt und überwältigt. Aber das sieht sie in diesem Moment nicht. Für sie und die Gäste endet der Albtraum erst, als die Polizei eine halbe Stunde später vor ihrer Tür steht und sie gleichsam befreit.
Phan Thi ist vor zweieinhalb Jahren aus Berlin nach Würzburg gekommen, um dieses Restaurant zu eröffnen. „Studentenstadt, nicht zu groß: Ich dachte, es sei hier ruhiger“, sagt sie.
Fünf Jahre nach dem Angriff in einem Zug
Aber Verbrechen sind nicht berechenbar, sie richten sich nicht nach der Größe einer Stadt, nicht danach, dass die Stadt und ihre Menschen an diesen Sommertagen nach den Monaten des Lockdowns gerade erst wieder ihre Normalität zurückzufinden hofften. Es traf ja auch Würzburg nicht zum ersten Mal, schon 2016 hatte ein Mann in einem Zug Menschen mit einer Axt attackiert, im Auftrag des IS, wie die Terrororganisation damals erklärte.
Er lebte wie in einem anderen Leben.
Abdikadar Dini,
Bekannter des Tatverdächtigen
Muss man jetzt wieder von Terror sprechen? Von einem politischen Motiv, von islamistischem Hass? Es ist die große Frage, die an diesem Tag über der Stadt liegt, die an allen Ecken zu hören ist: Warum? Was trieb den Mann an? Warum hat er an diesem Tag drei Menschen getötet und sieben weitere verletzt, sechs davon schwer?
„Wie in einem anderen Leben“
Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass der Täter psychisch auffällig, vielleicht auch krank war. Jemand, der einiges darüber sagen kann, ist Abdikadar Dini, der ebenfalls aus Somalia stammt und 2014 nach Deutschland kam, ein Jahr vor dem Täter, der hier wegen der Zustände in seiner Heimat unter „subsidiärem Schutz“ stand. „Er lebte wie in einem anderen Leben“, sagt Dini, der in Würzburg Arbeit in einem Elektromarkt gefunden hat. Unter Wahnvorstellungen habe er gelitten, immer eigenartiger, einmal zum Beispiel habe er sich von fünf Russen verfolgt gefühlt und sei nach Berlin geflüchtet. Auch getrunken habe er, das habe es noch schlimmer gemacht.
„Wir haben versucht, ihm zu helfen“, sagt Dini, „aber wir haben ihn nicht mehr erreicht.“ Den Behörden wiederum hätten er und andere Hinweise gegeben, mehrmals sei er auch in einer Klinik gewesen, habe aber nie wirksame Hilfe erhalten.
Der Mann, der zum Täter wurde, und sein Zustand seien in der Stadt kein Geheimnis gewesen. „Viele kannten ihn zumindest vom Sehen“, sagt Dini.
Und auch bei einer Pressekonferenz von Polizei und Staatsanwaltschaft am Nachmittag in der Sporthalle des Polizeizentrums der Stadt gibt es viele weitere Hinweise auf die psychische Labilität, aber auch die latente Aggressivität des Täters. So geriet er im Januar in Streit mit anderen Bewohnern seiner Unterkunft und bedrohte sie dabei mit einem Küchenmesser. Die Staatsanwaltschaft forderte ein psychiatrisches Gutachten an, das aber bis heute nicht erstellt ist – das Ermittlungsverfahren läuft noch immer.
Mitte Juni erst, vor wenigen Tagen, fiel er wieder auf, diesmal stellte er sich vor ein Auto und verlangte, mitgenommen zu werden, und ging auch nicht weg, als der Fahrer sich zunächst weigerte. Wieder musste die Polizei kommen, diesmal kam er in eine psychiatrische Klinik – aus der er sich jedoch nach einem Tag wieder entließ. Die Behandler hätten damals weder eine Selbst- noch eine Fremdgefährdung festgestellt – und den Mann wieder ziehen lassen.
So weit, so befremdlich, vielleicht auch krank.
Hassschriften in der Unterkunft
Doch es gibt zumindest auch Anzeichen dafür, dass der Mann auch politische Motive hatte. Der Kaufhausdetektiv habe gehört, wie der Täter in der Woolworth-Filiale „Allahu akbar“ gerufen habe, berichtet der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU), gegenüber den Polizeibeamten später soll auch der Begriff „Dschihad“ gefallen sein, „heiliger Krieg“. In dem Obdachlosenwohnheim wiederum fanden die Beamten laut Polizei „Hassschriften“, von denen noch nicht klar sei, ob sie etwas mit dem IS zu tun haben.
Eindeutig scheinen die Hinweise aber nicht zu sein. Die Bundesanwaltschaft jedenfalls, die dann zuständig wäre, hat den Fall bislang nicht an sich gezogen.
Vielleicht wird das Motiv für dieses Verbrechen auch noch lange in der großen Grauzone zwischen Wahnsinn und politischer Verblendung bleiben. „Psychologische und politische Gründe schließen sich ja nicht aus“, betont Herrmann schon mal.
„Ein Einzeltäter“
So gibt es auch am Ende dieses Tages noch keine klare Antwort, wohl aber eine seelische Wunde, deren sichtbarer Ausdruck das immer größere Blumen- und Kerzenmeer in der Innenstadt ist, am Kaufhaus. „Das trifft eine Stadt mitten ins Herz“, sagt Oberbürgermeister Christian Schuchardt mit noch labiler Stimme in der Sporthalle der Polizei. Wobei es jetzt auch eine Angst sei, die ihn umtreibe: „Dass jetzt pauschale Verurteilungen stattfinden, ein falscher Rückschluss“ auf andere, die als Geflüchtete nach Würzburg kamen. Die Sorge speist sich aus der Erfahrung, die auch seine Stadt nach dem Anschlag vor fünf Jahren machte.
Und so betont der Oberbürgermeister eine der wenigen Gewissheiten, die aus Sicht der Polizei am Ende dieses Tages feststehen: „Er war ein Einzeltäter.“