Wie Russlands Soldaten über Putin und den Krieg denken
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Ein junger Rekrut, der zum Militärdienst einberufen worden ist, umarmt seine Mutter am Bahnhof von Belowo bei der Abreise in die Stadt Kemerowo, Westsibirien (Archivbild). Ein junger Mann verabschiedet sich von seiner Mutter, bevor er zum Militärdienst muss. (zu dpa: «Russland will mehr Soldaten in den Krieg schicken») Foto: Maxim Shipenkov/epa/dpa - Honorarfrei nur für Bezieher des Dienstes dpa-Nachrichten für Kinder +++ dpa-Nachrichten für Kinder +++
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Nach der Ankündigung der Teilmobilmachung der russischen Streitkräfte durch Kremlchef Wladimir Putin sollen 300.000 zusätzliche Männer für den Krieg in der Ukraine eingezogen werden. Der Krieg rückt damit weiter in die Mitte der russischen Gesellschaft, die zuvor noch recht unbehelligt von den Kampfhandlungen in der Ukraine leben konnte.
Wie es tatsächlich um die russischen Invasionstruppen im Nachbarland steht und was den Reservisten in der Ukraine blüht, werden viele der Männer noch gar nicht ahnen. Denn der Kreml erklärt immer wieder, dass in der Ukraine alles nach Plan laufe.
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Der ukrainische Präsident Selenskyj kritisierte die Referenden als „Farce“. Die Ukraine werde ihre Bevölkerung in den russisch besetzten Regionen verteidigen.
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Dabei sind die russischen Soldaten in Wahrheit längst an vielen Teilen der Front in der Defensive, ihre Ausrüstung ist mangelhaft und auch die Versorgung der Truppen lässt zu wünschen übrig. Das zeigen von ukrainischen Sicherheitsbehörden abgehörte Telefonate von Russen in der Ukraine, die ihren Freunden und Familien in der Heimat vom Schlachtfeld berichten. Die „New York Times“ hat eine Auswahl der Gespräche veröffentlicht.
„Sie haben uns in die Irre geführt wie Kinder“
Soldat Nikita
„Niemand hat uns erzählt, dass wir in den Krieg ziehen. Sie warnten uns einen Tag, bevor wir loszogen“, erzählt der Soldat Sergej seiner Mutter. „Ich denke, das war die schlechteste Entscheidung, die unsere Regierung jemals getroffen hat“, sagt er weiter. „Wir sollten für zwei oder drei Tage an einer Übung teilnehmen. Sie haben uns in die Irre geführt wie Kinder“, berichtet ein anderer Militär namens Nikita einem Freund.
Soldaten entrüsten sich über ihre Kommandeure
Die abgehörten Gespräche zeigen auch, dass die Soldaten angesichts der schleppenden russischen Offensive der ersten Kriegstage rund um Kiew demoralisiert waren. „Wir können Kiew nicht einnehmen. Wir erobern nur Dörfer und das war’s“, erklärt der Soldat Aleksandr in einem Telefonat. „Sie wollten es verdammt noch mal auf einen Schlag machen hier, und es hat verdammt noch mal nicht so funktioniert“, berichtet Sergej. „Putin ist ein Narr. Er will Kiew einnehmen? Es gibt für uns keinen Weg, das zu tun“, entrüstet sich auch der Soldat Aleksandr.
Zudem äußern sich die Militärs zunehmend entrüstet über das Handeln und die Kommunikation der politischen Führung in Moskau. „Was sagen sie? Wann beendet Putin all das?“, fragt der Soldat Ilja seine Freundin. Die erzählt ihm, dass mitgeteilt werde, alles laufe nach Plan und der Zeitplan werde eingehalten. „Er liegt völlig falsch“, entgegnet Ilja. „Sie wollen die Leute im Fernsehen verarschen. Sie sagen, das hier sei kein Krieg, sondern eine Spezialoperation. Aber in Wahrheit ist es ein verfickter Krieg“, berichtet auch der Soldat Sergej im Gespräch mit seiner Partnerin.
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Berichte über Gräueltaten der russischen Truppen
Der Rückzug aus der Region Kiew wirkt in den Gesprächen wie eine Hals-über-Kopf-Aktion. „Die khokhols (abwertender russischer Begriff für Ukrainer, Anm. d. Red.) rücken vor und wir stehen nur hier. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so enden würde“, berichtet Nikita. Er erzählt auch, dass seine Einheit von den eigenen Kameraden beschossen worden sei. „Sie hielten uns für Ukrainer. Ich dachte, ich würde sterben.“ Sergej gibt zu: „Unsere Lage ist scheiße. Wir haben uns in die Defensive zurückgezogen. Unsere Offensive stockt.“
„Wir haben den Befehl, jeden zu töten, den wir sehen.“
Soldat Sergej
Als die ukrainischen Truppen in die Region vorrückten, fanden sie von russischen Gräueltaten gezeichnete Dörfer vor. Getötete Zivilisten, geplünderte Häuser und Läden – auch davon erzählen die Russen in ihren Telefongesprächen. Besonders der Soldat Sergej zeigt sich redselig: „Wir haben den Befehl, jeden zu töten, den wir sehen.“ Zudem berichtet er von der Tötung von Zivilisten, die seine Einheit gefangen genommen hatte. „Dann mussten wir eine Entscheidung treffen, ob wir sie laufen lassen. Wenn wir sie hätten gehen lassen, hätten sie unsere Position verraten können. Also entschieden wir, sie im Wald zu erschießen.“ Warum sie die Menschen nicht als Gefangene behalten hätten, fragt seine Freundin nach. „Dann hätten wir sie versorgen müssen. Und wir haben nicht mal genug Essen für uns selbst“, antwortet Sergej.
Er erzählt zudem von einem Hauptquartier, das die russischen Einheiten in einem Wald bezogen hätten. Als er einmal dort hingelaufen sei, habe er einen „See aus Leichen in ziviler Kleidung“ gesehen. „Ich habe noch nie so viele Leichen in meinem verdammten Leben gesehen. Man kann nicht sehen, wo sie enden.“ Er selbst sei schon zu einem „Mörder“ geworden, beichtet Sergej seiner Freundin. „Deshalb will ich keine Menschen mehr töten – vor allem nicht die, denen ich in die Augen schauen kann.“
Unzählige Gefallene
Die Angehörigen der Soldaten fragten auch nach den Verlusten der russischen Einheiten. „Von meinem Regiment allein sind ein Drittel gefallen“, berichtet ein Soldat namens Yegor. Nikita spricht von 60 Prozent seiner Einheit, die getötet wurden. Und Sergej erzählt seiner Mutter, dass von 400 Fallschirmjägern lediglich 38 überlebt hätten. „Weil unsere Kommandeure Soldaten zum Schlachter geschickt haben.“
„Wir sind hierher gekommen und die Leute leben ein normales Leben. Sehr gut, wie in Russland.“
Soldat Sergej
Man habe „nicht einen einzigen Faschisten“ in der Ukraine gesehen, berichtet Sergej weiter und widerlegt damit die Kremlpropaganda. „Dieser Krieg ist aufgrund falscher Annahmen begonnen worden. Wir sind hierher gekommen und die Leute leben ein normales Leben. Sehr gut, wie in Russland.“ Und jetzt müssten die Menschen in ihren Kellern leben. Selbst als seine Mutter ihm sagt, er solle nicht so „einseitig“ reden, widerspricht Sergej. „Wir alle glauben dasselbe: Dieser Krieg war nicht notwendig.“
RND/sic