Verhafteter US-Journalist: Worüber recherchierte Evan Gershkovich in Russland?
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Der US-Journalist Evan Gershkovich wurde in Russland verhaftet.
© Quelle: -/The Wall Street Journal/AP/dpa
Moskau. Die Regionalzeitung „Wetschernije Wedomosti“ (WW) in Jekaterinburg am Ural ist eines der letzten unabhängigen Blätter Russlands, die noch frei berichten können. Insofern passt es gut, dass „WW“ als erstes Medium über einen weiteren mutmaßlichen Schlag der russischen Staatsgewalt gegen die Pressefreiheit berichtete: „Einer unserer Leser wurde Zeuge der Festnahme (oder Entführung) eines Mannes im Zentrum Jekaterinburgs“, meldete die Zeitung auf ihrem Telegram-Kanal am vergangenen Mittwoch. Der Abgeführte sei vor dem Restaurant Bukowski Grill in der Karl-Liebknecht-Straße angeblich von Sicherheitskräften in Zivil in einem Kleinbus fortgebracht worden.
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Schnell verdichteten sich die Vermutungen, dass es sich bei dem Verhafteten um den US-amerikanischen Journalisten Evan Gershkovich handeln könnte. So sagte etwa der Jekaterinburger PR-Experte Jaroslaw Schirschikow dem Regionalonlineportal „e1.ru“, dass ihn diese Befürchtung umtreibe. Und tatsächlich: Kurz nachdem die These von der Verhaftung Gershkovichs publik geworden war, bestätigte der russische Inlandsgeheimdienst FSB die Ergreifung des 31-Jährigen wegen angeblicher Spionagevorwürfe. Inzwischen haben die Strafverfolgungsbehörden offiziell mitgeteilt, dass der US-Journalist in das Moskauer Untersuchungsgefängnis Lefortowo verlegt wurde. Es ist die erste Festsetzung eines amerikanischen Journalisten in Russland seit Ende des Kalten Krieges.
Ob die Vorwürfe gegen Gershkovich zutreffen, ist mehr als fraglich. Trotz seines jungen Alters ist er ein erfahrener Reporter. Geboren in New York als Sohn jüdischer Emigranten aus der Sowjetunion wuchs er in Princeton, New Jersey, auf. Zu Hause sprach er mit den Eltern russisch, und als er das Bowdoin College im Brunswick, Maine, absolvierte, schrieb er bereits für die Studentenzeitung. Aus Moskau berichtet er seit gut fünf Jahren, zuerst für die „Moscow Times“, dann für die französische Presseagentur AFP und zuletzt von Januar 2022 an für das „Wall Street Journal“ aus dessen Moskauer Büro.
Nach Jekaterinburg war Gershkovich gekommen, um Material für einen Artikel über die Söldnerarmee PMC Wagner zusammenzutragen. Ihn habe interessiert, wie die Menschen vor Ort zu den Rekrutierungsmaßnahmen der paramilitärischen Organisation stehen, sagte Schirschikow der Tageszeitung „Kommersant“. Er habe auch mehr über den Konflikt zwischen Wagner-Chef Jewgenij Prigoschin und den Behörden der örtlichen Region Swerdlowsk sowie Igor Puschkarew erfahren wollen, dem Direktor des Jekaterinburger Geschichtsmuseums. Bei der Recherche sei er dem US-Kollegen behilflich gewesen, so Schirschikow.
Dmitri Kolezev, Herausgeber von „It’s My City“, sagte dem Stadtportal, dass er von Gershkovich vor dessen Reise in den Ural angerufen worden sei: „Evan wollte wissen, was in der Stadt in letzter Zeit Interessantes passiert ist und mit Alexander Drozdow, dem Leiter des örtlichen Jelzin-Zentrums, sprechen.“ Er habe auch das das Rekrutierungszentrum von PMC Wagner besuchen wollen.
Ich hatte den Eindruck, dass er sich des Risikos bewusst war und es wissentlich auf sich nahm.
Dmitri Kolezev,
Herausgeber von „It’s My City“
„Er hatte die Idee, mit Mitarbeitern von Rüstungsunternehmen in Jekaterinburg oder in Nischni Tagil zu sprechen (Anmerkung der Redaktion: Nischni Tagil ist Sitz des weltgrößten Panzerherstellers Uralwagonsawod.)“, erzählt Kolezew weiter. „Ich sagte ihm, dass es unwahrscheinlich sei, dass irgendjemand mit einem amerikanischen Journalisten sprechen würde, und warnte ihn, dass er mit Sicherheit vom FSB verfolgt werden würde. Evan antwortete, er habe das verstanden. Ich hatte den Eindruck, dass er sich des Risikos bewusst war und es wissentlich auf sich nahm.“
„Das bringt den Kreml in eine vorteilhafte Position“
Die Aussagen Schirschikows und Kolezews passen im weiteren Sinn zu dem, was über die Vorwürfe des FSB gegen Gershkovich bislang bekannt ist. Der russische Inlandsgeheimdienst wirft dem Reporter vor, im Auftrag der US-Seite Informationen über den militärisch-industriellen Komplex in Russland gesammelt zu haben, die ein Staatsgeheimnis darstellten.
Doch Beobachter bezweifeln, dass es dem Kreml wirklich um Recherchen geht, die nicht heimlich, sondern offen durchgeführt wurden und von jedem potenziellen Ansprechpartner blockiert werden konnten.
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Die Gewaltbereitschaft russischer Fußballhooligans hat ihr Verhältnis zum Kreml über Jahre hinweg belastet. Aufgrund der Kämpfe in der Ukraine erkennen beide Seiten nun plötzlich, dass sie füreinander nützlich sein können.
Tatjana Stanowaja von der Carnegie-Stiftung für internationalen Frieden äußert vielmehr die Vermutung, dass Gershkovichs Nachforschungen über die Kämpfe in der Ukraine der russischen Staatsführung ein Dorn im Auge gewesen seien. Seine Festnahme eröffne dem Kreml zudem neue Verhandlungsoptionen: „Ich denke, dass dies in den Vereinigten Staaten große politische Aufmerksamkeit erregen wird“, sagte die Politologin der „New York Times“. „Die US-Behörden werden auf die Verhaftung reagieren müssen, und das bringt den Kreml in eine vorteilhafte Position“.
Zeitpunkt der Verhaftung kein Zufall
Für Jeanne Cavelier, Leiterin des Osteuropa- und Zentralasienreferats bei Reporter ohne Grenzen, stellt die Gefangennahme Gershkovichs eine Einschüchterungsmaßnahme dar: „Es ist wahrscheinlich ein Mittel, allen westlichen Journalisten Angst einzuflößen, die versuchen, Aspekte des Krieges vor Ort in Russland zu recherchieren“, sagte sie der US-Nachrichtenagentur AP.
Der Umstand, dass Russland ihn wegen Spionage und nicht wegen einer gewöhnlichen Straftat anklagt, deutet darauf hin, dass der Kreml einen hohen Preis für seine Freilassung verlangen wird.
John Sullivan,
ehemaliger US-Botschafter in Moskau
John Sullivan, bis zum vergangenen Jahr US-Botschafter in Moskau, hält die Verhaftung Gershkovichs für eine Vorbereitungsmaßnahme eines angestrebten Gefangenenaustauschs: „Der Umstand, dass Russland ihn wegen Spionage und nicht wegen einer gewöhnlichen Straftat anklagt, deutet darauf hin, dass der Kreml einen hohen Preis für seine Freilassung verlangen wird“, sagte der Spitzendiplomat dem „Wall Street Journal“.
Ganz ähnlich äußerte sich Daniel Hoffman, ehemaliger CIA-Resident in Moskau. Der Zeitpunkt der Verhaftung sei „wahrscheinlich kein Zufall“, zitierte ihn das „Wall Street Journal“. Sie sei vermutlich angeordnet worden, um ein Druckmittel für einen Gefangenenaustausch in die Hand zu bekommen.
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USA könnten mutmaßlichen russischen Spion ausliefern lassen
Hoffman erinnerte daran, dass das US-Justizministerium in der vergangenen Woche Klage gegen Sergej Tscherkassow erhoben hat, einen mutmaßlichen Mitarbeiter des russischen Militärgeheimdienstes GRU.
Die USA beschuldigen den Russen, unter falscher Identität als der brasilianische Student Victor Muller Ferreira an der Washingtoner Johns-Hopkins-Universität eingeschrieben gewesen zu sei. Im März 2023 war Tscherkassow in Brasilien wegen Fälschung brasilianischer Dokumente inhaftiert worden. Um einen Gefangenenaustausch zu ermöglichen, könnten die USA aber seine Auslieferung beantragen.