Wie kann Obdachlosigkeit überwunden werden, Herr Schneider?
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Deutschland will die Obdachlosigkeit bis 2030 überwinden – nur wie?
© Quelle: Marijan Murat/dpa
Berlin. Ulrich Schneider ist Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtverbandes. Im RND-Interview erklärt er, was es braucht, um die Obdach- und Wohnungslosigkeit zu überwinden. Denn dieses Ziel hat sich die Bundesregierung im Koalitionsvertrag gesetzt – und zwar bis 2030.
Die Bundesregierung möchte die Obdach- und Wohnungslosigkeit in Deutschland bis 2030 überwunden haben. Wie realistisch ist das?
Wenn alle an einem Strang ziehen und das Problem wirklich lösen wollen, kann das aus meiner Sicht gelingen. Besonders die Kommunen müssen mitspielen, da die Zuständigkeit beim Problem Obdachlosigkeit bei ihnen liegt.
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Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer vom Paritätischen Gesamtverband.
© Quelle: Jörg Carstensen/dpa/Archivbild
Was muss passieren?
Wir brauchen mehr bezahlbare Wohnungen. Das Ziel der Bundesregierung, jährlich 100.000 Sozialwohnungen zu schaffen, reicht nicht aus. Wir verlieren jedes Jahr etwa 90.000 Wohnungen mit Sozialbindung. Alleine um das aufzufangen, müssten zusätzliche 100.000 Sozialwohnungen jedes Jahr gebaut werden. Die Sozialbindung muss dauerhaft sein. Ist sie nur befristet, fallen einem die Probleme wieder auf die Füße. Darüber hinaus brauchen wir eine engagierte Mietpreisdämpfungspolitik, wie einen Mietendeckel, um Wohnungsverlust zu verhindern und Spekulationen mit Wohnraum zu stoppen.
Wie hilft man Menschen, die auf der Straße leben?
Hier sind die Kommunen stark gefordert. Das muss sofort gelöst werden. Schätzungsweise 45.000 Menschen leben aktuell in Deutschland auf der Straße. Wir brauchen zum einen wesentlich mehr und bessere Notunterkünfte. Vor allen Dingen muss aber das Prinzip „Housing First“ auf breiter Front umgesetzt werden.
Auch obdachlose Menschen, die psychisch krank sind oder Suchtprobleme haben, brauchen erstmal eine Wohnung und haben ein moralisches Anrecht darauf. Wir wissen, dass alle therapeutischen Versuche ins Leere gehen, wenn nicht erstmal eine Wohnung da ist. Die Bundesregierung hat das erkannt. Da sind wir im Denken einen Riesenschritt vorangekommen. Da, wo Kommunen es aus eigener Kraft nicht stemmen können, braucht es im Zweifel aber eben auch ganz handfeste Unterstützung.
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Wie können die Kommunen „Housing First“ umsetzen?
Kommunen müssen sich Gedanken machen, wie sie mit Leerständen umgehen. Wenn Wohnungen etwa aus Spekulationsgründen schlicht nicht vermietet werden, muss man darüber nachdenken, sie in die öffentliche Hand zu nehmen und zu vermieten. Vergesellschaftung von Wohnraum darf kein Tabu sein.
Auch in Hotels oder Jugendherbergen könnten sich Kommunen einmieten, um dort Menschen unterzubringen. Diese Menschen müssen aber betreut werden. Es macht keinen Sinn, einem obdachlosen Menschen einen Schlüssel in die Hand zu drücken und zu sagen, „du gehst jetzt ins Hotel“.
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Tafeln können Armut nicht mehr auffangen: „Das kann einem doch nicht egal sein“
Energiekrise, Inflation und Corona lassen die Armut in Deutschland wachsen. An den Tafeln ist das bereits zu spüren. Die Wartelisten sind lang, in Hannover wurde gar ein Aufnahmestopp verhängt. Dort steht man vor vielfältigen Problemen.
Warum haben die bisherigen Bemühungen, Menschen von der Straße zu holen, nicht gereicht?
Weil sie halbherzig waren. Wenn man sich mal anschaut, wo Obdachlosenunterkünfte sind, ist das häufig irgendwo am Stadtrand. Es sind oft Unterkünfte, wo man Obdachlose dann verstehen kann, dass sie dort nicht hinwollen. Kommunen tun sich schwer, unkonventionelle Wege zu gehen. Wie wäre es denn mal, Obdachlose im Winter in Hotels unterzubringen, damit niemand erfriert? Dazu gehört eine Menge Mut und daran fehlt offenbar den politisch Verantwortlichen. Natürlich kostet das aber auch alles Geld. Armutsbekämpfung ist auf der Prioritätenskala in Deutschland leider sehr weit hinten.
Inwiefern hat sich die Situation im vergangenen Jahr zugespitzt?
Die Menschen, die jetzt aus der Ukraine zu uns gekommen sind, drücken natürlich auch auf den Wohnungsmarkt. Insofern bedarf es einfach noch mehr Anstrengungen als zuvor. Die Menschen aus der Ukraine sind aber nicht der Grund, warum wir Probleme haben. Wir hatten auch schon in den Jahren vorher zu wenig bezahlbare Wohnungen und zu stark steigende Mieten, gerade in den Ballungsgebieten. Die ukrainischen Flüchtlinge verschärfen das Problem, haben es aber nicht ausgelöst.