Russlands Angriff auf die Ukraine

Wie der Krieg zurück nach Europa kam

Eindrücke aus Isjum, einem Ort in der Ukraine.

Eindrücke aus Isjum, einem Ort in der Ukraine.

Am 24. Februar kehrte der Krieg zurück nach Europa. Der US-Außenpolitikexperte Charles Kupchan vom Council of Foreign Relations in Washington sprach noch am Tag des vom russischen Präsidenten Wladimir Putin angeordneten Überfalls auf die Ukraine von einem „geopolitischen Erdbeben, das weit über Europa hinaus Auswirkungen haben wird“.

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Am selben Abend sagte der langjährige militärpolitische Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Brigadegeneral a. D. Erich Vad, im ZDF: „Putin wird diesen Krieg gewinnen, weil die russischen Streitkräfte modern sind, gut ausgestattet sind, weil sie eine vielfache Überlegenheit auch haben, weil sie eine strategische Ausgangsbasis haben, gegen die man sich einfach nicht verteidigen kann.“

Russische Armee ist hoffnungslos überschätzt worden

Kupchan behielt recht, der Krieg hat die Welt erschüttert. Vad sollte dagegen nicht zum letzten Mal in seinen Prognosen zum Krieg falsch liegen. Er gab der Ukraine „ein paar Tage“ bis zur Niederlage. „Militärisch gesehen ist die Sache gelaufen“, meinte er. Richtig ist dagegen am Ende dieses Jahres: Die angeblich so mächtige russische Armee ist hoffnungslos überschätzt worden. Der Kampfgeist der Ukrainer wurde dagegen dramatisch unterschätzt. Auch Monate nach dem Überfall auf das viel kleinere Nachbarland hat der russische Präsident kein einziges seiner Kriegsziele erreicht.

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Dafür verhalf Putin seinem Widersacher Wolodymyr Selenskyj im Westen unfreiwillig zum Heldenstatus. Der ukrainische Präsident floh nicht, als die russischen Panzer wenige Kilometer vor der Hauptstadt Kiew standen. Stattdessen wandte er sich – nun mit Bart und im olivgrünen Militärshirt – immer wieder per Videoschalte an die Weltöffentlichkeit. Putin hatte dagegen noch kurz vor Kriegsbeginn Spott auf sich gezogen, als er Staats- und Regierungschefs, die die Lage entschärfen wollten, im Kreml an einem völlig überdimensionierten Tisch empfing.

Drohnenangriff auf Militärflugplatz mit Langstreckenbombern in Russland

Berichte über zerstörte Langstreckenbomber wollte Russland nicht bestätigen. Auch die Ukraine gab keinen Kommentar zu dem Vorfall ab.

Die Macht der Bilder

Putin wirkte auf den Fotos isoliert und abgehoben. Selenskyj trat dagegen wie der mutige Underdog auf, der sich dem Aggressor nicht beugen würde. Der 44-jährige Ukra­iner weiß um die Macht von Bildern, er war Schauspieler und Komiker – seine Paraderolle im Fernsehen war ausgerechnet die eines Lehrers, der zum Präsidenten der Ukraine wird.

Putin hat sich auf vielen Ebenen verkalkuliert. Dass ihm außerhalb Russlands irgendwer seine fadenscheinigen Vorwände für den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg abkaufen würde, dürfte er selbst nicht geglaubt haben: Der russische Präsident argumentierte unter anderem, die „Sondermilitäroperation“ sei notwendig, um „die Entmilitarisierung und die Entnazifizierung der Ukraine“ zu erreichen. (Selenskyj hat übrigens jüdische Wurzeln.)

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Putins Truppen haben es nicht geschafft, Kiew einzunehmen

Putins Truppen haben es aber nicht geschafft, die Hauptstadt Kiew einzunehmen. Stattdessen sind sie in der Hauptstadtregion sowie im Osten und zuletzt im Süden des Landes zurückgedrängt worden – auch aus Gegenden, deren Annexion Putin vorschnell erklärte, ohne sie unter Kontrolle zu haben.

Vor allem ist es Putin nicht gelungen, den Westen zu spalten, der zumindest bislang geschlossen zur Ukraine steht. Diese Geschlossenheit ist vor allem US-Präsident Joe Biden zu verdanken. Unmittelbar nach seinem Amtsantritt im Januar 2021 bemühte sich der US-Demokrat darum, Bündnisse und Partnerschaften wiederzubeleben, die sein republikanischer Vorgänger Donald Trump mit seiner isolationistischen „America first“-Politik an den Rand des Zusammenbruchs getrieben hatte. Bidens erste Auslandsreise führte ihn nach Europa, wo er beim Gipfel der G7-Staaten, beim Treffen mit den Nato-Bündnispartnern und beim Gespräch mit den Spitzen der Europäischen Union immer wieder versicherte: „Amerika ist zurück.“ Zum Abschluss dieser Reise traf er in Genf zum Gipfel mit Putin zusammen. Im Anschluss sagte Biden, nach seinem Eindruck wolle Putin keinen neuen Kalten Krieg.

Fast zwei Drittel der Bevölkerung in Deutschland schauen mit Angst auf 2023

Viele Menschen befürchten, dass 2023 kaum positive Nachrichten bringt. Laut einer neuen Umfrage schauen etwa zwei Drittel der Deutschen mit Angst ins neue Jahr.

Warnungen vor einem Angriff auf die Ukraine

In diesem Punkt sollte der US-Präsident nicht recht behalten. Mit seinen späteren Warnungen vor einem Angriff auf die Ukraine hingegen schon. Schon Wochen vor dem Überfall berichteten das Weiße Haus, das US-Außenministerium und das Pentagon auf Basis von Geheimdienstinformationen in Pressekonferenzen, Putin könnte das Nachbarland überfallen. Vor dem Irak-Krieg 2003 hatten sich die US-Nachrichtendienste mit Berichten über Massenvernichtungswaffen blamiert, die nie gefunden wurden. Dieses Mal war es kein Säbelrasseln.

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Die Bundespolitik wurde durch den Krieg in ihren Grundfesten erschüttert. Unter der Überschrift „Das Ende des deutschen Irrglaubens“ schrieb die Expertin Judy Dempsey von der Denkfabrik Carnegie in der US-Hauptstadt Washington kurz nach dem Einmarsch: „Die deutsche Sonderpolitik gegenüber Russland ist vorbei. Der Glaube, dass die jahrzehntelangen wirtschaftlichen, handelspolitischen und politischen Beziehungen Deutschlands zu Moskau zu einer Modernisierung des Landes führen würden, hat sich als falsch erwiesen.“

Scholz rief „Zeitenwende“ aus

Tatsächlich rief Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) als Reaktion auf den russischen Überfall eine „Zeitenwende“ in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik aus. Diese ist bislang allerdings nur halbherzig vollzogen. Nach der ersten Blamage nach Kriegsausbruch – Deutschland schickte der Ukraine 5000 Helme – lieferte die Bundesregierung zwar substanzielle Unterstützung. Die Ukrainer sind dankbar für deutsche Luftabwehrsysteme oder die Panzerhaubitze 2000. Für Unverständnis sorgt aber weiterhin, warum die Bundesregierung keine Kampfpanzer Leopard 2 oder Schützenpanzer Marder liefern will.

Eines der Argumente ist, dass man Alleingänge vermeiden wolle. Zugleich sind aber auch keinerlei Bemühungen der Bundesregierung bekannt, Partner für ein entsprechendes Vorhaben einzubinden. Gibt man sich in der ostukrainischen Stadt Charkiw als deutscher Reporter zu erkennen, wird man auf das Panzerthema sogar in der ­U-Bahn angesprochen.

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Amerikaner haben mehr Unterstützung geleistet als alle europäischen Staaten zusammen

Müssten sich die Ukrainer auf die Europäer verlassen, hätten sie den Krieg vermutlich längst verloren. Die Amerikaner haben für die Ukraine mehr militärische, humanitäre und finanzielle Unterstützung geleistet als alle europäischen Staaten zusammengenommen. Unklar ist aber, wie lange die Amerikaner noch bereit dazu sind, diesen Löwenanteil zu stemmen.

Besonders bei den US-Republikanern wächst der Widerstand gegen einen „Blankoscheck“ für die Ukraine, wie der Kongressabgeordnete Kevin McCarthy deutlich macht – er ist von seiner Partei nominiert worden, ab Januar Vorsitzender des Repräsentantenhauses zu sein, also die Nummer drei im Staat. Möglich auch, dass der Konflikt um Taiwan mit China eskaliert und die USA ihr Engagement in Asien verstärken müssen. Wären die Europäer bereit dazu, Lücken in der Ukraine zu schließen?

Rufe nach Friedensverhandlungen mehren sich

Schon jetzt mehren sich Rufe nach Friedensverhandlungen. Aus Sicht der Ukraine kommen diese Appelle zur Unzeit. Bei einem Besuch in der im November befreiten Regionalhauptstadt Cherson machte Präsident Selenskyj ein weiteres Mal deutlich, dass Friedensverhandlungen erst infrage kommen, wenn die Besatzungstruppen vertrieben sind. Die Ukrainer argumentieren, dass sie genau deswegen schnell mehr moderne Waffen benötigen – damit Russland in der Defensive bleibt und sich irgendwann zu Gesprächen gezwungen sieht. Dieser Logik zufolge bewirken Waffenlieferungen also nicht mehr Blutvergießen, sondern das Gegenteil: nämlich ein schnelleres Ende des Krieges.

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+++ Alle Entwicklungen zum Krieg gegen die Ukraine im Liveblog +++

In der ukrainischen Bevölkerung gäbe es derzeit sowieso keine Mehrheit für Verhandlungen oder gar für einen russischen Diktatfrieden. Dafür sorgen schon die Gräueltaten, die fast überall dort bekannt werden, wo die russischen Truppen vertrieben wurden. Zehntausende Kriegsverbrechen haben die ukrainischen Behörden re­gis­triert. Wer als Reporter die befreiten Gebiete besucht, dem erzählen immer wieder Zivilisten davon, wie sie willkürlich gefangen genommen und gefoltert wurden – oftmals mit sehr ähnlichen Methoden, zum Beispiel mit Stromschlägen. Vieles deutet darauf hin, dass es sich um systematische Menschenrechtsverletzungen handelt, nicht um Einzelfälle.

Nach den Misserfolgen auf dem Schlachtfeld hat Putin auf Kälte als Waffe gesetzt. Mitten im Winter attackierte er die Versorgung der Zivilbevölkerung mit Wärme und Strom. Sein Kalkül: Die Ukrainer sollten erfrieren – oder in die EU fliehen und dort für Verwerfungen sorgen. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) nannte die gezielte Vernichtung ziviler Infrastruktur nach einer Konferenz mit seinen G7-Amtskollegen in Berlin Ende November „verabscheuenswürdig“ und „ein schlimmes Kriegsverbrechen“. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sprach am selben Tag beim Treffen mit ihren Nato-Kollegen in Bukarest von einem „Bruch der Zivilisation“.

Für Optimismus ist es zu früh

Kaum jemand hätte wohl zu Beginn dieses Kriegsjahres gedacht, dass die Ukrainer an dessen Ende in der Offensive sind. Für Optimismus ist es aber viel zu früh. Befürchtet wird, dass der russische Präsident im Frühjahr massenhaft ausgebildete Soldaten an die Front wirft. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Russland wieder die Oberhand in dem Konflikt gewinnt. Die Ukrainer betonen stets, dass sie nicht nur für ihr eigenes Überleben kämpfen, sondern stellvertretend auch für westliche Werte wie Freiheit und Demokratie. Für sie ist deswegen vor allem eines wichtig: dass der Westen geschlossen zu ihnen steht.

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Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg warnte Parlamentarier aus den Bündnisstaaten bereits im Herbst vor nachlassendem Engagement. Er wisse, dass die Unterstützung der Ukraine mit Kosten verbunden sei und dass viele Menschen unter steigenden Kosten für Energie und Lebensmittel litten, sagte er bei einer Plenarsitzung der Parlamentarischen Versammlung der Nato in Madrid. Wenn man Putin erlaube, den Angriffskrieg gegen die Ukraine zu gewinnen, werde man allerdings einen noch viel höheren Preis zahlen müssen, betonte der Norweger. „Autoritäre Regime weltweit werden lernen, dass sie mit brutaler Gewalt bekommen, was sie wollen.“

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