„Bevölkerung wird regelrecht terrorisiert“

Russland greift erneut Charkiw an – und will Ukrainer mit russischen Pässen an sich binden

Charkiw ist inzwischen fast täglich Ziel russischer Raketenangriffe.

Charkiw ist inzwischen fast täglich Ziel russischer Raketenangriffe.

Der russische Präsident Wladimir Putin hat vier Monate nach Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine allen Menschen im Land einen russischen Pass angeboten. Ein von Putin unterzeichnetes Dekret sieht die Ausweitung der bisher nur für den Donbass geltenden Regelung vor. Dort konnten Ukrainerinnen und Ukrainer bereits seit April 2019 die russische Staatsbürgerschaft in einem vereinfachten Verfahren beantragen.

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Seit Juni 2022 händigt Russland auch Menschen in den besetzten Gebieten Cherson und Saporischschja an der ukrainischen Südküste russische Pässe aus.

Experte: Russland leitet Schutzauftrag ab

„Die Verteilung von Pässen hatte schon vor Kriegsbeginn den Zweck, den russischen Einfluss auf die souveränen Nachbarstaaten im ‚nahen Ausland‘ zu stärken“, erklärt der Osteuropa-Historiker und Ukraine-Experte Wilfried Jilge vom Berliner Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF). „Denn wenn die Menschen – vom Kreml eigenmächtig als ‚russische Landsleute‘ definiert – einen russischen Pass haben, dann leitet der Kreml dadurch einen Schutzauftrag für die Menschen ab.“ Mit der Behauptung, russischsprachige Bewohner der Ukraine beschützen zu müssen, hatte Putin im Februar auch den Angriff auf das Nachbarland begründet. Dass nun alle Menschen in der Ukraine einen russischen Pass erhalten können, wertet der Experte als Signal, dass es Putin doch um die gesamte Ukraine geht.

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Putins Vorgehen ist nicht neu. „Schon Anfang der 2000er-Jahre hatte Russland begonnen, in den von Georgien abtrünnigen Gebieten Abchasien und Südossetien Pässe auszugeben“, sagt Jilge im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) und erklärt, dass diese Passportisierung in Nachbarstaaten „zu einem zentralen Element einer aggressiven russischen Politik der Einflussnahme“ wurde.

Diese Passportisierung in Gebieten von souveränen Nachbarstaaten, die der Kreml als Teile einer „Russischen Welt“ imaginiert, wurde zu einem zentralen Element einer aggressiven russischen Politik der Einflussnahme.

Wilfried Jilge,

Osteuropa-Historiker und Ukraine-Experte am Berliner Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF)

Verstoß gegen Minsker Abkommen

Die Ausgabe von Pässen im Donbass diente laut dem Osteuropa-Historiker der Entfremdung der Menschen in den besetzten Gebieten sowie der Aushöhlung der territorialen Integrität und Souveränität der Ukraine. Jilge sieht darin einen massiven Verstoß gegen das Minsker Abkommen. Das Dekret von Putin müsse als Vorbereitung der stärkeren Kontrolle und Annexion der neu besetzten Gebiete gedeutet werden. „Im September könnte Russland den nächsten Schritt gehen und unter anderem in Cherson ein Pseudoreferendum abhalten und so die Annexion weiterer ukrainischer Gebiete einleiten.“

Charkiw unter Beschuss: Ukraine erwartet russische Großoffensive im Donbass
02.07.2022, Ukraine, Charkiw: Ukrainische Soldaten ändern ihre Position an der Frontlinie in der Nähe von Charkiw, Ukraine. Foto: Evgeniy Maloletka/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Russland versucht weiter, im Donbass die Region Donezk vollständig unter seine Kontrolle zu bekommen, nachdem dies in Luhansk bereits gelungen ist.

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Im Donbass hatten etwa 700.000 Menschen einen russischen Pass erhalten. Laut Jilge ist dies das Ergebnis „einer massiven prorussischen Propaganda in den vom Kreml abhängigen, autoritär beziehungsweise quasistalinistisch regierten De-facto-Republiken“. Unter dem Vorwand des Schutzes vor der Covid-Pandemie seien die Gebiete gezielt abgeschottet worden. Daher seien viele Menschen gezwungen gewesen, ihre sozioökonomischen Bedürfnisse in der Russischen Föderation zu decken.

Charkiw unter Beschuss

Die russischen Streitkräfte verteidigen derweil weiter den besetzten Süden bis Cherson gegen kleinere Rückeroberungsversuche der Ukraine und fokussieren ihre Offensive nun zunehmend auch auf die zweitgrößte Stadt Charkiw, nordwestlich des Donbass. Charkiw ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt und könnte bei einer Eroberung für die Logistik der russischen Truppen von großer Bedeutung werden. Experten erwarten daher weitere Vorstöße in der gleichnamigen Region. „Die schweren Angriffe auf Charkiw sind vor allem auch Vergeltungsschläge Russlands, weil die Ukraine im Donbass immer wieder besetzte Gebiete und Städte angreift, zum Beispiel Donezk“, erklärte Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer. „Vor drei Wochen haben die Russen eine Iskander-Brigade in den Raum Belgorod verlegt und seitdem schießt diese nahezu jede Nacht drei bis sechs Raketen auf Charkiw“, sagte er im Gespräch mit dem RND.

Anfang der Woche waren bei Raketenangriffen auf Wohnsiedlungen in Charkiw mindestens fünf Menschen gestorben und Dutzende verletzt worden. Es seien ein Einkaufszentrum und Wohnhäuser beschossen worden, schrieb der Gouverneur Oleh Synjehubow bei Telegram. Auch Kinder sollen sich unter den Verletzten befinden. Die Raketen sollen von Mehrfachraketenwerfern abgefeuert worden sein. „Die Bevölkerung wird durch die Angriffe regelrecht terrorisiert“, so die Einschätzung von Oberst Reisner.

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