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Ununterbrochen Schüsse und Explosionen

„Es geht ums nackte Überleben“: Wie das Rote Kreuz Hilfsgüter bis zur Front bringt

Einwohner von Tschassiw Jar kochen draußen ihr Essen.

Einwohner von Tschassiw Jar kochen draußen ihr Essen.

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Es ist eine lebensgefährliche Fahrt, auf die sich Achille Després eingelassen hat. Zusammen mit seinen Kolleginnen und Kollegen ist der Mitarbeiter des Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) auf dem Weg zu den Frontstätten in der Ukraine. Zwei Lastwagen mit Hilfsgütern bringen sie in die Städte Kostjantyniwka, Tschassiw Jar und Selydowe, die sich nur wenige Kilometer von der schwer umkämpften Stadt Bachmut entfernt befinden. „Die Gefahr ist groß, dass sich irgendwo an der Straße noch eine Mine oder ein nicht explodierter Sprengsatz befindet“, sagt Després am Telefon dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Ganz vorn im Auto: ein Experte, der die Sicherheit der Straßen überprüft. Immer wieder passieren die Helfer und Helferinnen Kontrollstellen der ukrainischen Armee und fahren an Hindernissen vorbei, die russische Angriffe aufhalten sollen.

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Mehrere Stunden dauert die Fahrt von Kiew an die Front. „Je näher wir uns Bachmut und anderen Städten nahe der Frontlinie nähern, umso grausamer und brutaler ist das Bild, das sich uns zeigt“, sagt der ICRC-Mitarbeiter. Es gebe fast kein Gebäude, das nicht beschädigt ist. „Wohnhäuser, Schulen, Krankenhäuser, Infrastruktur – überall zeigt sich ein Bild der Zerstörung.“

Das Ausmaß der Zerstörung hat mich wirklich schockiert.

Achille Després,

ICRC-Mitarbeiter aus Kiew

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Es gebe noch Hunderte Zivilistinnen und Zivilisten in den Dörfern entlang der Front, für die dies „grausame Realität“ sei, so Després. Je näher die Lastwagen mit den Hilfsgütern der Frontlinie kommen, desto lauter wird es. Der Lärm der Kämpfe ist immer präsent. „Ununterbrochen sind Schüsse zu hören und ständig Explosionen irgendwo im Hintergrund.“

Das ICRC verteilt Hilfsgüter in den Frontstädten.

Das ICRC verteilt Hilfsgüter in den Frontstädten.

Den Menschen fehlt es an den grundlegendsten, überlebenswichtigen Dingen. „Es fehlen Trinkwasser, Lebensmittel, Decken, Kleidung und Hygieneartikel“, zählt Després auf. 17 Tonnen Lebensmittel haben sie in den vergangenen Tagen in die Städte gebracht. In den Paketen befinden sich beispielsweise Konserven, Reis und Nudeln für etwa einen Monat. Außerdem wurden die Menschen mit einer Tonne Hygieneartikel versorgt, darunter Damenbinden, Rasiersets und Seife. Sogar 6000 Liter Trinkwasser hat das ICRC nach Tschassiw Jar gebracht, das reicht für etwa zehn Tage. „Wir haben drei Stunden lang Lastwagen mit Hilfslieferungen entladen“, sagt Després, „und im Hintergrund war die ganze Zeit das Artilleriefeuer zu hören“.

Im Gemeindezentrum von Virolyubivka trifft der ICRC-Mitarbeiter auf Nikolai, der ein Baby auf dem Arm trägt. „Es ist eine wirklich schwierige Situation hier“, sagt Nikolai. Es sei laut und er habe Angst um sich und das Baby. „Gestern flog eine Rakete über unsere Köpfe hinweg.“ Er wisse aber nicht, wo er hingehen soll. Després bekommt das häufiger zu hören, wenn er mit den Menschen an den Frontstädten spricht. Sie hätten große Angst und seien die meiste Zeit in unterirdischen Schutzräumen. „Die Menschen leben nicht mehr, es geht nur noch um das nackte Überleben.“

Nikolai hält ein Baby auf dem Arm.

Nikolai hält ein Baby auf dem Arm.

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Große Bewegungen an der Frontlinie gab es in den vergangenen Monaten nicht. Mehrere Kilometer kämpften sich die russischen Truppen voran, eroberten kleinere Dörfer und wurden an anderer Stelle zurückgeschlagen. Nirgendwo sind die Kämpfe in der Ukraine derzeit so schwer wie in Bachmut und den umliegenden Orten. „Etwa 200 Familien sind aus Bachmut nach Kostiantynivka geflüchtet“, sagt Després dem RND. Etwa 10 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt Kostiantynivka haben noch bis vor Kurzem in Nachbardörfern gewohnt, die nun in schwere Kämpfe verwickelt sind. Wenn sich die Frontlinie erneut verschiebt, werden wohl wieder viele ins nächste Dorf flüchten, glaubt Després. Manchmal gehe es ganz schnell, dass Dörfer, die zuvor als relativ sicher galten, plötzlich ganz nah an der Frontlinie liegen.

Wer kann, ist längst in andere Teile des Landes geflüchtet. Das ICRC trifft in den Frontstädten auf viele ältere Menschen, die nicht mehr mobil sind oder ihr Heimatdorf nicht aufgeben wollen. Viele wohnen schon ihr ganzes Leben lang dort und wollen nicht weg. Doch unter den verbliebenen Einwohnern sind auch Jüngere, wie der 19-jährige Daniil. „Wir haben viele ältere Menschen, die auf die humanitäre Hilfe angewiesen sind, weil sie niedrige Renten haben und Hygieneartikel teuer geworden sind“, sagt er. Im Umkreis gebe es nur noch ein Geschäft und das sei für viele ältere Menschen schwer zu erreichen.

Després hat den Eindruck, dass die Menschen die Hoffnung trotz der Kämpfe in unmittelbarer Nähe nicht aufgeben. „Die Hilfsgüter geben ihnen das Gefühl, dass man sie nicht vergessen hat.“

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