Wie viel Wahrheit steckt im Witz von Selenskyj?

Russland ohne Munition und Soldaten? Wie es um die russischen Truppen steht

Mobilisierte Reservisten der russischen Armee bei einer kurzen Übung vor dem Einsatz in der Ukraine.

Mobilisierte Reservisten der russischen Armee bei einer kurzen Übung vor dem Einsatz in der Ukraine.

U‑Bahnzüge rumpeln vorbei, dann heulen plötzlichen Luft­schutz­sirenen auf: In einer Kiewer Metrostation hat US‑Talkmaster David Letterman den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj interviewt. „Das Lachen hilft uns, nicht verrückt zu werden“, sagt Selenskyj und erzählt in der Netflix-Show auch prompt einen Witz:

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Treffen sich zwei Juden in Odessa. Der eine fragt: „Wie ist die Situation?“

„Es ist Krieg“, antwortet der andere.

„Was für ein Krieg?“, hakt der erste nach.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

„Russland führt Krieg gegen die Nato.“

„Und, wie läuft der Krieg?“

„Naja, die Russen haben 70.000 Soldaten verloren, alle Raketen verschossen, und sehr viel Militärgerät ist zerstört.“

„Und wie steht es bei der Nato?“

„Die Nato ist noch nicht angekommen.“

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Wie viel Wahrheit steckt im Witz von Selenskyj? Es gibt eine ganze Reihe an Hinweisen, die den Schluss nahelegen, dass Russland kaum noch über Munition verfügt, so Militärexperte Frank Sauer von der Universität der Bundeswehr in München. „Aus dem Iran kauft Russland etwa seit einer Weile Drohnen zu, und wir müssen zudem damit rechnen, dass die Russen bald auch Kurz- und Mittel­strecken­raketen aus Teheran beziehen“, sagt Sauer im Gespräch mit dem Redaktions­Netzwerk Deutschland (RND). Bei der Artillerie­munition wiederum habe sich Russland zuerst in Belarus bedient und außerdem in Nordkorea zugekauft.

Nach Einschätzung des ukrainischen Militär­geheim­dienstes verfügt Russland noch über ein Arsenal von rund 360 Marsch­flug­körpern. Dies würde für mindestens fünf Angriffswellen reichen, sagte Sprecher Vadim Skibizkyj.

Russische Führung besorgt über Antikriegsstimmung im eigenen Land
 Russia Putin 8337848 12.12.2022 Russian President Vladimir Putin meets with Constitutional Court Chairman Valery Zorkin at the Kremlin in Moscow, Russia. Mikhail Metzel / POOL Moscow Russia PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY Copyright: xMikhailxMetzelx

Die russische Führung sorgt sich nach Einschätzung britischer Geheimdienstexperten über die Zunahme einer Antikriegsstimmung in ihrem Land.

Russland kann zwar Artilleriemunition, Marsch­flug­körper und andere Präzisions­waffen nachproduzieren, aber laut Sauer wohl nicht so viel, wie benötigt wird. „Die Seriennummern der zuletzt verschossenen Marschflugkörper deuten darauf hin, dass die russische Armee gerade erst produzierte Systeme verschießt.“ Die Lagerbestände dort seien offenbar weitgehend aufgebraucht. Und Sauer macht noch eine weitere Beobachtung: Russland verschießt dem Experten zufolge sogar alte, „leere“ Marschflugkörper, die eigentlich für Nuklear­spreng­köpfe vorgesehen sind.

Hinzu kommt, dass zwischen den Wellen der Drohnen­angriffe viel Zeit vergeht. „Offenbar muss Russland sich die iranischen Shahed-Drohnen gut einteilen“, sagt Sauer. Die Drohnen sollen aber offenbar bald in Russland mit iranischer Lizenz produziert werden. Es sei daher ein insgesamt gemischtes Bild, so das Resümee des Experten. „Wir haben es bei diesem Abnutzungs­krieg aber zweifellos inzwischen auch mit einem industriellen Wettlauf zu tun.“

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

In Estland, das schon länger einen härteren Kurs gegen Russland fordert und zu den treusten Verbündeten der Ukraine zählt, glaubt man nicht an Waffen- und Munitionsmangel. Der estnische Militär­geheim­dienst geht davon aus, dass Russland weiterhin zu schweren Angriffen fähig ist. „Russlands militärische Fähigkeiten sind trotz der schrecklichen Verluste nirgendwo verschwunden“, sagte Geheim­dienst­chef Oberst Margo Grosberg. Die russischen Truppen haben seiner Einschätzung nach etwa 1400 Panzer verloren, was zahlen­mäßig eine „enorme Menge“ sei, angesichts der russischen Bestände älterer Panzer aber nicht so viel ausmache.

Bei der Munition zeichnet Grosberg ein ähnliches Bild: „Wir schätzen, dass Russland vor dem Krieg etwa 17 Millionen Einheiten Munition hatte, von denen zehn Millionen verwendet wurden.“ Die russische Rüstungs­industrie habe inzwischen auch ihre Kapazitäten erhöht und in den Fabriken arbeite man in mehreren Schichten. Insgesamt sei genug Munition da, um mindestens ein Jahr zu kämpfen. Die Zahl der gefallenen und kampfunfähigen russischen Soldaten, die Selenskyj in dem Witz auf 70.000 bezifferte, liegen Schätzungen des estnischen Militär­geheim­dienst-Chefs inzwischen bei etwa 100.000. Wenn man aber bedenkt, so Grosberg, dass durch Russlands Mobilisierung weitere 300.000 Soldaten zusammenkamen, bedeute dies immer noch zusätzliche Kräfte, auch wenn deren Ausbildung nicht so gut ist.

Propaganda im Verborgenen: RND-Recherchen zeigen, wie in Deutschland Sanktionen gegen russische Staatsmedien umgangen werden.

Wie russische Staatsmedien in Deutschland EU-Sanktionen unterlaufen

Sanktionen sollten der Propaganda russischer Staatsmedien in der EU das Handwerk legen. Doch RND-Recherchen zeigen, mit welchem Aufwand diese Sanktionen umgangen werden. Die Propaganda findet nun häufig verdeckt statt – aber dafür umso aggressiver.

Eine Weile kursierte der Witz, erzählt Militärexperte Sauer, dass die russischen Streitkräfte gegen die Altbestände aus Nato-Depots verlören. Denn auch wenn weder die Nato noch ein Nato-Mitgliedsstaat Kriegspartei sind, wie es im Witz von Selenskyj heißt, hilft sie die Ukraine bei ihrer Verteidigung mit Waffen und Munition. Doch erstens liefert der Westen inzwischen längst auch moderne westliche Waffensysteme, sagt der Experte. „Zweitens gehen den Nato-Staaten inzwischen die Vorräte aus, weil die Ukraine einfach sehr viel Munition verbraucht.“ Allein bei der Artilleriemunition seien es mindestens 90.000 Schuss pro Monat.

Nachdem Russland zu Beginn des Kriegs massiv überschätzt und die Ukraine massiv unterschätzt wurde, warnt Sauer nun vor dem umgekehrten Fall. „Wir dürfen jetzt natürlich nicht den Fehler machen, wiederum Russland dauerhaft zu unterschätzen.“ Auch er hält es für möglich, dass die russischen Streitkräfte dank der Mobilisierung und der großen russischen Rüstungs­industrie in der Lage sind, den Krieg weiter in die Länge zu ziehen. „Das ist ganz offensichtlich auch der aktuelle Plan im Kreml.“

Mehr aus Politik

 
 
 
 
 
Anzeige
Anzeige
Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von Outbrain UK Ltd, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

 

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unseren Datenschutzhinweisen.

Letzte Meldungen

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Spiele entdecken